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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. Sutter und Mag. Tolar sowie die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des B A, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. August 2021, L506 2239749-1/7E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt.
Spruch
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein unbegleiteter Minderjähriger mit pakistanischer Staatsangehörigkeit, stellte am 21. Juli 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zur Begründung gab er im Wesentlichen an, seine Stiefmutter habe ihn schlecht behandelt und zu Unrecht der sexuellen Belästigung beschuldigt, weshalb ihn sein Vater mit dem Umbringen bedroht habe. Daraufhin habe er die Flucht ergriffen. Zu seiner Familie habe er keinen Kontakt mehr. Er wisse nicht, wohin er bei Rückkehr in den Heimatstaat gehen solle. Zu seinem Vater wolle er keinen Kontakt mehr aufnehmen.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 5. Jänner 2021 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend schenkte es dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers aus näher dargestellten Gründen keinen Glauben. Es könne daher nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber „pro futuro“ Probleme mit seiner Familie haben oder im Falle der Rückkehr nach Pakistan in eine existenzbedrohende Notsituation geraten würde. Beim Revisionswerber handle es sich um einen gesunden, jungen Mann. Er sei arbeitsfähig. Da in Pakistan das Mindestalter für Erwerbsarbeit 15 Jahre sei, sei es dem Revisionswerber - der über eine neunjährige Schulbildung verfüge - möglich und zumutbar, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Er verfüge außerdem über Familienangehörige (Vater, Stiefmutter, Geschwister, Onkel) im Herkunftsort. Auch wenn der Revisionswerber einen Kontakt mit seinen Familienangehörigen negiere, sei ihm eine Rückkehr in die Kernfamilie möglich und zumutbar: Er habe bis zu seiner Ausreise im März 2020 bei seiner Kernfamilie gewohnt. Aus der Aktenlage sei kein Grund ersichtlich, weshalb sich die Familie des Revisionswerbers nicht mehr am bisherigen Wohnort aufhalten sollte. Das Gericht gehe daher davon aus, dass die Kernfamilie des Revisionswerbers nach wie vor im Elternhaus des Revisionswerbers lebe und es dem Revisionswerber daher möglich sei, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Dass er einen Kontakt zur Familie in Abrede stelle, ändere nichts an der Tatsache, dass er im Herkunftsstaat über ein familiäres Netzwerk verfüge und für ihn die Möglichkeit und Zumutbarkeit bestehe, in seinen Familienverband zurückzukehren. Das BVwG verkenne nicht, dass bei der Beurteilung der Rückkehrsituation von Kindern mit Bedacht auf ihre besondere Vulnerabilität eine besonders sorgfältige Prüfung zu erfolgen habe. Dennoch sei im Fall des Revisionswerbers auszuführen, dass dieser mit 17 Jahren kaum noch vulnerabler als ein 18-Jähriger sei. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass er im Gegensatz zur restlichen Bevölkerung Pakistans gegenwärtig einer spürbar stärkeren, besonderen Gefährdung ausgesetzt wäre. Es sei daher nicht davon auszugehen, dass er im Herkunftsland eine nur unzureichend gesicherte Versorgungssituation, welche eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, vorfinde.
4 Im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung führte das BVwG u.a. aus, es habe angesichts des 17-jährigen Revisionswerbers die Auswirkungen der Entscheidung auf das Kindeswohl zu bedenken. Der EuGH habe im Urteil vom 14. Jänner 2021, Rs. C-441/19, TQ, ausgesprochen, dass vor der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen (unbegleiteten) Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung von dessen Situation unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls zu erfolgen habe, was eine Vergewisserung darüber umfasse, dass für den Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung stehe (Hinweis auch auf VfGH 24.2.2021, E 3948/2020).
5 Gegenständlich sei die Integration des Revisionswerbers - wie näher begründet wird - als sehr gering zu bezeichnen. In Pakistan verfüge er über ein familiäres Netzwerk und könne zu seiner Kernfamilie zurückkehren. Es sei davon auszugehen, dass er sich an die Verhältnisse im Heimatland problemlos wieder anpassen könne. Im Ergebnis könne auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls nicht von einem Überwiegen der privaten Interessen des Revisionswerbers am Verbleib in Österreich gesprochen werden und es sei eine Verletzung des Kindeswohls nicht gegeben.
