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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
ABGB §138Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Z D, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. September 2021, W184 2244062-1/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, war vom 11. November 2016 bis zu der im Einvernehmen erfolgten Scheidung der Ehe am 18. Mai 2020 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet. Der Ehe entstammt ein am 27. Dezember 2016 geborener (österreichischer) Sohn. Nach dem Inhalt des gerichtlichen Scheidungsvergleiches vom 18. Mai 2020 kommt die Obsorge für dieses Kind den Kindeseltern gemeinsam zu, dem Revisionswerber wurde ein ausgedehntes wöchentliches Kontaktrecht eingeräumt, darüber hinausgehende Kontakte sollten der außergerichtlichen Einigung vorbehalten bleiben.
2 Dem seit September 2017 durchgehend in Österreich lebenden Revisionswerber, der während dieses Aufenthalts Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 nachgewiesen, eine Prüfung nach dem von ihm besuchten Deutschkurs auf dem Niveau A2 aber nicht bestanden hatte, war im Hinblick auf die erwähnte Ehe ab dem 5. September 2017 ein einmal bis zum 5. September 2019 verlängerter Aufenthaltstitel als Familienangehöriger erteilt worden. Am 2. August 2019 stellte er rechtzeitig einen Verlängerungsantrag.
3 Im Zuge des Ermittlungsverfahrens teilte die geschiedene Ehefrau des Revisionswerbers in einer Email vom 24. März 2021 dem BFA mit, dass sich der Revisionswerber nicht um seinen Sohn kümmere, auch keinen Unterhalt zahle und mittlerweile ein Unterhaltsrückstand von etwa € 1.250,-- bestehe; er sei in keinem Arbeitsverhältnis und beziehe derzeit Notstandshilfe.
4 Mit Bescheid vom 31. Mai 2021 erließ das von der Niederlassungsbehörde befasste Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung. Das BFA stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach (gemeint: Bosnien und Herzegowina) zulässig sei und bestimmte gemäß § 55 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für seine freiwillige Ausreise. Bei der im Rahmen der Begründung der Rückkehrentscheidung vorgenommenen Interessenabwägung legte das BFA unter anderem die erwähnte Email vom 24. März 2021 zugrunde und ging demzufolge davon aus, der Revisionswerber nehme weder sein Besuchsrecht zu seinem Sohn wahr noch komme er seinen Unterhaltsverpflichtungen nach. Deshalb müsse - so folgerte das BFA daraus - „das Familienleben in Österreich“ als stark gemindert angesehen werden.
5 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Insbesondere bekämpfte er die Interessenabwägung und bemängelte, dass das BFA nicht ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen habe. Er verwies in diesem Zusammenhang auf das enge und intensive Verhältnis zu seinem österreichischen Sohn, für den er nach Begleichung des Rückstandes nunmehr laufend Unterhalt zahle und zu dem er das Besuchsrecht wieder regelmäßig in Anspruch nehme. Diese Beziehung könne vom Heimatstaat aus, etwa über soziale Medien, nicht aufrechterhalten werden. Weiters rekurrierte der Revisionswerber auf die guten Kontakte mit seiner in Österreich aufhältigen Schwester und auf seine aktuell (wieder) ausgeübte Vollzeitbeschäftigung während legalen Aufenthalts.
6 Mit dem angefochtenen - ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung ergangenen - Erkenntnis vom 6. September 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde mit einer (im Revisionsverfahren nicht mehr wesentlichen) Maßgabe als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
7 Dabei berief sich das BVwG darauf, dass der unbescholtene und gesunde Revisionswerber arbeitsfähig sei, sodass er sich im Herkunftsstaat eine ausreichende Existenzgrundlage schaffen könne. In Österreich sei er zwar wiederholt Berufstätigkeiten nachgegangen, habe jedoch - wie näher festgestellt wurde - auch Arbeitslosengeld und zuletzt Notstandshilfe bezogen. Neben seinem Sohn verfüge er in Österreich über eine Schwester, mit der er telefonisch Kontakt halte. Allerdings entspreche er schon mangels ausreichender Deutschkenntnisse nicht den allgemeinen Voraussetzungen für die Verlängerung eines Aufenthaltstitels, es fehle nämlich die rechtzeitige Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG durch eine erfolgreiche Absolvierung der Deutschprüfung auf dem Niveau A2, sodass die vom BFA bejahten Tatbestandsvoraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 4 Z 4 FPG iVm § 11 Abs. 2 Z 6 NAG dem Grunde nach verwirklicht seien.
