Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. F*, und 2. H*, beide vertreten durch Dr. Edgar Veith, Rechtsanwalt in Götzis, gegen die beklagte Partei E*, vertreten durch Dr. Hanno Lecher, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen jeweils 12.500 EUR sA, über den Revisionsrekurs der klagenden Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 16. September 2021, GZ 2 R 228/21a-14, mit welchem der Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom 11. Mai 2021, GZ 7 C 339/20v-10, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Einrede der rechtskräftig entschiedenen Streitsache verworfen wird.
Dem Erstgericht wird die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Klage unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die beklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien je zur Hälfte die mit 3.321,73 EUR (darin enthalten 553,62 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die Streitteile sind die (pflichtteilsberechtigten) Kinder der 2017 verstorbenen Erblasserin, die der Beklagten im Jahr 2007 eine Liegenschaft geschenkt und sich dabei ein Wohnungsgebrauchsrecht einräumen hatte lassen.
[2] Im ersten Vorprozess begehrten die Kläger von der Beklagten die Zahlung von jeweils 35.000 EUR sA als Pflichtteilsanspruch. Sie brachten vor, dass die Liegenschaft im Schenkungszeitpunkt einen Wert von 518.000 EUR gehabt habe, sodass sich ein Pflichtteilsanspruch von jeweils 86.333,33 EUR errechne, wovon die Kläger einen Teilbetrag geltend machten. In diesem Verfahren erging ein in Rechtskraft erwachsenes Versäumungsurteil.
[3] Im zweiten Vorprozess begehrten die Kläger ursprünglich unter Wiederholung ihres Vorbringens aus dem ersten Vorprozess die Zahlung eines weiteren Teilbetrags von jeweils 30.000 EUR auf den noch offenen Anspruch von 51.333,33 EUR (= 86.333,33 – 35.000). Nachdem die Beklagte unter anderem eingewendet hatte, dass das der Erblasserin eingeräumte Wohnungsgebrauchsrecht und die Rückzahlung eines offenen Wohnbaudarlehens von 4.791,02 EUR durch die Beklagte bei der Berechnung des Pflichtteilsanspruchs zu berücksichtigen seien, und das Erstgericht ein Sachverständigengutachten zum Wert der Liegenschaft eingeholt hatte, nahmen die Kläger eine Klagseinschränkung vor. Sie begehrten zuletzt die Zahlung von jeweils 11.644 EUR sA mit dem Vorbringen, dass die Liegenschaft im Schenkungszeitpunkt nach Abzug des Wohnungsgebrauchsrechts (im Wert von 75.000 EUR) 234.000 EUR Wert gewesen sei, was aufgewertet auf den Todeszeitpunkt der Erblasserin 279.864 EUR ergebe. Auf den sich daraus ergebenden Pflichtteilsanspruch jedes Klägers von 46.644 EUR habe die Beklagte je 35.000 EUR bereits gezahlt.
[4] Die Kläger ließen eine Abweisung des Klagebegehrens im Umfang von je 970,29 EUR sA durch das Erstgericht unbekämpft, weil sie den von diesem vorgenommenen Abzug des von der Beklagten gezahlten Darlehens vom Wert der Liegenschaft hinnahmen. Im Übrigen gab das (auch) von den Klägern angerufene Berufungsgericht deren Berufung Folge und sprach den Klägern je 10.673,71 EUR sA zu. Es erwog, dass bei allseitiger rechtlicher Beurteilung unter Hinweis auf die Entscheidung 2 Ob 64/19d das der Erblasserin eingeräumte Wohnungsgebrauchsrecht nicht wertmindernd zu berücksichtigen sei. Die Kläger, die sich einen Abzug von 75.000 EUR für das Wohnungsgebrauchsrecht gefallen ließen, hätten rein rechnerisch einen den eingeklagten Betrag deutlich übersteigenden Pflichtteilsanspruch.
[5] Im vorliegenden Verfahren begehren die Kläger die Zahlung von jeweils 12.500 EUR (= 1/6 von 75.000 EUR) als weiteren Pflichtteil. Da sie bei der Berechnung ihrer Ansprüche bisher stets das Wohnungsgebrauchsrecht als wertmindernd berücksichtigt hätten, dies aber nach der Entscheidung 2 Ob 64/19d gar nicht geboten sei, forderten die Kläger unter Verweis auf diese Judikatur weitere je 12.500 EUR. Die Rechtsprechung habe sich erst nach Schluss der Verhandlung im zweiten Vorprozess geändert. Der das Wohnungsgebrauchsrecht betreffende Betrag sei gar nicht Gegenstand des zweiten Vorprozesses gewesen.
[6] Die Beklagte erhebt die Einrede der rechtskräftig entschiedenen Sache. Wenn die Kläger im zweiten Vorprozess aufgrund eines unrichtigen Rechtsstandpunkts zu wenig an Pflichtteilsansprüchen geltend gemacht hätten, rechtfertige dies keine neue Klage.
