Index
41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betreffend zwei minderjährige Staatsangehörige von Serbien im Verfahren auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach Ablauf des visumfreien Aufenthalts; keine hinreichende Auseinandersetzung mit den Gründen für die Inlandsantragstellung und der Situation in Österreich und im HerkunftsstaatRechtssatz
Die minderjährigen Beschwerdeführerinnen reisten am 11.07.2020 in das Bundesgebiet ein und stellten am 14.08.2020 im Inland Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstitel für den Zweck "Angehöriger". Im Zuge der Prüfung, ob die Beschwerdeführerinnen zur Inlandsantragstellung gemäß §21 Abs2 Z5 NAG berechtigt waren, führt das Verwaltungsgericht Wien (VGW - LVwG) aus, dass die Beschwerdeführerinnen visumfrei eingereist seien. Der visumfreie Aufenthalt habe jedoch am 08.10.2020 geendet. Die minderjährigen Beschwerdeführerinnen hätten sohin den Antrag noch zulässigerweise im Inland gestellt, dann aber die Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthaltes überschritten, weshalb der Versagungsgrund nach §11 Abs1 Z5 NAG iVm §21 Abs6 NAG verwirklicht sei. Bei der damit gebotenen Abwägung im Hinblick auf Art8 EMRK (s §11 Abs3 NAG) stellt das VGW dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen und familiären Interessen der minderjährigen Beschwerdeführerinnen am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber und kommt zur Auffassung, dass nach Abwägung aller betroffenen Interessen die "Ausreise nach Ablauf der visumfreien Zeit [...] möglich und zumutbar gewesen" sei und der Versagungsgrund des §11 Abs1 Z5 NAG daher der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegenstehe.
Dabei verweist das VGW zwar darauf, dass die im gerichtlichen Pflegschaftsverfahren angenommene Pflegebedürftigkeit der beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen, die zur Obsorgeübertragung an die zusammenführende Großmutter geführt habe, zu berücksichtigen sei. Es nimmt auch an, dass zwischen den Beschwerdeführerinnen und ihrer Großmutter ein Familienleben bestehe. Das VGW sieht aber keine "echte[...] Notsituation, wie sie im Verfahren vorgebracht wurde und dem Obsorgebeschluss zugrunde liegt", weil der Antrag auf Obsorgeübertragung nicht gleich nach der Einreise gestellt worden sei.
Aus den vom VGW selbst festgestellten Lebensumständen der beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater im Herkunftsstaat ergibt sich, dass die Versorgungslage der minderjährigen Beschwerdeführerinnen etwa im Hinblick auf ausreichende Körperhygiene ebenso wenig gesichert ist wie zumindest möglicherweise ihre Sicherheit im Hinblick auf das Verhalten des Stiefvaters. Daher haben diese Umstände das Bezirksgericht Donaustadt auch dazu bestimmt, die Obsorge über die beiden Beschwerdeführerinnen ihrer Großmutter zu übertragen. Dieser im Hinblick auf Versorgung und Sicherheit der minderjährigen Beschwerdeführerinnen bedenklichen familiären Lage im Herkunftsstaat ist die familiäre Situation der Beschwerdeführerinnen im Haushalt ihrer (obsorgeberechtigten) Großmutter gegenüberzustellen. Wie wiederum das VGW auch sieht, haben die Beschwerdeführerinnen dabei auch "Kontakt zu ihren beiden Onkeln und Tanten sowie deren Kindern" und verfügen "über einen Freundeskreis". Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, wieso öffentliche Interessen die Rechte der beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen aus Art8 EMRK überwiegen sollen. Der vom VGW herangezogene Hinweis auf einen (in der Sache bloß rund eineinhalbmonatigen) Zeitraum zwischen Einreise in das Bundesgebiet und Antragstellung auf Übertragung der Obsorge kann ein solches Abwägungsergebnis im vorliegenden Fall jedenfalls nicht tragen.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Fremdenrecht, Kinder, Privat- und Familienleben, Aufenthaltsrecht, EntscheidungsbegründungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:E3857.2021Zuletzt aktualisiert am
30.03.2022