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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma, Hofrätin Mag.a Nussbaumer-Hinterauer und Hofrat Mag. Cede als Richterin und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers MMag. Dr. Gotsbacher, über die Revision der O GmbH (vormals M GmbH) in W, vertreten durch die Polak & Partner Rechtsanwälte GmbH in 1060 Wien, Getreidemarkt 1, gegen den als Erkenntnis bezeichneten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. April 2020, Zlen. 1. W127 2227870-1/5E, 2. W127 2227872-1/5E, 3. W127 2227874-1/5E, 4. W127 2227876-1/5E, 5. W127 2227870-2/6E, 6. W127 2227872-2/6E, 7. W127 2227874-2/6E und 8. W127 2227876-2/6E, betreffend Zurückweisung von Beschwerden und Abweisung von Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand i.A. Streichung von Arzneispezialitäten aus dem Gelben Bereich des Erstattungskodex (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit der angefochtenen Entscheidung wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden der revisionswerbenden Partei gegen vier Bescheide des Dachverbands der Sozialversicherungsträger als verspätet zurück (Spruchpunkt A I.) und die von der revisionswerbenden Partei in diesem Zusammenhang gestellten Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab (Spruchpunkt A II.).
2 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass der revisionswerbenden Partei Verständigungen über die Bereithaltung der Bescheide zur Abholung an deren elektronischer Zustelladresse (iSv. § 35 ZustG) durch einen Zustelldienst mit Zustellnachweis am 17. Dezember 2019 zwischen 10:56 Uhr und 11:02 Uhr übermittelt worden seien. Die Abholung der Bescheide durch die revisionswerbende Partei sei am 17. Dezember 2019 um 11:11 Uhr erfolgt. Die Beschwerden seien am 15. Jänner 2020 um 17:27 Uhr bei der belangten Behörde eingebracht worden.
3 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf § 35 Abs. 5 ZustG aus, dass als Zustellzeitpunkt der Tag der Abholung der angefochtenen Bescheide (Dienstag, 17. Dezember 2019) anzusehen sei. Die Rechtsmittelfrist habe daher am Dienstag, den 14. Jänner 2020 geendet, sodass die erst am 15. Jänner 2020 eingebrachten Beschwerden verspätet und folglich zurückzuweisen seien. Dem auf die Bestimmung des § 35 Abs. 6 ZustG (wonach die Zustellung „als am ersten Werktag nach der Versendung der ersten elektronischen Verständigung bewirkt“ gilt) gestützten Standpunkt der revisionswerbenden Partei, dass die Beschwerden nicht verspätet seien, trat das Bundesverwaltungsgericht mit näherer Begründung entgegen. Ein zur Abholung bereitgehaltenes Dokument gelte jedenfalls mit seiner Abholung als zugestellt (Hinweis auf § 35 Abs. 5 ZustG in der ab 1. Dezember 2019 geltenden Fassung). Dies sei gleichzuhalten mit einer physischen Zustellung, bei der der Empfänger die Sendung tatsächlich übernehme. Abweichend davon enthielten § 35 Abs. 6 und 7 ZustG „Zustellfiktionen bezüglich des Zustellzeitpunktes“. Der Verwaltungsgerichtshof habe bereits in seinem Beschluss vom 6. November 2018, Ro 2018/01/0011, im Hinblick auf § 35 Abs. 5 ZustG festgehalten, dass durch das Wort „spätestens“ klargestellt worden sei, dass sich aus den folgenden Absätzen 6 und 7 des § 35 ZustG ergeben könne, dass die Zustellung bereits zu einem früheren Zeitpunkt wirksam geworden sei. Diese Rechtsprechung könne auch auf den geltenden Wortlaut des § 35 Abs. 5 ZustG, der das Adverb „jedenfalls“ statt des Adverbs „spätestens“ enthalte, umgelegt werden, „da immer die Abholung des Dokumentes als solche das fristauslösende Element“ darstelle. Die von der revisionswerbenden Partei angeführte „Neuheit der Rechtslage“ sei daher nicht nachvollziehbar.