6 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Sie macht zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend, der EuGH habe in dem vom BVwG zitierten Erkenntnis ausgesprochen, dass minderjährige Flüchtlinge nur dann in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden dürften, wenn dort für sie eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden sei, wovon sich der Mitgliedstaat schon vor Erlassung der Rückkehrentscheidung vergewissern müsse. Dies sei vom BVwG fallbezogen unzureichend ermittelt worden. Aus den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses gehe hervor, dass Kindesmissbrauch in Pakistan weit verbreitet sei. Pflegeelternmodelle seien nicht vorhanden, Waisen- und Schutzhäuser entsprächen nicht den erforderlichen Qualitätsstandards. Der Revisionswerber habe sein Heimatland aufgrund von häuslicher Gewalt und der Bedrohung seines Lebens durch den Vater verlassen. Eine Rückkehr zu seiner Kernfamilie sei somit nicht möglich. Auch ein Verbleib bei seinem Onkel mütterlicherseits sei undenkbar, da dieser selbst für drei eigene Kinder sorgen müsse und keine finanziellen Mittel besitze, um den Revisionswerber zu unterstützen. Der Revisionswerber habe keinen Kontakt zu seiner Familie und kein soziales Netzwerk in Pakistan.
7 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Die Revision spricht in der Zulassungsbegründung zutreffend das Urteil des EuGH 14.1.2021, Rs. C-441/19, TQ, an, demzufolge der betreffende Mitgliedstaat vor Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen müsse. In diesem Rahmen müsse sich der Mitgliedstaat vergewissern, dass für den Minderjährigen eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat zur Verfügung stehe. Zur Umsetzung dieses Rechtssatzes liegt noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor.
10 Die Revision ist daher schon deshalb zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
11 Der unbegleitete minderjährige Revisionswerber ist als schutzbedürftige Person mit besonderen Bedürfnissen anzusehen (vgl. die Umschreibung vulnerabler Personen in Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU - Aufnahmerichtlinie). Für die rechtliche Schlussfolgerung, wonach eine Rückführung des vulnerablen Revisionswerbers in den Herkunftsstaat aus menschenrechtlicher Sicht unbedenklich ist, bedarf es einer genauen, auf aktuellen Berichten beruhenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob er bei Rückkehr in sein Heimatland in einer Art und Weise untergebracht und versorgt würde, dass ihm keine Verletzung seiner durch Art. 3 EMRK (Art. 4 GRC) garantierten Rechte droht (vgl. dazu - wenn auch zur Dublin III-Verordnung ergangen, im angesprochenen Sinn aber auf den gegenständlichen Fall übertragbar - VwGH 26.6.2019, Ra 2018/20/0495).
12 Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtsgerichtshofes, dass Minderjährige im Allgemeinen eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe sind, weshalb - im Zusammenhang mit der Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz - eine konkrete Auseinandersetzung damit zu erfolgen hat, welche Rückkehrsituation sie im Herkunftsstaat tatsächlich vorfinden werden (vgl. etwa VwGH 7.1.2021, Ra 2019/18/0451 u.a.).
13 Auch der Verfassungsgerichtshof hat wiederholt die besonders sorgfältige Prüfung der Rückkehrsituation für Minderjährige als besonders vulnerable Antragstellende hervorgehoben und darauf verwiesen, dass dieses Verständnis im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 GRC bzw. Art. I zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl. I Nr. 4/2011, stehe, wonach bei allen Maßnahmen öffentlicher Stellen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein müsse (vgl. VfGH 10.3.2021, E 345/2021 u.a., mit Hinweis insbesondere auf EuGH 6.6.2013, Rs. C-648/11, MA u.a.).
14 Der EuGH hat in dem bereits zitierten Urteil in der Rs. C-411/19, TQ, insbesondere erkannt, dass sich die Behörden eines Mitgliedstaates vor Erlassung einer Rückkehrentscheidung vergewissern müssen, dass ein (unbegleiteter) Minderjähriger einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben werden könne (Rn. 48). Aus Art. 5 lit. a der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und Art. 24 Abs. 2 GRC ergebe sich die Verpflichtung, dass der betreffende Mitgliedstaat vor Erlass einer Rückkehrentscheidung eine Untersuchung durchführen müsse, um konkret zu prüfen, ob für den fraglichen unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung stehe. Stehe keine solche Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung, könne gegen den Minderjährigen keine Rückkehrentscheidung ergehen (Rn. 55f).
