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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betreffend zwei minderjährige Staatsangehörige von Serbien im Verfahren auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach Ablauf des visumfreien Aufenthalts; keine hinreichende Auseinandersetzung mit den Gründen für die Inlandsantragstellung und der Situation in Österreich und im HerkunftsstaatSpruch
I. Die Beschwerdeführerinnen sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführerinnen zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.877,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Bei den zwei minderjährigen Beschwerdeführerinnen handelt es sich um serbische Staatsangehörige. Sie reisten am 11. Juli 2020 in das Bundesgebiet ein. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 3. März 2021 wurde – über Antrag vom 1. September 2020 – der Großmutter der minderjährigen Beschwerdeführerinnen, einer österreichischen Staatsbürgerin, auf Grund der schwierigen familiären Situation in Serbien die alleinige Obsorge übertragen. Die Beschwerdeführerinnen besuchen seit September 2020 die Schule in Wien. Die Zweitbeschwerdeführerin hat mit Juni 2021 ihre Schulpflicht beendet und eine Einstellungszusage für eine Lehrstelle vorgelegt.
Am 14. August 2020 wurde für die beiden Beschwerdeführerinnen jeweils ein "Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck 'Angehöriger'" gestellt. Im Zuge des behördlichen Verfahrens wurde weiters am 26. Februar 2021 ein Antrag gemäß §21 Abs3 NAG sowie ein Zusatzantrag gemäß §21a Abs5 NAG gestellt. Der Landeshauptmann von Wien wies mit Bescheid vom 18. März 2021 die Anträge ab.
2. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 13. September 2021 ab.
Das Verwaltungsgericht Wien begründet seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass die minderjährigen Beschwerdeführerinnen keine "Familienangehörigen" im Sinne des §2 Abs1 Z9 NAG, sondern "sonstige Angehörige" gemäß §47 Abs3 Z3 NAG seien. Die Beschwerdeführerinnen hätten von der Großmutter im Herkunftsstaat weder Unterhalt bezogen noch habe ein gemeinsamer Haushalt im Herkunftsstaat bestanden (§47 Abs3 Z3 lita und b NAG). §47 Abs3 Z3 litc NAG setze eine Pflegebedürftigkeit des Nachziehenden voraus. Auf Grund der Ausführungen des Bezirksgerichtes Donaustadt (Beschluss vom 3. März 2021) könne eine solche Pflegebedürftigkeit im weitesten Sinne angenommen werden. Im Zuge der Prüfung der allgemeinen Voraussetzungen habe sich aber ein Versagungsgrund ergeben. Der visumfrei zulässige Aufenthalt von 90 Tagen habe am 8. Oktober 2020 geendet. Die Inlandsantragstellung erfolgte am 14. August 2020 nach rechtmäßiger Einreise und während des rechtmäßigen Aufenthaltes (§21 Abs2 Z5 NAG). Die Beschwerdeführerinnen seien aber nach Ablauf der 90 Tage nicht ausgereist. Eine Inlandsantragstellung begründe nach §21 Abs6 NAG aber kein über den erlaubten visumfreien Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht. Nach §11 Abs1 Z5 NAG dürfe bei einer Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthaltes im Zusammenhang mit §21 Abs6 NAG kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Trotz Vorliegens dieses Erteilungshindernisses könne gemäß §11 Abs3 NAG ein Aufenthaltstitel zwar erteilt werden, wenn dies Art8 EMRK gebiete. Ein solcher Fall liege aber nicht vor.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung insbesondere im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
4. Das Verwaltungsgericht Wien hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.
II. Rechtslage
Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 110/2021 lauten auszugsweise wie folgt:
"Begriffsbestimmungen
§2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist
1. […]
9. Familienangehöriger: wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben; lebt im Fall einer Mehrfachehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Bundesgebiet, so sind die weiteren Ehegatten keine anspruchsberechtigten Familienangehörigen zur Erlangung eines Aufenthaltstitels;
10. […]
Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn
1. gegen ihn ein aufrechtes Einreiseverbot gemäß §53 FPG oder ein aufrechtes Aufenthaltsverbot gemäß §67 FPG besteht;
2. gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht;
3. gegen ihn eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen wurde und seit seiner Ausreise nicht bereits achtzehn Monate vergangen sind, sofern er nicht einen Antrag gemäß §21 Abs1 eingebracht hat, nachdem er seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachgekommen ist;
4. eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§30 Abs1 oder 2) vorliegt;
5. eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalts im Zusammenhang mit §21 Abs6 vorliegt oder
6. er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde.