4 Die Abweisung der Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass ein dem Rechtsvertreter unterlaufener Irrtum über das Ende einer Frist zwar ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellen könne, welches die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ermögliche. Die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setze jedoch voraus, dass der Partei kein über einen minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden an der Fristversäumung zur Last liege. Bei einem rechtskundigen Parteienvertreter sei dabei ein strenger Maßstab anzulegen; ein Verschulden des Rechtsvertreters sei dem Wiedereinsetzungswerber zuzurechnen. Ein Rechtsanwalt habe der Fristberechnung die gebührende Beachtung zu schenken. Für die richtige Berechnung der jeweiligen Rechtsmittelfrist in einem bestimmten Fall sei in einer Rechtsanwaltskanzlei der Rechtsanwalt selbst verantwortlich. Er habe selbst die entsprechende Frist festzusetzen, ihre Vormerkung anzuordnen sowie die richtigen Eintragungen im Kalender im Rahmen der gegenüber seinen Kanzleiangestellten gegebenen Aufsichtspflicht zu überwachen. Hiervon entbinde auch großer Arbeitsdruck nicht.
5 Die für die vorliegende Rechtssache zuständige Rechtsanwältin habe in einer „eidesstättigen Erklärung“ selbst festgehalten, dass sie nach Übermittlung der Bescheide durch die revisionswerbende Partei „nicht noch einmal überprüft“ habe, ob sich durch die Abholung der Bescheide die Rechtsmittelfrist geändert habe. In Anbetracht der Bestimmung des § 35 Abs. 5 ZustG, die hinsichtlich des Zeitpunkts der Zustellung eines zur Abholung bereitgehaltenen Dokuments auf die Abholung dieses Dokumentes abstelle, könne nicht von einem minderen Grad des Versehens ausgegangen werden, wenn ein berufsmäßiger Parteienvertreter nicht den tatsächlichen Beginn der Rechtsmittelfrist überprüft und die Vormerkung der Frist dementsprechend vornimmt bzw. anpasst. Es sei nicht vorgebracht worden, dass sich die Rechtsanwaltskanzlei noch vor Übermittlung der Bescheide die Verständigung über die Abholung eines Dokumentes einschließlich des Hinweises auf den Zeitpunkt, mit dem die Zustellung wirksam werde, als Kontrollparameter für die Einhaltung der Rechtsmittelfrist von der revisionswerbenden Partei habe vorlegen lassen. Auch darin sei ein Verschulden der anwaltlichen Vertreter zu sehen, weil zwar (unter Hinweis auf die Möglichkeit von Missverständnissen und Kommunikationslücken zwischen dem Mandanten und dem Anwalt) gerügt worden sei, dass die Behörde auch bei anwaltlich vertretenen Mandanten direkt der Partei zustelle, eine tatsächliche Kontrolle des Übermittlungsvorganges von der Behörde an die Partei aber weder unverzüglich noch durch Vorlage von entsprechenden Unterlagen (wie der Verständigung über die Bereithaltung von Dokumenten zur Abholung) erfolgt sei. Im Übrigen stelle Unkenntnis der Rechtslage oder ein Rechtsirrtum eines berufsmäßigen Parteienvertreters für sich allein kein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis dar, das die Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bilden könne, zumal „vor allem eine rezente Änderung der Rechtslage besondere Aufmerksamkeit verdient“ (Hinweise auf VwGH 29.6.2016, Ra 2016/05/0001; 15.12.2015, Ra 2015/01/0061). Aus der „eidesstättigen Erklärung“ eines Mitarbeiters der revisionswerbenden Partei ergebe sich, dass dieser „viel später“ (nach dem Zustellvorgang) gesehen habe, dass die Verständigung von der Bereitstellung der Bescheide eine „Rechtsbelehrung“ enthalten habe. In dieser sei jedoch eindeutig darauf hingewiesen worden, dass das Dokument bereits mit der Abholung als zugestellt gelte. Da ein über den minderen Grad des Versehens hinausgehendes Verschulden den Rechtsvertretern der revisionswerbenden Partei selbst anzulasten sei, seien die Ausführungen im Wiedereinsetzungsantrag betreffend das in der Kanzlei etablierte Kontrollsystem nicht zielführend; das Kontrollsystem diene ohnehin im Wesentlichen der Überwachung und Kontrolle der Mitarbeiter eines Rechtsanwaltes zur Vermeidung von Fehlern, nicht jedoch der Überwachung des - die Kontrolle ausübenden - Rechtsanwalts selbst.