15 Im Lichte all dessen dürfen sich die Asylbehörde bzw. (im Beschwerdeverfahren) das BVwG bei der Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz, der von einem unbegleiteten Minderjährigen gestellt worden ist, insbesondere bei Prüfung der Voraussetzungen für den subsidiären Schutz, aber auch vor Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nicht auf eine allgemeine und spekulative Beurteilung der konkreten Rückkehrsituation beschränken. Es muss vielmehr nachvollziehbar dargelegt werden, dass der unbegleitete Minderjährige im Rückkehrstaat tatsächlich eine Situation vorfinden wird, die zu keiner Verletzung seiner (insbesondere) durch Art. 3 EMRK (Art. 4 GRC) gewährleisteten Rechte führen wird, und es muss eine Vergewisserung stattfinden, dass ihm dort eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht.
16 Diese rechtlichen Vorgaben stellen die Asylbehörde bzw. das BVwG zweifellos vor eine besondere Herausforderung, wenn der betreffende Asylwerber an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts nicht mitwirkt oder - wie das BVwG im vorliegenden Fall angenommen hat - unrichtige Angaben zu seinen Fluchtgründen und dem Vorhandensein familiärer Unterstützung im Herkunftsstaat macht.
17 Ungeachtet dessen entbindet auch Derartiges die Asylbehörde bzw. das BVwG nicht von der Verpflichtung, im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die notwendigen Feststellungen zur (menschenrechtskonformen) Rückkehrsituation zu treffen und sich dahin zu versichern, dass der unbegleitete Minderjährige eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat vorfinden wird.
18 Soweit nach den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens Feststellungen über das Vorhandensein eines familiären Netzwerks im Rückkehrland, das den Minderjährigen aufnehmen und unterstützen kann, nicht getroffen werden können, haben sich die Asylbehörde bzw. das BVwG mit anderen geeigneten Aufnahmeeinrichtungen im Rückkehrstaat auseinanderzusetzen. Nur wenn solche vorhanden sind, ließe sich insbesondere eine Rückkehrentscheidung gegen den (unbegleiteten) Minderjährigen rechtfertigen.
19 Im gegenständlichen Fall hat das BVwG dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers betreffend häusliche Gewalt und eine Bedrohung durch seinen Vater keinen Glauben geschenkt. Dies wird von der Revision zur Gänze ausgeblendet, wenn sie eine Rückkehr des Revisionswerbers in den Familienverband wegen der drohenden Gewalttaten durch den Vater - ohne substantiierte Bekämpfung der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts - verneint.
20 Das BVwG hat überdies beweiswürdigend angenommen, dass sich die Familie des Revisionswerbers nach wie vor in seinem Heimatort befindet und der Revisionswerber dort (ungefährdet) Wiederaufnahme fände (zur vorrangigen Bedeutung dieses familiären Netzwerks insbesondere auch für die Rückkehrentscheidung bei unbegleiteten Minderjährigen vgl. etwa die Schlussanträge des Generalanwalts vom 2.7.2020 in der Rs. C-441/19, TQ, Rn. 66). Auch dem tritt die Revision nicht substantiiert entgegen, weshalb sie auch nicht aufzeigt, dass dem BVwG insoweit ein relevanter Ermittlungsfehler unterlaufen wäre.
21 Der rechtlichen Beurteilung des vorliegenden Falles ist somit in sachverhaltsmäßiger Hinsicht zugrunde zu legen, dass eine Rückkehr des minderjährigen Revisionswerbers in den Familienverband stattfinden kann und er dort, wie vom BVwG angenommen, Aufnahme und Unterstützung vorfinden würde. Damit ist weder zu erkennen, dass dem Revisionswerber bei Rückkehr in den Herkunftsstaat eine Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte drohen würde, noch eine Rückkehrentscheidung im Lichte der zuvor dargestellten rechtlichen Grundsätze nicht hätte erlassen werden dürfen.
22 Die Revision war daher im Ergebnis gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am 10. März 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 62019CJ0441 Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid VORABSchlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Sachverhalt SachverhaltsfeststellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180349.L02Im RIS seit
04.04.2022Zuletzt aktualisiert am
03.05.2022