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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AsylG 2005 §3 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Dr. Eisner und die Hofrätin Mag. Bayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des I B, dzt. in Haft in der Justizanstalt S, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Mai 2021, W147 2221122-1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Spruchpunkt A) I., soweit damit die Beschwerde gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung abgewiesen wurde, sowie in den Spruchpunkten A) II. (Erlassung eines auf die Dauer von sieben Jahren befristeten Einreiseverbotes) und A) III. (Festlegung der Frist für die freiwillige Ausreise) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der im März 2000 geborene Revisionswerber ist russischer Staatsangehöriger und stammt aus Tschetschenien. Er reiste am 18. Dezember 2004 in Begleitung seiner Mutter und Geschwister unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein. Am selben Tag wurde für ihn von seiner Mutter ein Asylantrag nach dem damals geltenden Asylgesetz 1997 (AsylG) gestellt. Es wurden keine eigenen Gründe für eine asylrechtlich relevante Verfolgung des Revisionswerbers geltend gemacht, sondern auf die Situation seines Vaters verwiesen.
2 Das (damals zuständige) Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom 22. November 2006 ab. Unter einem sprach diese Behörde aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung des Revisionswerbers in die Russische Föderation zulässig sei und gegen ihn eine Ausweisung in die Russische Föderation erlassen werde.
3 Der dagegen erhobenen Berufung wurde vom (damaligen) unabhängigen Bundesasylsenat mit Bescheid vom 31. Jänner 2008 stattgegeben und (unter Anwendung von Übergangsbestimmungen des mit 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen Asylgesetzes 2005 - AsylG 2005) ausgesprochen, dass dem Revisionswerber gemäß § 10 AsylG Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt werde, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Aussprüche über die Feststellung der Zulässigkeit (u.a.) der Abschiebung und die Erlassung einer Ausweisung wurden ersatzlos behoben. In seiner Begründung verwies der unabhängige Bundesasylsenat darauf, dass dem Vater des Revisionswerbers von dieser Behörde Asyl gewährt worden sei. Daher sei auch dem Revisionswerber als Familienangehörigen Asyl zu gewähren, weil es den Familienmitgliedern nicht zumutbar sei, das Familienleben in einem anderen Staat zu führen. Dieser Bescheid erwuchs am 6. Februar 2008 in Rechtskraft. Somit galt dem Revisionswerber aufgrund des § 75 Abs. 5 AsylG 2005 mit diesem Tag der Status des Asylberechtigten als zuerkannt.
4 Der Revisionswerber wurde später in Österreich straffällig und für von ihm begangene Straftaten mehrfach - nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts erstmals am 18. April 2016 vom Landesgericht für Strafsachen Wien - rechtskräftig verurteilt.
5 Am 22. März 2019 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl infolge der Verurteilungen ein Verfahren zur Aberkennung des dem Revisionswerber zuerkannten Status des Asylberechtigten ein.
6 Nach der am 14. Mai 2019 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgenommenen Vernehmung des Revisionswerbers erließ diese Behörde den Bescheid vom 18. Juni 2019, womit dem Revisionswerber der ihm früher zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt sowie gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt wurde, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Weiters wurde ausgesprochen, dass dem Revisionswerber gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen nach § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 und § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung sowie gemäß § 53 Abs. 1, Abs. 3 Z 1 und Z 4 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt werde, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nach § 55 Abs. 1 bis Abs. 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
7 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
8 Der Revisionswerber wurde während des Beschwerdeverfahrens erneut straffällig und rechtskräftig verurteilt.
9 Das Bundesverwaltungsgericht wies die vom Revisionswerber erhobene Beschwerde nach Durchführung einer Verhandlung mit dem Erkenntnis vom 3. Mai 2021 im Wesentlichen als unbegründet ab. Hinsichtlich der Aberkennung des Status des Asylberechtigten änderte es den Spruch der Behörde dahingehend ab, dass dieser Ausspruch auf § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 gestützt wurde. Die Dauer des Einreiseverbotes wurde mit sieben Jahren und die Frist für die freiwillige Ausreise nach § 55 Abs. 2 iVm § 58 Abs. 4 FPG mit 14 Tagen ab Ende der Strafhaft festgesetzt. Unter einem sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
10 Der Revisionswerber erhob gegen dieses Erkenntnis Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 22. September 2021, E 2396/2021-7, die Behandlung derselben ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
11 In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht, die sich nach dem geltend gemachten Revisionspunkt (ausdrücklich nur) gegen die Erlassung „eines Aufenthaltsverbots“, erkennbar damit gemeint: gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes sowie die davon rechtlich abhängenden Aussprüche, richtet.