8 Im Rahmen der Interessenabwägung ging das BVwG davon aus, dass das Familienleben mit dem österreichischen Sohn zu relativieren sei, weil die geschiedene Ehefrau des Revisionswerbers dem BFA am 24. März 2021 mitgeteilt habe, dieser sei mit Unterhaltszahlungen in Rückstand gewesen und kümmere sich nicht um seinen Sohn. Zudem falle ins Gewicht, dass der Revisionswerber weitere Unterhaltsverpflichtungen für seine minderjährige Tochter im Herkunftsstaat habe. Kontakte zum Sohn könnten jedenfalls durch wechselseitige Besuche aufrechterhalten werden. Insgesamt seien schon mangels ausreichender Deutschkenntnisse keine „außergewöhnlichen Integrationsschritte“ erkennbar, die eine positive Entscheidung nach sich ziehen müssten. Mit der Möglichkeit einer Reintegration im Herkunftsstaat, wo er aufgewachsen und berufstätig gewesen sei sowie über (näher dargestellte) familiäre Bindungen verfüge, sei zu rechnen.
9 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG abgesehen werden können. Der Sachverhalt sei nämlich bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt; in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren sei dem Revisionswerber (von BFA) ausreichend Parteiengehör eingeräumt worden. Schließlich zeige die Beschwerde nicht plausibel auf, inwieweit seine neuerliche Einvernahme zu einer weiteren Klärung der Sache führen könnte.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
11 Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG schon deshalb als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen ist.
12 Bei der für die Rückkehrentscheidung am Maßstab des § 9 BFA-VG vorgenommenen Interessenabwägung hat das BVwG - wie auch schon das BFA - dem Schreiben der geschiedenen Ehefrau des Revisionswerbers vom 24. März 2021 folgend seiner Entscheidung maßgeblich zugrunde gelegt, der Revisionswerber kümmere sich nicht um seinen Sohn. Dieser Annahme war aber schon in der Beschwerde mit dem Vorbringen entgegengetreten worden, der Revisionswerber übe das mit ihm im Scheidungsvergleich vereinbarte Kontaktrecht regelmäßig aus und er pflege ein enges und intensives Verhältnis zu seinem Sohn. Schon deshalb hätte das BVwG nicht von einem geklärten Sachverhalt iSd § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen und von der in der Beschwerde beantragten Verhandlung absehen dürfen. Das macht die Revision zutreffend geltend. Der Frage der Intensität der Beziehung zwischen dem Revisionswerber und seinem Sohn kommt unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls bei der Interessenabwägung maßgebliche Bedeutung zu. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht, wobei zu beachten ist, dass ein Kind grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen hat (vgl. etwa VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn. 20, mwN; siehe auch VfGH 28.11.2019, E 707/2019, Punkt II.3. der Entscheidungsgründe). In diesem Zusammenhang wird in der Revision auch noch zutreffend darauf verwiesen, dass die geschiedene Ehegattin des Revisionswerbers vor dem BFA am 13. Oktober 2020 angegeben hatte, für den gemeinsamen Sohn sei sein Vater sehr wichtig; er brauche ihn und sein „Weggang“ würde dem Kind „schaden“. Auch damit hätte sich das BVwG unter dem genannten Aspekt auseinandersetzen müssen.
13 Vor diesem Hintergrund liegt freilich kein eindeutiger Fall vor, weshalb es überdies der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber bedurft hätte und daher auch deshalb nicht von der in der Beschwerde beantragten Verhandlung hätte abgesehen werden dürfen (vgl. dazu etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, Rn. 19, mwN).
14 Ebenso erweisen sich - wie zur Vollständigkeit noch anzumerken ist - die wiedergegebenen Überlegungen des BVwG zu Unterhaltsverpflichtungen des Revisionswerbers für seine „minderjährige Tochter im Herkunftsstaat“ als unschlüssig. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, inwieweit die Existenz eines weiteren im Herkunftsstaat lebenden Kindes des Revisionswerbers dessen als „Familienleben“ zu qualifizierende Beziehung zu seinem österreichischen Sohn beeinträchtigen könnte, hat das BVwG nämlich übersehen, dass die im erwähnten Scheidungsvergleich vom 18. Mai 2020 genannte Tochter des Revisionswerbers damals bereits das 17. Lebensjahr vollendet hatte; nach dem Revisionsvorbringen ist sie überdies verheiratet und nicht mehr unterhaltsberechtigt.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. Februar 2022
Schlagworte
Besondere Rechtsgebiete Verfahrensbestimmungen BerufungsbehördeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210322.L00Im RIS seit
01.04.2022Zuletzt aktualisiert am
12.04.2022