6 Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für unzulässig.
7 Die revisionswerbende Partei erhob gegen diese Entscheidung zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Beschluss vom 29. November 2021, E 1496/2020-17, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung dieser Beschwerde ab. Zur Begründung führte der Verfassungsgerichtshof darin Folgendes aus:
„Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art. 83 Abs. 2 B-VG) und auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 7 B-VG, Art. 2 StGG). Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Fragen, wann die Bescheide nach § 35 Zustellgesetz wirksam zugestellt worden sind und ob das Bundesverwaltungsgericht das Vorliegen eines minderen Grades des Versehens zu Recht verneint hat, insoweit nicht anzustellen.
Soweit die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berührt, als die Rechtswidrigkeit der die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsvorschriften behauptet wird, lässt ihr Vorbringen vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. zu § 89d GOG VfSlg. 20.033/2015, allgemein zu verschiedenen verfahrensrechtlichen Regelungssystemen zuletzt VfSlg. 20.317/2019 sowie zur Präjudizialität von Rechtsvorschriften VfSlg. 11.401/1987, 11.979/1989, 14.078/1995, 15.634/1999 und 15.673/1999) die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes oder einer gesetzwidrigen Verordnung als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. § 15 VO EKO gehört nicht mehr dem Rechtsbestand an (vgl. die Aufhebung der Wortfolge ‚durch den Hauptverband‘ in § 15 VO-EKO durch die 3. Verfahrensordnungs-Novelle, Verlautbarung Nr. 106/2008, mit Wirkung vom 1. Jänner 2009 sowie Art. I Abs. 2 Z 1 EGVG idF BGBl. I 33/2013 iVm § 21 AVG). § 351g ASVG ist damit für die angefochtene Entscheidung nicht präjudiziell.“
8 Mit Beschluss vom 23. Dezember 2021, E 1496/2020-19, trat der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde über nachträglichen Antrag der revisionswerbenden Partei dem Verwaltungsgerichtshof ab.
9 In der Folge brachte die revisionswerbende Partei die vorliegende außerordentliche Revision ein.
10 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
13 1. In Ansehung von Spruchpunkt A I. der angefochtenen Entscheidung bringt die revisionswerbende Partei zur Begründung der Zulässigkeit der Revision vor, dass einschlägige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Verhältnis zwischen § 35 Abs. 5 und § 35 Abs. 6 ZustG fehle. Die „einzige verfügbare Entscheidung“ zur geltenden Fassung des § 35 Abs. 5 ZustG sei der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 8. Oktober 2020, Ra 2020/18/0354. Diese Entscheidung behandle die „hier relevante Rechtsfrage bei näherem Hinsehen inhaltlich gerade nicht“.
14 Dieses Vorbringen zeigt eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht auf.
15 In der bis zum 30. November 2019 geltenden Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 104/2018 lauteten die Absätze 5 und 6 des § 35 ZustG wie folgt:
„(5) Ein zur Abholung bereitgehaltenes Dokument gilt spätestens mit seiner Abholung als zugestellt.