12 Nach Vorlage der Revision und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht wurde vom Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
14 Der Revisionswerber wendet sich zur Begründung der Zulässigkeit der von ihm erhobenen Revision gegen die vom Bundesverwaltungsgericht bei Erlassung der Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA-VG vorgenommene Interessenabwägung. Er macht im Besonderen geltend, das Bundesverwaltungsgericht habe dem Umstand, dass er im Alter von vier Jahren das Heimatland verlassen und seitdem in Österreich gelebt habe, nicht die gebührende Beachtung geschenkt. Aufgrund seiner Aufenthaltsverfestigung hätte - so in den Revisionsgründen präzisierend - eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht erlassen werden dürfen. Das Bundesverwaltungsgericht wäre verpflichtet gewesen, eine Überprüfung der „angeblichen Gefährlichkeit“ des Revisionswerbers vorzunehmen, um die Grundlagen dafür zu schaffen, eine korrekte und dem Gesetz entsprechende Gefährlichkeitsprognose zu erstellen.
15 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
16 Eingangs ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass sich die - in der Revision nach dem darin enthaltenen Revisionspunkt nicht bekämpften, aber in der Revision auch angesprochenen - Entscheidungen über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbedenklich darstellen. Insbesondere hat sich das Bundesverwaltungsgericht, das die Aberkennung des Status des Asylberechtigten auf § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 Genfer Flüchtlingskonvention - GFK („Wegfall der Umstände“-Klausel) gestützt hat, in Anbetracht dessen, dass der Revisionswerber den Status des Asylberechtigten im Weg der Asylerstreckung nach dem Asylgesetz 1997 - nach seinem Vater - erhalten hat, hinreichend damit auseinandergesetzt, ob die Voraussetzungen der genannten Bestimmung der GFK in Bezug auf den Vater erfüllt seien und ob der Revisionswerber im Heimatland selbst asylrelevanter Verfolgung unterläge. Die Relevanz der behaupteten Verfahrensfehler, die offenkundig im thematischen Zusammenhang mit der Versagung der Gewährung von subsidiärem Schutz stehen, ist nicht zu sehen.
17 In der Sache bezieht sich (auch) das diesbezügliche Vorbringen aber ohnedies erkennbar auf die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie eines Einreiseverbotes.
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 15. Dezember 2021, Ra 2021/20/0372, des Näheren damit befasst, ob und unter welchen Voraussetzungen jenen langjährig als Asylberechtigte rechtmäßig aufhältigen Fremden, bei denen in Art. 1 Abschnitt C GFK angeführte Endigungsgründe eingetreten sind, dieser Status infolge § 7 Abs. 3 AsylG 2005 aberkannt werden darf. Weiters hat sich der Verwaltungsgerichtshof in diesem Erkenntnis damit auseinandergesetzt, auf welche Kriterien bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen solche Fremde im Rahmen der Interessenabwägung (auch) Bedacht zu nehmen ist. Es kann daher dazu gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen werden.
19 Der Revisionswerber wurde straffällig im Sinn des § 2 Abs. 3 Z 1 und Z 2 AsylG 2005. Somit war eine (unwiderlegbare) gesetzliche Vermutung einer „sozialen Verfestigung“ im Sinn des § 7 Abs. 3 AsylG 2005 im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht (mehr) gegeben. Zu Recht wurde daher nicht nach § 7 Abs. 3 zweiter Satz AsylG 2005 vorgegangen. Für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten kam es nicht darauf an, ob dem Revisionswerber zuvor von der Niederlassungsbehörde ein Aufenthaltstitel erteilt wurde (oder früher hätte erteilt werden können).
20 Das Bundesverwaltungsgericht hat zu Recht die Erlassung der Rückkehrentscheidung dem Grunde nach auf § 52 Abs. 2 Z 3 FPG gestützt. Dem Revisionswerber wurde der Status des Asylberechtigten aberkannt und der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Es kam ihm weder ein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen (als dem AsylG 2005) zu noch ist er als begünstigter Drittstaatsangehöriger anzusehen.
