TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/22 Ra 2020/21/0390

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Veröffentlicht am 22.02.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §56
AVG §66 Abs4
AVG §68 Abs1
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A R O, vertreten durch Mag. Simon Häussler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rotenturmstraße 19/32, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. August 2020, W105 1412757-3/9E, betreffend Abweisung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der 1990 geborene Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, hatte zunächst im Dezember 2009 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der im Instanzenzug mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 17. Mai 2010 wegen der Zuständigkeit Griechenlands zurückgewiesen worden war. Unter einem war er nach Griechenland ausgewiesen worden, wohin er gemäß den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) im angefochtenen Erkenntnis auch überstellt wurde.

2        In der Folge kehrte der Revisionswerber illegal in das Bundesgebiet zurück und stellte am 17. April 2011 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 4. August 2011 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wurde, wobei der Revisionswerber unter einem nach Afghanistan ausgewiesen wurde.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde, die der Revisionswerber in Bezug auf den Status des Asylberechtigten in der Folge zurückzog, wies das BVwG mit Erkenntnis vom 21. Jänner 2016 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 ab, stellte aber unter einem fest, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Revisionswerbers in den Herkunftsstaat Afghanistan unzulässig sei, und behob die Ausweisung ersatzlos. In seiner Begründung ging das BVwG davon aus, dass eine Rückkehr des Revisionswerbers unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse wegen der katastrophalen Sicherheitslage in Afghanistan den Garantien des Art. 3 EMRK widerspreche, dass aber einer Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten die Straffälligkeit des Revisionswerbers entgegenstehe. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 30. September 2013 war der Revisionswerber nämlich wegen § 28a Abs. 1 zweiter, dritter, fünfter und sechster Fall SMG zu einer fünfzehnmonatigen Freiheitsstrafe und mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 2. März 2015 wegen § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt worden.

4        Am 3. Februar 2017 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005, den er unter anderem mit dem Hinweis auf seine in Österreich nach muslimischem Ritus geehelichte Lebensgefährtin, eine österreichische Staatsbürgerin, und die beiden gemeinsamen Kinder (geboren 2014 und 2016) begründete.

5        Mit rechtskräftigem Urteil vom 20. Dezember 2017 verhängte das Landesgericht für Strafsachen Wien über den Revisionswerber gemäß § 28a Abs. 1 vierter und fünfter Fall SMG eine Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren.

6        Den Antrag vom 3. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 1. Februar 2019 ab, erließ unter einem gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG, verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein mit sechs Jahren befristetes Einreiseverbot und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei. Des Weiteren erkannte das BFA einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab und gewährte (demzufolge) dem Revisionswerber gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.

7        Der dagegen erhobenen Beschwerde erkannte das BVwG zunächst mit (Teil-)Erkenntnis vom 12. März 2019 aufschiebende Wirkung zu, und es gab dann mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 24. August 2020 der Beschwerde insoweit statt, als ausgesprochen wurde, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 und 2 FPG zwei Wochen betrage. Im Übrigen wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

9        In seiner Begründung berücksichtigte das BVwG sowohl bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG als auch bei der Annahme, dass der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG für die Verhängung des Einreiseverbotes erfüllt sei, die strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers. Dabei ließ das BVwG jedoch die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes außer Acht, dass bei einer Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (VwGH 25.3.2021, Ra 2020/21/0533, Rn. 8, mwN). Auch für eine nachvollziehbare Abwägung der wechselseitigen Interessen nach § 9 BFA-VG bedarf es einer näheren Darstellung der vom Revisionswerber verübten Delikte, um die daraus ableitbare Gefährlichkeit und die Größe des deshalb bestehenden öffentlichen Interesses an der Beendigung seines Aufenthaltes beurteilen zu können (vgl. nochmals VwGH 25.3.2021, Ra 2020/21/0533, nunmehr Rn. 10, mwN). Das BVwG beschränkte sich diesbezüglich allerdings im Wesentlichen auf eine der Strafregisterauskunft folgende, in Rn. 3 und 5 wiedergegebene Beschreibung der strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers. Das reicht - wie die Revision zu Recht bemängelt - nach der eben dargestellten Judikatur nicht aus (vgl. dazu auch VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0091, Rn. 10, mwN).

10       Es lag aber auch kein „eindeutiger Fall“ vor, der es dem BVwG vor dem Hintergrund des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausnahmsweise erlaubt hätte, von der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung abzusehen (vgl. zu dieser Voraussetzung aus der ständigen Judikatur etwa VwGH 30.11.2020, Ra 2020/21/0355, Rn. 10, mwN). Auch das wird in der Revision zutreffend bemängelt. Die Verhandlung hätte überdies Gelegenheit geboten, die Frage der Vaterschaft des Revisionswerbers gegenüber dem ersten der von ihm namhaft gemachten beiden Kinder zu klären, die das BVwG - anders als das BFA - trotz übereinstimmender Aussagen des Revisionswerbers und seiner Lebensgefährtin mangels Vorlage (vom BVwG nicht ausdrücklich abverlangter) entsprechender Dokumente und wegen divergierender Angaben zum Geburtsdatum nicht den Feststellungen zugrunde legen konnte.

11       Das angefochtene Erkenntnis war daher schon wegen der aufgezeigten Feststellungsmängel und wegen der unterlassenen Beschwerdeverhandlung gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

12       Von der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

13       Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG im Übrigen die mit rechtskräftigem Erkenntnis des BVwG vom 21. Jänner 2016 festgestellte Unzulässigkeit (insbesondere) einer Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zu beachten haben. Eine gegenteilige Feststellung, wie sie nunmehr vorgenommen wurde, würde nämlich voraussetzen, dass sich nach Erlassung der rechtskräftigen Vorentscheidung der Sachverhalt oder die Rechtsvorschriften wesentlich geändert hätten (vgl. VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0238, Rn. 14). Die Prüfung einer wesentlichen Sachverhaltsänderung hat auf der Grundlage von im Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichten zu erfolgen (vgl. VwGH 15.11.2021, Ra 2021/20/0373, Rn. 11, mwN). Käme das BVwG danach zur Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan, so könnte dies auch auf die Rückkehrentscheidung durchschlagen (vgl. dazu das mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. Oktober 2021, EU 2021/0007 [Ra 2021/20/0246], gestellte und beim EuGH zu C-663/21 protokollierte Vorabentscheidungsersuchen zur Frage, ob die Bestimmungen der RückführungsRL [Richtlinie 2008/115/EG] einer nationalen Rechtslage entgegen stehen, wonach gegen einen unrechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen selbst dann eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn bereits bei deren Erlassung feststeht, dass eine Abschiebung wegen des Verbotes des Refoulement auf unbestimmte Dauer nicht zulässig ist).

14       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. Februar 2022

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Beachtung einer Änderung der Rechtslage sowie neuer Tatsachen und Beweise Rechtskraft Besondere Rechtsprobleme Berufungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020210390.L00

Im RIS seit

31.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

12.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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