(6) Die Zustellung gilt als am ersten Werktag nach der Versendung der ersten elektronischen Verständigung bewirkt, wobei Samstage nicht als Werktage gelten. Sie gilt als nicht bewirkt, wenn sich ergibt, dass die elektronischen Verständigungen nicht beim Empfänger eingelangt waren, doch wird sie mit dem dem Einlangen einer elektronischen Verständigung folgenden Tag innerhalb der Abholfrist (Abs. 1 Z 3) wirksam.“
16 Mit der zitierten Novelle wurde in § 35 Abs. 5 ZustG das Wort „spätestens“ durch das Wort „jedenfalls“ ersetzt; im Übrigen blieb der Wortlaut der Absätze 5 und 6 des § 35 ZustG unverändert. Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage führen zu der mit der Novelle BGBl. I Nr. 104/2018 bewirkten Änderung in § 35 Abs. 5 ZustG aus: „Es soll lediglich eine sprachliche Klarstellung erfolgen, die oftmals zu Auslegungsschwierigkeiten geführt hat.“ (RV 381 BlgNR 26. GP, 9). Damit ist die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 35 Abs. 5 ZustG in der Fassung BGBl. I Nr. 5/2008 auf § 35 Abs. 5 leg. cit. in der Fassung BGBl. I Nr. 104/2018 übertragbar.
17 Bereits zu der vor der zitierten Novelle geltenden Fassung des § 35 Abs. 5 ZustG hat der Verwaltungsgerichtshof in einem Fall, in dem eine Zustellung im Wege eines elektronischen Zustelldienstes iSd. § 35 ZustG am selben Tag (im damaligen Revisionsfall: am 22. Juni 2018) sowohl übermittelt und zur Abholung bereitgehalten, als auch von einer zur Abholung berechtigten Person abgeholt wurde, angenommen, dass die Zustellung mit der Abholung an diesem Tag (damals: 22. Juni 2018) gemäß § 35 Abs. 5 ZustG bewirkt war (VwGH 6. November 2018, Ro 2018/01/0011, insb. Rn. 3 und 34). Zum gleichen Ergebnis kam der Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 8. Oktober 2020, Ra 2020/18/0354, auch in einem Fall, in dem der zu beurteilende Zustellvorgang (in Form der Übermittlung, Bereithaltung und Abholung am selben Tag, damals dem 10. Juli 2020) nach In-Kraft-Treten der durch BGBl. I Nr. 104/2018 erfolgten Änderung des § 35 Abs. 5 ZustG stattgefunden hat. Das Verwaltungsgericht ist von dem den zitierten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zugrunde liegenden Verständnis des § 35 Abs. 5 ZustG nicht abgewichen. Schon aus diesem Grund wirft die Revision in Bezug auf Spruchpunkt A I. der angefochtenen Entscheidung keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung auf.
18 2. In Bezug auf den Spruchpunkt A II. der angefochtenen Entscheidung begründet die Revision ihre Zulässigkeit damit, dass das Bundesverwaltungsgericht die Annahme, der revisionswerbenden Partei sei kein bloß minderer Grad des Versehens zuzurechnen, in unvertretbarer Weise gelöst habe. Eine Unvertretbarkeit der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichtes, die die Zulässigkeit der Revision im Sinne von Art. 133 Abs. 4 B-VG begründe, sei dann „indiziert“, wenn das Bundesverwaltungsgericht die betreffende Rechtsfrage „abweichend von der Rechtsprechung des OGH gelöst“ habe (Hinweis auf VwGH 3.7.2020, Ra 2020/14/0006). Nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofes liege bei einer vertretbaren (aber letztlich unzutreffenden) Rechtsansicht nicht bloß leichte Fahrlässigkeit, sondern „überhaupt kein Verschulden“ vor. Eine unvertretbare Rechtsansicht bedeute aber auch noch nicht (zwingend) grobe Fahrlässigkeit des Rechtsanwenders (Hinweis auf OGH 27.1.1998, 1 Ob 241/97s). Die Ansicht der revisionswerbenden Partei sei aber nicht nur vertretbar, sondern werde auch „von namhaften Stimmen“ vertreten.