21 Allerdings sind dem Bundesverwaltungsgericht bei der im Rahmen der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung maßgebliche Fehler unterlaufen, die zum Teil auch auf einem Rechtsirrtum beruhen. Das Bundesverwaltungsgericht hat für die Entscheidung maßgebliche Voraussetzungen nicht geprüft und für die Vornahme dieser Prüfung wesentliche Feststellungen nicht getroffen.
22 Es ist - in Anbetracht der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen, aber in erster Linie zu Aufenthaltsbeendigungen bei unrechtmäßigem Aufenthalt oder unsicherem Aufenthaltsstatus maßgeblichen Rechtsprechung - festzuhalten, dass gemäß § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG bei der Interessenabwägung zwar einzubeziehen war, dass sich der Revisionswerber im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde bereits etwa 16 1/2 Jahre - zum überwiegenden Teil rechtmäßig aufgrund eines Aufenthaltsrechts, das der Sache nach einem Recht zur Niederlassung im Sinn des § 2 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz entspricht - im Bundesgebiet aufgehalten hat. Einem so langen rechtmäßigen Aufenthalt kommt bei der Interessenabwägung durchaus bedeutendes Gewicht zu. Es kommt aber in einem Fall wie dem vorliegenden nicht entscheidungswesentlich darauf an, ob der Fremde bloß irgendeine, nur in geringer Intensität vorhandene Integration im Bundesgebiet aufweist.
23 Bei Erlassung einer auf § 52 Abs. 2 Z 3 FPG gestützten Rückkehrentscheidung gegen einen Fremden, dem bis dahin von Gesetzes wegen ein Aufenthaltsrecht aufgrund des ihm zuvor zuerkannten Status als Asylberechtigten zugekommen ist, ist im Rahmen der nach § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmenden Beurteilung (auch) auf die Wertungen Bedacht zu nehmen, die sich aus jenen Vorschriften ergeben, nach denen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nach langjähriger rechtmäßiger Niederlassung in Österreich für nicht zulässig erklärt oder an besondere Voraussetzungen geknüpft wird. Dabei kann auf die dazu ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden.
24 Dabei ist zu beachten, dass § 7 Abs. 3 AsylG 2005 zufolge solche Gründe von vornherein nur dann maßgeblich sein können, wenn die Aberkennung des Status des Asylberechtigten durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - wenn auch nicht rechtskräftig - nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt. Es soll demnach nämlich frühestens nach Ablauf dieser Zeit ein Asylberechtigter, der nicht straffällig geworden ist, in den Genuss einer Aufenthaltsverfestigung kommen und erst dann wäre ihm ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ zu erteilen, ohne dass es auf das Ergebnis einer Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ankäme (vgl. zum Ganzen VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0372; dem folgend VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0328).
25 Der Revisionswerber spricht dies insofern an, als er sich auf das Vorliegen einer Aufenthaltsverfestigung beruft und in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass er im Alter von vier Jahren nach Österreich gekommen sei sowie das Bundesverwaltungsgericht keine dem Gesetz entsprechende Gefährdungsprognose vorgenommen und dafür auch keine ausreichenden Feststellungen getroffen habe.
26 Der Sache nach beruft sich der Revisionswerber damit auf jene - auch im vorliegenden Zusammenhang grundsätzlich beachtliche - Rechtsprechung, wonach ungeachtet des Außerkrafttretens des (mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2018, BGBl. I Nr. 56, mit Ablauf des 31. August 2018 aufgehobenen) § 9 Abs. 4 BFA-VG die Wertungen dieser ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiter beachtlich sind, ohne dass es aber einer ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA-VG bedarf. Es ist also weiterhin darauf Bedacht zu nehmen, dass für die Fälle des früheren § 9 Abs. 4 BFA-VG allgemein unterstellt wurde, diesfalls habe die Interessenabwägung - trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung - regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme dürfe in diesen Konstellationen grundsätzlich nicht erlassen werden. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber (angesichts der diesbezüglichen Materialien) erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum einräumen. Dazu zählen jedenfalls die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach den Z 6, 7 und 8 des § 53 Abs. 3 FPG, aber auch andere Formen gravierender Straffälligkeit (vgl. VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0328, mwN).
27 Festzuhalten ist, dass im vorliegenden Fall das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht innerhalb des in § 7 Abs. 3 AsylG 2005 genannten Zeitraums ausgesprochen hat.