(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn
1. der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet;
2. der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;
3. der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist;
4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;
5. durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden;
6. der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§24) das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß §9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl I Nr 68/2017, rechtzeitig erfüllt hat, und
7. in den Fällen der §§58 und 58a seit der Ausreise in einen Drittstaat gemäß §58 Abs5 mehr als vier Monate vergangen sind.
(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs1 Z3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs2 Z1 bis 7 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), BGBl Nr 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war;
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
4. der Grad der Integration;
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(4) Der Aufenthalt eines Fremden widerstreitet dem öffentlichen Interesse (Abs2 Z1), wenn
1. sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde oder
2. der Fremde ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt.
(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs2 Z4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des §293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl Nr 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in §292 Abs3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§2 Abs4 Z3) oder durch eine Haftungserklärung (§2 Abs1 Z15) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß §291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl Nr 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.
(6) Die Zulässigkeit, den Nachweis einer oder mehrerer Voraussetzungen des Abs2 Z2 und 4 mit einer Haftungserklärung (§2 Abs1 Z15) erbringen zu können, muss ausdrücklich beim jeweiligen Aufenthaltszweck angeführt sein.
(7) Der Fremde hat bei der Erstantragstellung ein Gesundheitszeugnis vorzulegen, wenn er auch für die Erlangung eines Visums (§21 FPG) ein Gesundheitszeugnis gemäß §23 FPG benötigen würde.
[…]
Verfahren bei Erstanträgen
§21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.
(2) Abweichend von Abs1 sind zur Antragstellung im Inland berechtigt:
1. Familienangehörige von Österreichern, EWR-Bürgern und Schweizer Bürgern, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts;
2. Fremde bis längstens sechs Monate nach Ende ihrer rechtmäßigen Niederlassung im Bundesgebiet, wenn sie für diese Niederlassung keine Bewilligung oder Dokumentation nach diesem Bundesgesetz benötigt haben;
3. Fremde bis längstens sechs Monate nach Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft, oder der Staatsangehörigkeit der Schweiz oder eines EWR-Staates;
4. Kinder im Fall der Familienzusammenführung binnen sechs Monaten nach der Geburt, soweit der Zusammenführende, dem die Pflege und Erziehung zukommt, rechtmäßig aufhältig ist;
5. Fremde, die zur visumfreien Einreise berechtigt sind, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts;
6. Fremde, die eine 'Niederlassungsbewilligung – Forscher' (§43c) beantragen, und deren Familienangehörige sowie Fremde, die eine Aufenthaltsbewilligung 'Student', eine Aufenthaltsbewilligung 'Freiwilliger' oder eine 'Niederlassungsbewilligung' gemäß §56 Abs1 beantragen, jeweils nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts;
7. Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte' gemäß §41 Abs1 beantragen, während ihres rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet mit einem Visum gemäß §24a FPG;
8. Drittstaatsangehörige, die gemäß §1 Abs2 liti oder j AuslBG oder §1 Z5, 7 oder 9 AuslBVO vom Anwendungsbereich des AuslBG ausgenommen sind oder die unter §1 Z4 Personengruppenverordnung 2018 – PersGV 2018, BGBl II Nr 63/2019, fallen und die eine 'Niederlassungsbewilligung – Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit' oder eine Aufenthaltsbewilligung 'Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit' beantragen, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts;
9. Drittstaatsangehörige, die über ein österreichisches Reife-, Reifeprüfungs- oder Diplomprüfungszeugnis einer in- oder ausländischen Schule verfügen, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts und
10. Drittstaatsangehörige, die über einen gültigen Aufenthaltstitel 'ICT' eines anderen Mitgliedstaates (§58a) oder einen gültigen Aufenthaltstitel 'Forscher' eines anderen Mitgliedstaates (§61) verfügen.
(3) Abweichend von Abs1 kann die Behörde auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß §11 Abs1 Z1, 2 oder 4 vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist:
1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§2 Abs1 Z17) zur Wahrung des Kindeswohls oder
2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK (§11 Abs3).
Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Fremde zu belehren.
(4) Beabsichtigt die Behörde den Antrag nach Abs3 zurück- oder abzuweisen, so hat die Behörde darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
(5) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, Staatsangehörige bestimmter Staaten durch Verordnung zur Inlandsantragsstellung zuzulassen, soweit Gegenseitigkeit gegeben ist oder dies im öffentlichen Interesse liegt.
(6) Eine Inlandsantragstellung nach Abs2 Z1, Z4 bis 9, Abs3 und 5 schafft kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht. Ebenso steht sie der Erlassung und Durchführung von Maßnahmen nach dem FPG nicht entgegen und kann daher in Verfahren nach dem FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten.
(7) Abs2 bis 6 gelten nicht für Drittstaatsangehörige, die einen Antrag auf erstmalige Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung als unternehmensintern transferierter Arbeitnehmer (§58) beantragen.
