RS Vfgh 2022/3/17 V531/2020

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Veröffentlicht am 17.03.2022
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Index

90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art139 Abs1 Z1
StVO 1960 §44, §53, §54, §76a, §94d, §94f
FußgängerzonenV des Gemeinderates der Gemeinde Ischgl vom 15.11.2016
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit der Verordnung einer Tiroler Gemeinde betreffend eine Fußgängerzone mangels (Nachweises) der nach einer Bestimmung der StVO 1960 erforderlichen Anhörung der gesetzlichen Interessenvertretung der ansässigen Berufsgruppen

Rechtssatz

Aufhebung der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Ischgl vom 15.11.2016 betreffend die Einrichtung einer Fußgängerzone vom 22.11.2018 bis zum 28.04.2019 (Antrag des Landesverwaltungsgerichts Tirol - LVwG). Der Gemeinderat der Gemeinde Ischgl hat am 22.10.2019 eine neue Verordnung betreffend die Einrichtung einer Fußgängerzone und die Festsetzung von Taxistandplätzen erlassen und die angefochtene Verordnung damit behoben.

Dem Beschwerdeführer im Anlassverfahren wird zur Last gelegt, er habe eine Verwaltungsübertretung begangen, indem er in der Gemeinde Ischgl als Lenker eines Pkw die Dorfstraße im örtlichen Geltungsbereich der mit der angefochtenen Verordnung eingerichteten Fußgängerzone befahren habe. Es ist daher offenkundig, dass das LVwG die angefochtene Verordnung jedenfalls in dem Umfang anzuwenden hat, als sie die Dorfstraße in der Gemeinde Ischgl zur Fußgängerzone erklärt. Auch vor dem Hintergrund der im Antrag ins Treffen geführten Bedenken geht der VfGH davon aus, dass jene Wortfolgen in §1 der angefochtenen Verordnung, mit denen vier weitere, jeweils in die Dorfstraße einmündende Straßen in den örtlichen Geltungsbereich der Fußgängerzone einbezogen werden, in einem derart engen Regelungszusammenhang stehen, dass insoweit von einem untrennbaren Zusammenhang auszugehen ist.

Gemäß §94f Abs1 litb Z2 StVO 1960 hat die Gemeinde vor der Erlassung einer straßenpolizeilichen Verordnung nach §94d StVO 1960 - außer bei Gefahr im Verzuge - die gesetzliche Interessenvertretung einer Berufsgruppe anzuhören, wenn Interessen von Mitgliedern dieser Berufsgruppe berührt werden. Das Interesse einer Berufsgruppe ist jedenfalls dann berührt wird, wenn durch eine Verkehrsbeschränkung die Ausübung des betreffenden Gewerbes erschwert oder gar unterbunden wird. Wird diese Anhörungspflicht verletzt, haftet der Verordnung ein formaler Mangel an. Sie ist - wegen Verstoßes gegen §94f Abs1 litb Z2 StVO 1960 - gesetzwidrig. Wie der VfGH zudem ausdrücklich festgestellt hat, kann eine straßenpolizeiliche Verordnung im Fall des Bestehens einer Anhörungspflicht gemäß §94f Abs1 litb Z2 StVO 1960 nur dann gesetzmäßig zustande kommen, wenn die von der Gemeinde insoweit ergriffenen Maßnahmen ihren Niederschlag auch in den Verordnungsakten finden. Mit der angefochtenen Verordnung wird in der Gemeinde Ischgl jeweils für die Wintersaison eine Fußgängerzone eingerichtet, die jedenfalls die Interessen von Mitgliedern der Berufsgruppen berührt, die innerhalb der Fußgängerzone ihre Arbeitsstätte oder ihren Geschäftssitz haben. Die verordnungserlassende Behörde war daher gemäß §94f Abs1 litb Z2 StVO 1960 verpflichtet, den betroffenen gesetzlichen Interessenvertretungen vor Erlassung der Verordnung Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen.

Der Stellungnahme der verordnungserlassenden Behörde im Beschwerdeverfahren vor dem LVwG ist zu entnehmen, dass es in der Gemeinde Ischgl seit mittlerweile etwa 30 Jahren eine Fußgängerzone gebe. Die Bestimmungen hiezu würden laufend evaluiert und der Verordnungstext entsprechend adaptiert werden. Bei Verordnungserlassung sei der Tourismusverband eingebunden gewesen und im Rahmen der Bürgerbeteiligung seien Stellungnahmen abgegeben worden. Der Stellungnahme der verordnungserlassenden Behörde im Beschwerdeverfahren ist weiters die Behauptung zu entnehmen, dass die belangte Behörde bestrebt gewesen sei, Interessenvertretungen wie die Wirtschaftskammer in den normativen Prozess einzubinden. Nach entsprechenden Anfragen habe die Wirtschaftskammer lediglich kundgetan, dass eine Erweiterung von Taxistandplätzen in ihrem Interesse liege. Schließlich führt die verordnungserlassende Behörde in ihrer Stellungnahme im Beschwerdeverfahren aus, dass ihr Unterlagen über ein separates Ermittlungsverfahren nicht mehr vorlägen.

Die verordnungserlassende Behörde vermag keine Unterlagen, aus denen die gebotene Anhörung der gesetzlichen Interessenvertretung von Berufsgruppen, deren Mitglieder durch die verordnete Fußgängerzone in ihren Interessen berührt werden, vorzuweisen - und auch dem vorgelegten Verordnungsakt sind dahingehend keine Hinweise zu entnehmen. Die angefochtene Verordnung wurde insgesamt im Widerspruch zu §94f Abs1 litb Z2 StVO 1960 erzeugt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Fußgängerzone, Anhörungsrecht, berufliche Vertretungen, Interessen geschützte, Ermittlungsverfahren, Verordnungserlassung, Straßenpolizei, VfGH / Gerichtsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:V531.2020

Zuletzt aktualisiert am

30.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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