28 Fallbezogen war nach dem Gesagten zu prüfen, ob dem Revisionswerber im Sinn des früheren § 9 Abs. 4 BFA-VG vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG hätte verliehen werden können oder er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist. Wäre davon auszugehen, wäre zwar die Aufenthaltsbeendigung nicht von vornherein unzulässig. Es bestünde aber nach dem oben Gesagten nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme (vgl. VwGH 21.12.2021, Ra 2020/21/0262, mwN).
29 Nach der zum früheren § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kam es für die Frage, welches Lebensalter unter der Wendung „von klein auf“ zu verstehen sei, maßgeblich auf die Integration in das in Österreich gegebene soziale Gefüge sowie auch auf die Kenntnis der deutschen Sprache an. Eine solche Integration beginne aus dem Blickwinkel der Sozialisation des Kindes etwa nach Vollendung des dritten Lebensjahres, wobei jedoch die Abgrenzung zum vorangehenden Lebensabschnitt fließend sei. Vor diesem Hintergrund sei die Wendung „von klein auf“ so zu deuten, dass sie jedenfalls für eine Person, die erst im Alter von vier Jahren oder später nach Österreich eingereist sei, nicht zum Tragen kommen könne. Aber auch eine Person, die zwar vor Vollendung ihres vierten Lebensjahres nach Österreich eingereist oder in Österreich geboren sei, sich jedoch danach wieder für längere Zeit ins Ausland begeben habe und somit nicht bereits im Kleinkindalter sozial in Österreich integriert worden sei, werde man von dieser Regelung - weil eine solche Person nicht in Österreich „aufgewachsen“ sei - nicht als erfasst ansehen können (vgl. etwa VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0067, mwN).
30 Nach den unbestrittenen - und insoweit für eine rechtliche Beurteilung ausreichenden - Feststellungen wurde der Revisionswerber am 13. März 2000 geboren. Er ist am 18. Dezember 2004 (mit seiner Mutter) in das Bundesgebiet eingereist. Seitdem hält er sich hier auf. Nach dem oben Gesagten liegt daher aufgrund der erst im fünften Lebensjahr erfolgten Einreise in Österreich eine dem früheren § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG vergleichbare Konstellation nicht vor.
31 Für eine darüber hinausgehende rechtliche Beurteilung fehlen aber in maßgeblicher Weise - wie schon im Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl - Feststellungen zu den strafbaren Handlungen. Es kann daher anhand des Inhalts der angefochtenen Entscheidung weder beurteilt werden, welche vom Revisionswerber gesetzten Verhaltensweisen das Bundesverwaltungsgericht als den für die Entscheidung (zulässigerweise heranzuziehenden) maßgeblichen Sachverhalt angesehen hat, noch welcher Wertungsmaßstab im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen wäre.
32 Soweit sich anhand der vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen - insoweit nur in der Wiedergabe von Urteilsdaten aus dem Strafregister, in dem allerdings auch der Zeitpunkt der für die erste Verurteilung zeitlich letzten Straftat mit 7. Oktober 2015 vermerkt ist, bestehenden - Feststellungen eine Einschätzung nicht als völlig unmöglich darstellt, scheint im vorliegenden Fall vor dem Hintergrund, dass dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten und damit ein darauf gegründetes qualifiziertes Aufenthaltsrecht (vgl. dazu ausführlich VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0372) ab 6. Februar 2008 zukam, (zumindest) die Beachtung der Wertungen aufgrund des in § 52 Abs. 5 FPG enthaltenen Maßstabes geboten zu sein (vgl. VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0328, dort auch mit dem Hinweis zu den in VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0363, enthaltenen Ausführungen zum mit § 52 Abs. 5 FPG festgelegten Gefährdungsmaßstab).
33 Das Bundesverwaltungsgericht nimmt zwar an diversen Stellen auf die strafbaren Handlungen des Revisionswerbers Bezug. Es führt - im Rahmen seiner Erwägungen zur Erlassung eines Einreiseverbotes - sogar (zutreffend, vgl. etwa jüngst VwGH 1.2.2022, Ra 2021/21/0032, mwN) aus, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei einer Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahingehend vorzunehmen sei, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt sei, sowie dass dabei nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen sei.