19 Entgegen den wiedergegebenen Ausführungen der Zulässigkeitsbegründung vermag der Hinweis auf eine behauptete Abweichung der angefochtenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung von Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ein Abweichen von der für die vorliegende Beurteilung allein maßgeblichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht darzutun (VwGH 14.9.2017, Ra 2017/01/0255; 11.8.2021, Ra 2020/11/0187; 6.12.2021, Ra 2021/03/0303; Entsprechendes gilt bei bloßem Hinweis auf behauptete Uneinheitlichkeiten zwischen der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes: VwGH 5.7.2017, Ra 2017/17/0436; 8.6.2018, Ra 2017/17/0452; 27.5.2019, Ra 2017/12/0047). Die in der Zulässigkeitsbegründung zitierte Aussage des hg. Erkenntnisses vom 3. Juli 2020, Ra 2020/14/0006, betrifft die Revisibilität im Fall einer Abweichung von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes bei der Beurteilung zivilrechtlicher Vorfragen und ist daher im vorliegenden Zusammenhang nicht einschlägig.
20 Unabhängig vom Vorgesagten - dh. auch unter Außerachtlassung der Untauglichkeit des erwähnten Zulässigkeitsvorbringens - ist vorliegend eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht ersichtlich. Die Frage, ob das Verwaltungsgericht fallbezogen zu Recht das Vorliegen eines minderen Grades des Versehens in einem Verfahren betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verneint hat, ist keine Rechtsfrage, der über den konkreten Einzelfall hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung iSd. Art. 133 Abs. 4 B-VG zukommt. Der Frage, ob die besonderen Umstände des Einzelfalles auch eine andere Entscheidung gerechtfertigt hätten, kommt in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung zu (VwGH 5.3.2015, Ra 2015/02/0027; 3.9.2018, Ra 2018/01/0370, jeweils mwN). Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge nur dann vor, wenn die Beurteilung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre. Vorliegend ist das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes insofern nicht abgewichen, als es seiner Entscheidung zugrunde legte, dass Unkenntnis einer neuen Gesetzeslage durch einen beruflichen Parteienvertreter in der Regel keinen minderen Grad des Versehens darstellt, weil vor allem eine rezente Änderung der Rechtslage besondere Aufmerksamkeit verdient (vgl. VwGH 25.8.2021, Ro 2020/05/0024, mwN). Rechtsirrtümer der vorliegenden Art durch einen beruflichen Parteienvertreter können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Bewilligung eines Wiedereinsetzungsantrages führen (vgl. etwa VwGH 21.9.2000, 2000/20/0167, zu einem Fall, in dem die vom Parteienvertreter gesetzte Rechtshandlung auf einer Rechtsauffassung beruhte, die auch vom Bundeskanzleramt in einem Durchführungsrundschreiben geäußert worden war). Dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, es liege kein bloß minderer Grad des Versehens vor, im vorliegenden Fall in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre, lässt die Revision angesichts der im Zustellzeitpunkt bereits bekannten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 35 Abs. 5 ZustG in der zuvor geltenden Fassung (VwGH 6.11.2018, Ro 2018/01/0011, im Hinblick auf welche auch die Relevanz der in der Revison - nicht aber bereits im Wiedereinsetzungsantrag - ins Treffen geführten „namhaften Stimmen“ der Literatur in den Hintergrund tritt) sowie angesichts dessen, dass die Novelle BGBl. I Nr. 104/2018 keinerlei Anhaltspunkt dafür bietet, dass der Gesetzgeber die in der genannten Rechtsprechung vertretene - oben in Rn. 17 dargestellte - Auslegung dieser Bestimmung verwerfen wollte (und die Revision einen solchen Anhaltspunkt auch nicht aufzeigt), nicht erkennen.
21 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 28. Februar 2022
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022120014.L00Im RIS seit
28.03.2022Zuletzt aktualisiert am
21.04.2022