[7] Die Vorinstanzen wiesen die Klage wegen entschiedener Rechtssache zurück, weil der Wert des Wohnungsgebrauchsrechts von den Klägern im zweiten Vorprozess ausdrücklich abgezogen worden und daher von der Rechtskraftwirkung umfasst sei. Aufgrund der in Rechtskraft erwachsenen Abweisung eines Mehrbegehrens im zweiten Vorprozess sei über die Pflichtteilsansprüche der Kläger abschließend entschieden worden.
[8] Das Rekursgericht sprach nachträglich aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil der Frage, ob über die Pflichtteilsansprüche der Kläger durch die Abweisung eines Teilbegehrens im zweiten Vorprozess auch im Hinblick auf den für das Wohnungsgebrauchsrecht in Abzug gebrachten Barwert abschließend entschieden worden sei, über den Einzelfall hinaus Bedeutung zukomme.
[9] Mit ihrem Revisionsrekurs streben die Kläger erkennbar die Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Rekursgerichts im Sinn der Verwerfung der erhobenen Prozesseinrede an.
[10] Die Beklagte beantragt in der Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt, weil das Rekursgericht zu Unrecht das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Streitsache angenommen hat.
[12] Die Kläger argumentieren, dass schon deswegen keine Anspruchsidentität vorliege, weil das Wohnungsgebrauchsrecht stets in Abzug gebracht und daher noch nie gerichtlich geltend gemacht worden sei. Das Einklagen nur eines Teils der Forderung hindere nicht die Geltendmachung weiterer Beträge. Die Einmaligkeitswirkung könne nur den eingeklagten Betrag erfassen.
Dazu hat der erkennende Senat erwogen:
[13] 1. Die Einmaligkeitswirkung der Rechtskraft erfasst nur den eingeklagten Betrag (RS0041266). Wird daher nur ein Teil einer Forderung eingeklagt, so tritt Streitanhängigkeit und Rechtskraftwirkung auch nur bezüglich des eingeklagten Teils ein, in Ansehung des weiteren Restanspruchs kann das Urteil keine Rechtskraft erzeugen (RS0039155). Dass das Einklagen (nur) eines Teils einer Forderung aus prozessualer Sicht nicht die Geltendmachung weiterer Beträge hindert, gilt auch dann, wenn die erste Klage nicht ausdrücklich als Teilklage bezeichnet wurde (RS0041449). Einer weiteren Klage kann die Rechtskraft einer Vorentscheidung aber dann entgegenstehen, wenn über einen Anspruch bereits abschließend entschieden wurde. Eine solche abschließende Regelung müsste sich aber aus der Entscheidung selbst ergeben, beispielsweise aus der Abweisung eines Mehrbegehrens oder aus der urteilsmäßigen Feststellung des Nichtbestehens einer (weiteren) Forderung (RS0007165 [T2 und T3]; 7 Ob 53/20z Punkt 1.2.).
[14] 2. Im ersten Vorprozess lag eine offene Teileinklagung vor, die die Geltendmachung weiterer Beträge nicht hindert.
[15] 3. Aber auch im zweiten Vorprozess erfolgte keine abschließende Erledigung des Pflichtteilsanspruchs in dem Sinn, dass die Gerichte über die Frage, ob das der Erblasserin eingeräumte Wohnungsgebrauchsrecht bei Berechnung der Pflichtteilsansprüche zu berücksichtigen ist oder nicht, als Hauptfrage abgesprochen hätten. Vielmehr betonen die Kläger zutreffend, dass diese Frage aufgrund des von ihnen schon bei Berechnung ihres Begehrens vorgenommenen Abzugs für das Wohnungsgebrauchsrecht gerade nicht Gegenstand der Entscheidung im zweiten Vorprozess war. Die Abweisung eines geringfügigen Mehrbegehrens im zweiten Vorprozess betraf lediglich die Frage der Berücksichtigung einer von der Beklagten zurückgezahlten Darlehensforderung und kann daher die nunmehr erfolgte Einklagung der restlichen Pflichtteilsansprüche nicht hindern.
[16] 4. Zu Fragen der Rechtskraft im Zusammenhang mit einem Pflichtteilsanspruch hat der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 3 Ob 315/05b – obiter – Stellung genommen. Er hatte einen Sachverhalt zu beurteilen, in dem die dortige Klägerin im Vorprozess 363.057,61 EUR als Pflichtteil forderte (und zugesprochen erhielt), wobei sie in ihrer Berechnung den Wert einer verlasszugehörigen Liegenschaft mit 555.000 EUR ansetzte. Im Folgeprozess begehrte die dortige Klägerin einen weiteren Pflichtteilsanspruch von 177.500 EUR, weil der Verkehrswert der Liegenschaft „in Wahrheit schon immer“ 910.000 EUR betragen habe. Der Oberste Gerichtshof ging bei dieser Sachlage davon aus, dass die Klägerin im Folgeprozess im Ergebnis (nur) einen weiteren Teil ihres nach ihrer Auffassung schon damals bestehenden Anspruchs eingeklagt habe und dem das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Sache nicht entgegen stehe.