34 Das gilt, wie hier der Vollständigkeit halber zu betonen ist, auch dann, wenn im Rahmen der Interessenabwägung ein vom Fremden gesetztes (Fehl-)Verhalten im Hinblick auf die damit beeinträchtigten öffentlichen Interessen einbezogen werden soll (vgl. auch dazu VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0328, mwN).
35 Dem ist das Bundesverwaltungsgericht überhaupt nicht nachgekommen. Die bloße Wiedergabe der im Strafregister vermerkten Urteilsdaten ist - schon grundsätzlich, im Besonderen aber in einem Fall wie dem vorliegenden, der durch einen über 16-jährigen, überwiegend qualifiziert rechtmäßigen Aufenthalt gekennzeichnet ist - nicht ausreichend, um die von einem Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in einer dem Gesetz entsprechenden Weise begründen zu können (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289; 21.12.2021, Ra 2020/21/0343, jeweils mwN).
36 Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seinen beweiswürdigenden Erwägungen ausführt, es habe „die Strafhandlungen“ des Revisionswerbers „zur Gänze entsprechend den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Strafurteilen festgestellt“ und aus diesen seien „die festgestellten Strafhandlungen sowie die mildernden und erschwerenden Umstände ausreichend klar“ hervorgegangen, findet dies in der übrigen Urteilsbegründung keine Entsprechung. Der bloße Verweis auf „die im Akt einliegenden Urteil[e]“ wird den Anforderungen an eine Begründung einer Entscheidung eines Verwaltungsgerichts (vgl. zu diesen Anforderungen etwa VwGH 23.7.2021, Ra 2018/22/0111, mwN), die (unter anderem auch) die eindeutige - eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche - konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts zu enthalten hat, nicht gerecht.
37 Worauf sich das Bundesverwaltungsgericht mit seinen Ausführungen, mit einem Strafurteil werde gegenüber jedermann bindend festgestellt, dass die schuldig gesprochene Person die strafbare Handlung entsprechend den im Urteil enthaltenen konkreten Tatsachenfeststellungen schuldhaft begangen habe, und schon deshalb sei „zumindest hinsichtlich der festgestellten Strafhandlungen“ nicht weiter auf die vom Revisionswerber in der Verhandlung am 22. April 2021 getätigten Aussagen einzugehen, bezieht, bleibt mangels diesbezüglicher Erläuterungen im Dunkeln.
38 Dem Verhandlungsprotokoll ist zudem nicht zu entnehmen, dass die vom Revisionswerber begangenen strafbaren Handlungen in der Verhandlung näher beleuchtet worden wären. Ein Konnex zu diesen ist lediglich insoweit zu erblicken, als über Befragen des die Verhandlung leitenden Richters der Revisionswerber ausführte, seine Taten zu bereuen und eine Drogentherapie machen zu wollen, zumal „die meisten [s]einer Taten auf die Drogen zurückzuführen“ seien. Er wolle nach Abschluss der Therapie auch eine Lehre beginnen, „um die alten Fehler zu vermeiden“. Sollte sich das Bundesverwaltungsgericht auf diese Angaben bezogen haben, ist es darauf hinzuweisen, dass nach dem oben Gesagten der - mit den Angaben des Revisionswerbers der Sache nach angesprochenen - Frage, ob und aus welchen Gründen sowie in welchem Ausmaß von ihm weiterhin eine Gefahr ausgehe, eine Bedeutung für die vorliegende Entscheidung nicht abzusprechen ist (vgl. zur Frage der Berücksichtigung des Gesinnungswandels eines Straftäters VwGH 1.2.2022, Ra 2021/21/0032, mwN).
39 Weiters ist festzuhalten, dass auch im Rahmen der rechtlichen Erwägungen vom Bundesverwaltungsgericht nur kursorisch und abstrakt auf die aus den Urteilsdaten ersichtlichen Deliktstypen Bezug genommen wird, ohne auf die konkret vom Revisionswerber begangenen Straftaten einzugehen.
40 Das Bundesverwaltungsgericht hat somit seine Entscheidung betreffend die Erlassung der Rückkehrentscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit und mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Das angefochtene Erkenntnis war daher insoweit - sowie in den rechtlich davon abhängenden Aussprüchen, die ihre Grundlage verlieren - aus dem (vorrangig wahrzunehmenden) erstgenannten Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
41 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 2. März 2022
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021200458.L02Im RIS seit
01.04.2022Zuletzt aktualisiert am
21.04.2022