TE OGH 2022/2/2 6Ob231/21w

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Veröffentlicht am 02.02.2022
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. H* R*, 2. L* R*, beide *, vertreten durch Dr. Johannes Samaan, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. W* GmbH, 2. T* T*, beide *, vertreten durch Dr. Martin Brenner, Rechtsanwalt in Baden, wegen 300.000 EUR sA, über den Revisionsrekurs der beklagten Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 22. Oktober 2021, GZ 1 R 118/21m-14, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 14. Juni 2021, GZ 18 Cg 11/21a-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien haben die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Begründung:

[1]             Die Kläger begehrten die Zahlung von 300.000 EUR sA Die Streitteile schlossen in der Tagsatzung vom 6. 5. 2021 einen bedingten gerichtlichen Vergleich. Dieser sollte rechtswirksam werden, wenn er nicht von einer der Parteien bis längstens 10. 6. 2021 (Einlangen bei Gericht) widerrufen würde.

[2]       Am letzten Tag der Widerrufsfrist langte ein Schriftsatz beider Parteien ein, der (auszugsweise) lautete:

„Die Parteien kommen daher überein und wird daher beantragt, die Frist für einen Widerruf des […] Vergleichs einvernehmlich auf den 30.06.2021 (Einlangen bei Gericht) zu verlängern. Es wird um geschätzte Kenntnisnahme ersucht.“

[3]       Das Erstgericht wies den Antrag zurück. Die angezeigte außergerichtliche Einigung der Parteien über die Verlängerung der Widerrufsfrist habe keine prozessualen Wirkungen und sei daher nicht geeignet, die anlässlich des gerichtlichen Vergleichs festgelegte Widerrufsfrist mit Auswirkung auf den Eintritt seiner prozessbeendigenden Wirkung zu modifizieren.

[4]       Das von den Beklagten am 30. 6. 2021 angerufene Rekursgericht (im Rekurs widerriefen die Beklagten im Übrigen den Vergleich vom 6. 5. 2021) bestätigte diese Entscheidung. Ein gerichtlicher Vergleich sei als Doppeltatbestand zu qualifizieren, der prozessual wirksam, materiell aber unwirksam sein könne, und umgekehrt. Das Rekursgericht teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts zur prozessualen Unwirksamkeit der Anzeige einer außergerichtlichen Einigung über eine Fristverlängerung. Eine prozessual wirksame Verlängerung der Widerrufsfrist durch Gerichtsbeschluss sei nicht zulässig, weil es die Prozessgesetze nicht ermöglichten, eine zwischen den Parteien mit materiell-rechtlicher Wirkung vereinbarte Ausschlussfrist zu ändern.

[5]       Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zu, weil der Oberste Gerichtshof bisher offengelassen habe, ob eine Erstreckung der Widerrufsfrist durch Beschluss aufgrund eines gemeinsamen Antrags der Parteien möglich sei.

Rechtliche Beurteilung

[6]          Der Revisionsrekurs der Beklagten ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig.

[7]            1.1 Selbst wenn das Rekursgericht – zu Recht – ausgesprochen haben sollte, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, das Rechtsmittel aber dann nur solche Gründe geltend macht, deren Erledigung nicht von der Lösung erheblicher Rechtsfragen abhängt, ist der Revisionsrekurs trotz der Zulässigerklärung durch das Gericht zweiter Instanz zurückzuweisen (RS0102059). Der Rechtsmittelwerber muss wenigstens in Ansätzen versuchen, eine erhebliche Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts aufzuwerfen, bei deren Beurteilung er von der Rechtsansicht der zweiten Instanz abweicht (RS0102059 [T13]). Der Oberste Gerichtshof ist nicht dazu berufen, theoretisch zu einer Rechtsfrage Stellung zu nehmen, deren Lösung durch die zweite Instanz vom Rechtsmittelwerber gar nicht bestritten wird (RS0102059 [T8, T18]).

[8]             1.2 Die Beklagten bezweifeln in ihrem Revisionsrekurs die Richtigkeit der Lösung der vom Rekursgericht als erheblich angesehenen Rechtsfrage nicht. Sie vertreten vielmehr selbst die Auffassung, eine Verlängerung der Widerrufsfrist durch einen Gerichtsbeschluss wäre unzulässig gewesen. Der Revisionsrekurs wäre daher nur dann nicht zurückzuweisen, wenn er eine andere erhebliche Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO aufzeigen würde. Das ist jedoch nicht der Fall.

[9]       1.3 Die einzelfallbezogene Auslegung von Prozesserklärungen bildet keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO (RS0042828 [T16]). Auch wie ein bestimmtes Begehren bzw das dazu erstattete Prozessvorbringen zu verstehen ist, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig und stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO dar, sofern das Rechtsmittelgericht zu einem vertretbaren Auslegungsergebnis gelangt ist (RS0042828 [T25, T27]).

[10]     1.4 Wenn das Rekursgericht angesichts des Wortlauts der Prozesserklärungen erkennbar davon ausging, die Parteien hätten die beschlussmäßige Verlängerung der Frist für den Widerruf der Vergleichs beantragt, hat es den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten. Im Übrigen haben die Beklagten einen diesbezüglichen Einwand in zweiter Instanz nicht erhoben (vgl RS0043338 [T11, T13]).

[11]           2. Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung 4 Ob 219/17k, die in der Literatur nicht auf Kritik gestoßen ist, klargestellt, dass im Regelfall der gerichtliche Vergleich zugleich den Charakter eines zivilrechtlichen Vertrags und einer Prozesshandlung hat. Das hat aber nicht zur Folge, dass ein Prozessvergleich als Gesamtgeschäft (im Sinne der Lehre von der Doppelnatur) zu deuten ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist ein gerichtlicher Vergleich als Doppeltatbestand zu qualifizieren. Ein Prozessvergleich kann demnach prozessual unwirksam, als materielles Rechtsgeschäft aber wirksam sein, und umgekehrt. Ob ein Vergleich einen Prozess beendet, ist ausschließlich nach Prozessrecht zu beurteilen; ob ein verpflichtender Vertrag wirksam zustandegekommen ist, ausschließlich nach materiellem Recht. Eine außergerichtliche Einigung der Parteien über die Verlängerung der Widerrufsfrist ist nicht geeignet, die anlässlich des gerichtlichen Vergleichs festgelegte Widerrufsfrist mit Auswirkung auf den Eintritt der prozessbeendenden Wirkung des Vergleichs zu modifizieren. Der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, von dieser Rechtsauffassung abzugehen.

[12]           3. Mit ihrer Argumentation, im konkreten Einzelfall – beide Parteien hätten während der Widerrufsfrist noch weitere Vergleichsgespräche zur „Verfeinerung des Vergleichs“ führen und damit den gerichtlichen Vergleich zum Zeitpunkt des Ablaufs der vereinbarten Widerrufsfrist noch gar nicht abschließen wollen – entspreche es zur Vermeidung von Folgeprozessen dem Grundsatz der Prozessökonomie, der Lehre von der Doppelnatur eines gerichtlichen Vergleichs und nicht jener vom Doppeltatbestand den Vorzug zu geben, zeigen die Beklagten ebenfalls keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO auf.

[13]     4. Da somit Rechtsfragen im Sinn des § 528 Abs 1 ZPO nicht zu beurteilen sind, ist der Revisionsrekurs zurückzuweisen.

[14]     5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO. Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde nicht erstattet.

Textnummer

E134286

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2022:0060OB00231.21W.0202.000

Im RIS seit

05.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

05.04.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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