[17] Ähnlich betonte der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach in Unterhaltsverfahren, dass es an einer Identität der Streitgegenstände fehle, wenn der Unterhaltsberechtigte in einem Folgeverfahren für bereits im Vorprozess gegenständliche Zeiträume höhere Unterhaltsleistungen mit der Behauptung begehre, die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners sei höher als ursprünglich angenommen, werde doch in einem solchen Fall ein Anspruch geltend gemacht, der im Vorverfahren noch nicht Verfahrensgegenstand gewesen sei (2 Ob 90/09p Punkt 2. mwN; 4 Ob 565/91 [Antragsteller erhöhen trotz für sie günstigen Sachverständigengutachtens zum Einkommen des Vaters im Vorverfahren ihr Begehren nicht, sondern stellen auf Basis des Gutachtens einen neuen Antrag im Folgeverfahren mit höherem Begehren]).
[18] In der Entscheidung 9 ObA 156/05i verneinte der Oberste Gerichtshof das Prozesshindernis der Rechtskraft in einem Fall, in dem der Kläger im Vorprozess sein Zahlungsbegehren durch eine (sogar in das Klagebegehren aufgenommene) Rechenoperation (Abzug einer erhaltenen Zahlung) ermittelt hatte und sein Begehren im Folgeprozess darauf stütze, dass er sich im Vorprozess „zu viel“ abgezogen habe. Der Oberste Gerichtshof betonte, dass in diesem Fall über die nunmehr eingeklagte Forderung im Vorprozess nicht entschieden worden sei.
[19] Diese Erwägungen lassen sich ohne Weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen. Da die Kläger im zweiten Vorprozess den von ihnen angenommenen Wert des Wohnungsgebrauchsrecht vom von ihnen (zuletzt) eingeklagten Betrag abzogen, konnte im zweiten Vorprozess keine Entscheidung über jenen Teil des Pflichtteilsanspruchs ergehen, der betragsmäßig einem Anteil am Wert des Wohnungsgebrauchsrechts entspricht.
[20] 5. Soweit die Beklagte darauf verweist, dass die Kläger bei Schluss der Verhandlung im Vorprozess bereits existente Tatsachen nicht zur Begründung einer neuerlichen Klage heranziehen könnten, übersieht sie, dass diese Präklusionswirkung der Rechtskraft auf den konkreten, im Vorprozess geltend gemachten Anspruch beschränkt bleibt (Klicka in Fasching/Konecny3 III/2 § 411 ZPO Rz 88 mwN).
[21] 6. Wenn die Beklagte anmerkt, dass eine Änderung der Rechtsprechung keinen Eingriff in die materielle Rechtskraft einer Entscheidung rechtfertige, ist ihr zu erwidern, dass eine solche Änderung der Rechtsprechung im vorliegenden Fall gar nicht zu beurteilen ist. Der erkennende Fachsenat schrieb nämlich in der Entscheidung 2 Ob 64/19d die zum alten Erbrecht gefestigte Rechtsprechung, wonach der Wert eines dem Erblasser bei der Übergabe einer Liegenschaft vorbehaltenen lebenslangen persönlichen Nutzungsrechts für die Bemessung des Pflichtteils außer Ansatz zu lassen ist, nach Auseinandersetzung mit kontroversen Lehrmeinungen für die Rechtslage nach dem ErbRÄG 2015 fort.
[22] 7. Die Entscheidung des Rekursgerichts ist somit dahin abzuändern, dass die Einrede der rechtskräftig entschiedenen Streitsache verworfen und dem Erstgericht die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Klage unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen wird.
[23] 8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 50 ZPO iVm §§ 52 Abs 1 und 41 ZPO. Die Beklagte ist im Zwischenstreit über die Zulässigkeit der Klage unterlegen; sie hat den Klägern daher die Kosten dieses Zwischenstreits zu ersetzen, wobei die Kläger nur im Rechtsmittelverfahren Kosten verzeichneten. Die im Rekursverfahren verzeichnete Pauschalgebühr war nicht zu entrichten (Anm 1 und 1a zu TP 2 GGG; 2 Ob 64/20f Rz 22). Für den Rekurs gebührt nur ein ERV-Zuschlag von 2,10 EUR (RS0126594).
Textnummer
E134241European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00233.21K.0127.000Im RIS seit
29.03.2022Zuletzt aktualisiert am
29.03.2022