[…]
Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' und
'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger'
§47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs2 bis 4 sind Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.
(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind, ist ein Aufenthaltstitel 'Familienangehöriger' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.
(3) Angehörigen von Zusammenführenden kann auf Antrag eine 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger' erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
1. Verwandte des Zusammenführenden, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen tatsächlich Unterhalt geleistet wird,
2. Lebenspartner sind, die das Bestehen einer dauerhaften Beziehung im Herkunftsstaat nachweisen und ihnen tatsächlich Unterhalt geleistet wird oder
3. sonstige Angehörige des Zusammenführenden sind,
a) die vom Zusammenführenden bereits im Herkunftsstaat Unterhalt bezogen haben,
b) die mit dem Zusammenführenden bereits im Herkunftsstaat in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben oder
c) bei denen schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege durch den Zusammenführenden zwingend erforderlich machen.
Unbeschadet eigener Unterhaltsmittel hat der Zusammenführende jedenfalls auch eine Haftungserklärung abzugeben.
(4) Angehörigen von Zusammenführenden, die eine 'Niederlassungsbewilligung – Angehöriger' besitzen (Abs3), kann ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus' erteilt werden, wenn
1. sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen,
2. ein Quotenplatz vorhanden ist und
3. eine schriftliche Mitteilung der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice gemäß §20e Abs1 Z1 AuslBG vorliegt.
(5) In den Fällen des Abs4 ist von der Einholung einer schriftlichen Mitteilung der regionalen Geschäftsstelle oder eines Gutachtens der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice abzusehen, wenn der Antrag
1. wegen eines Formmangels oder Fehlens einer Voraussetzung gemäß §§19 bis 24 zurück- oder abzuweisen ist,
2. wegen des Mangels an einem Quotenplatz zurückzuweisen ist, oder
3. wegen zwingender Erteilungshindernisse gemäß §11 Abs1 abzuweisen ist.
Erwächst die negative Entscheidung der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice über die Zulassung im Fall des §20e Abs1 Z1 AuslBG in Rechtskraft, ist das Verfahren ohne Weiteres einzustellen."
III. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
Aus Art8 EMRK ist keine generelle Verpflichtung abzuleiten, dem Wunsch eines Fremden, sich in einem bestimmten Mitgliedstaat aufzuhalten, nachzukommen (VfSlg 19.713/2012, 20.286/2018 mwN zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Unter besonderen Umständen kann sich aus Art8 EMRK aber eine Verpflichtung des Staates ergeben, den Aufenthalt eines Fremden zu ermöglichen (vgl zB VfSlg 17.734/2005, 19.162/2010, 20.049/2016, 20.286/2018) mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen Eingriff in Art8 EMRK bildet.
2. Vor diesem Hintergrund ist dem Verwaltungsgericht Wien in Bezug auf Art8 EMRK ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
2.1. §47 NAG ist die Grundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" und "Niederlassungsbewilligung – Angehöriger". Die Gruppe der drittstaatsangehörigen Personen, die im Rahmen des Familiennachzuges auf Grund eines österreichischen Zusammenführenden nach Österreich zuwandern können, teilt sich somit in Familienangehörige nach §2 Abs1 Z9 NAG und Angehörige, die in §47 Abs3 NAG näher umschrieben werden (Abermann, §47, in: Abermann/Czech/Kind/Peyrl [Hrsg.], NAG2, 2019, Rz 6).
2.2. Das Verwaltungsgericht Wien geht davon aus, dass es sich bei den minderjährigen Beschwerdeführerinnen um "sonstige Angehörige" im Sinne des §47 Abs3 NAG handelt und §47 Abs3 Z3 litc NAG einschlägig ist, der auf die Pflegebedürftigkeit der Nachziehenden abstellt. Auf Grund des gerichtlichen Pflegschaftsverfahrens sowie den Feststellungen im Obsorgebeschluss des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 3. März 2021 schließt das Verwaltungsgericht Wien auf eine "gewisse Notlage der beiden Beschwerdeführerinnen in Serbien". Im Zuge der Feststellungen führt das Verwaltungsgericht Wien mit Verweis auf das Pflegschaftsverfahren aus, dass die Obsorge der Großmutter übertragen worden sei, weil die Kindesmutter, die die alleinige Obsorge für die beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen innehatte, insgesamt sechs Kinder habe und sich um die beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen nicht kümmern könne. Den beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen sei es bei der Mutter in Serbien sehr schlecht gegangen, da die Familie keine finanziellen Mittel, kein Essen, keine Schulmaterialien und keine Kleidung habe. Auf Grund der schlechten hygienischen und sanitären Umstände hätten die Kinder "unangenehmen Körpergeruch und keine Freunde". Außerdem habe es Probleme mit dem Stiefvater gegeben, der die Kindesmutter und die Kinder schlecht behandelt habe.
