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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
VStG §45 Abs1 Z1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Dr. Köller und die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer-Kober und Mag. Schindler als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schörner, über die Revision der Landespolizeidirektion Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 13. Juli 2020, VGW-031/053/6936/2019-6, betreffend Übertretung der StVO (mitbeteiligte Partei: S in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 19. März 2019 wurde die mitbeteiligte Partei einer Übertretung der StVO schuldig erkannt. Der mitbeteiligten Partei wurde vorgeworfen, trotz Rotlichtes der Verkehrssignalanlage nicht an der Haltelinie angehalten zu haben, sondern weitergefahren zu sein. Dadurch sei § 38 Abs. 5 StVO in Verbindung mit § 38 Abs. 1 lit. a StVO verletzt worden. Gemäß § 99 Abs. 3 lit. a StVO wurde eine Geldstrafe von insgesamt € 140,-- (Ersatzfreiheitstrafe: 2 Tage und 16 Stunden) verhängt. Ferner wurde ein Kostenbeitrag von € 14,-- verhängt.
2 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis Folge, hob das Straferkenntnis auf, stellte das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG ein und erklärte die Revision für nicht zulässig.
3 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, die belangte Behörde verweise im Straferkenntnis auf die Feststellung der vorgeworfenen Übertretung mittels „Rotlichtkamera“. Wie Erhebungen des Verwaltungsgerichts ergeben hätten, würden weder die belangte Behörde noch die dafür in Frage kommenden Dienststellen des Magistrats der Stadt Wien über Unterlagen zur Funktionsweise der gegenständlichen „Rotlichtkamera“ verfügen. Dem Verwaltungsgericht fehle es daher an der Möglichkeit, Fragen im Zusammenhang mit der Feststellung des Überfahrens eines Rotlichtzeichens selbst zu klären oder an die technische Sachverständige zu richten. Dass derartige Unterlagen allenfalls bei den Erzeugerfirmen erworben werden könnten, sei nicht von Belang, da aus den Verwaltungsvorschriften nicht die Aufgabe des Verwaltungsgerichtes abgeleitet werden könne, Beweismittel oder Hilfestellung zur Verwertung von Beweismitteln von Privaten zu erwerben. Da somit die Durchführung eines mangelfreien Beweisverfahrens nicht möglich gewesen sei, sei das Straferkenntnis wegen fehlender Erweisbarkeit der vorgeworfenen Übertretung aufzuheben und das Verfahren einzustellen gewesen.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die zur Zulässigkeit zusammengefasst vorbringt, das Verwaltungsgericht hätte entsprechend näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergänzende Ermittlungen entweder selbst vornehmen oder der Behörde entsprechende Aufträge erteilen müssen, anstatt das Verfahren wegen fehlender Erweisbarkeit der vorgeworfenen Übertretung einzustellen.
5 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
6 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
7 Eine Einstellung des Verfahrens nach § 45 Abs. 1 Z 1 VStG kommt nur dann in Frage, wenn die Beweise für einen Schuldspruch nicht ausreichen.
8 Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gelten im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen - unabhängig von Parteivorbringen und -anträgen - der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist (vgl. VwGH 25.5.2021, Ra 2021/02/0055, mwN).
9 Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zugrunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können; die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht ihrer aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst - soweit das möglich ist - für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl. VwGH 18.6.2021, Ra 2021/02/0057, mwN).
10 Dem vorliegenden Verwaltungsakt lässt sich lediglich entnehmen, dass die Magistratsabteilung 46 mit Schreiben des Verwaltungsgerichts vom 11. März 2020 aufgefordert wurde, eine Stellungnahme zum Beschwerdevorbringen der mitbeteiligten Partei abzugeben. In der Folge teilte die Magistratsabteilung 46 mit, dass nicht sie selbst, sondern die Magistratsabteilung 33 die zuständige Stelle für Verkehrslichtsignalanlagen sei.
11 Dass das Verwaltungsgericht weitere Erhebungen bei der zuständigen Magistratsabteilung vorgenommen oder um die Übermittlung von Unterlagen zur Funktionsweise der Rotlichtüberwachungskamera angesucht hätte, lässt sich dem vorliegenden Verwaltungsakt nicht entnehmen.
12 Es wurde vom Verwaltungsgericht zudem nicht nachvollziehbar begründet, weshalb es ihm nicht möglich gewesen sei, Fragen zur Funktionsweise der Rotlichtüberwachungskamera an einen verkehrstechnischen Sachverständigen zu stellen.
13 Vor diesem Hintergrund ist das Verwaltungsgericht seiner amtswegigen Ermittlungsplicht daher nicht in gesetzmäßiger Weise nachgekommen.
14 Indem das Verwaltungsgericht verkannt hat, dass es von Amts wegen alle allenfalls sachdienlichen Beweise zu erheben hat, hat es sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhalts belastet. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 4. März 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020020213.L00Im RIS seit
28.03.2022Zuletzt aktualisiert am
28.03.2022