2.3. Die minderjährigen Beschwerdeführerinnen reisten am 11. Juli 2020 in das Bundesgebiet ein und stellten am 14. August 2020 im Inland die verfahrensgegenständlichen Anträge. Im Zuge der Prüfung, ob die Beschwerdeführerinnen zur Inlandsantragstellung gemäß §21 Abs2 Z5 NAG berechtigt waren, führt das Verwaltungsgericht Wien aus, dass die Beschwerdeführerinnen visumfrei eingereist seien. Der visumfreie Aufenthalt habe jedoch am 8. Oktober 2020 geendet. Die minderjährigen Beschwerdeführerinnen hätten sohin den Antrag noch zulässigerweise im Inland gestellt, dann aber die Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthaltes überschritten, weshalb der Versagungsgrund nach §11 Abs1 Z5 NAG iVm §21 Abs6 NAG verwirklicht sei. Bei der damit gebotenen Abwägung im Hinblick auf Art8 EMRK (s §11 Abs3 NAG) stellt das Verwaltungsgericht Wien dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen und familiären Interessen der minderjährigen Beschwerdeführerinnen am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber und kommt zur Auffassung, dass nach Abwägung aller betroffenen Interessen die "Ausreise nach Ablauf der visumfreien Zeit […] möglich und zumutbar gewesen" sei und der Versagungsgrund des §11 Abs1 Z5 NAG daher der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegenstehe.
Dabei verweist das Verwaltungsgericht Wien zwar darauf, dass die im gerichtlichen Pflegschaftsverfahren angenommene Pflegebedürftigkeit der beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen, die zur Obsorgeübertragung an die zusammenführende Großmutter geführt habe, zu berücksichtigen sei. Es nimmt auch an, dass zwischen den Beschwerdeführerinnen und ihrer Großmutter ein Familienleben bestehe. Das Verwaltungsgericht Wien sieht aber keine "echte[…] Notsituation, wie sie im Verfahren vorgebracht wurde und dem Obsorgebeschluss zugrunde liegt", weil der Antrag auf Obsorgeübertragung nicht gleich nach der Einreise gestellt worden sei.
Aus den vom Verwaltungsgericht Wien selbst festgestellten Lebensumständen der beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater im Herkunftsstaat ergibt sich, dass die Versorgungslage der minderjährigen Beschwerdeführerinnen etwa im Hinblick auf ausreichende Körperhygiene ebenso wenig gesichert ist wie zumindest möglicherweise ihre Sicherheit im Hinblick auf das Verhalten des Stiefvaters. Daher haben diese Umstände das Bezirksgericht Donaustadt auch dazu bestimmt, die Obsorge über die beiden Beschwerdeführerinnen ihrer Großmutter zu übertragen. Dieser im Hinblick auf Versorgung und Sicherheit der minderjährigen Beschwerdeführerinnen bedenklichen familiären Lage im Herkunftsstaat ist die familiäre Situation der Beschwerdeführerinnen im Haushalt ihrer (obsorgeberechtigten) Großmutter gegenüberzustellen. Wie wiederum das Verwaltungsgericht Wien auch sieht, haben die Beschwerdeführerinnen dabei auch "Kontakt zu ihren beiden Onkeln und Tanten sowie deren Kindern" und verfügen "über einen Freundeskreis". Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, wieso öffentliche Interessen die Rechte der beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen aus Art8 EMRK überwiegen sollen (vgl VfSlg 19.183/2010; zur Berücksichtigung des Kindeswohles bei der Interessenabwägung nach Art8 EMRK ua VfGH 12.10.2016, E1349/2016; EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva ua, Appl 50.435/99). Der vom Verwaltungsgericht Wien herangezogene Hinweis auf einen (in der Sache bloß rund eineinhalbmonatigen) Zeitraum zwischen Einreise in das Bundesgebiet und Antragstellung auf Übertragung der Obsorge kann ein solches Abwägungsergebnis im vorliegenden Fall jedenfalls nicht tragen.
3. Das Verwaltungsgericht Wien hat daher §11 Abs3 NAG in einer Weise angewendet, die mit Art8 EMRK nicht zu vereinbaren ist. Das Erkenntnis ist daher schon aus diesem Grund aufzuheben.
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerinnen sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 218,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60 enthalten.
Schlagworte
Fremdenrecht, Kinder, Privat- und Familienleben, Aufenthaltsrecht, EntscheidungsbegründungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E3857.2021Zuletzt aktualisiert am
30.03.2022