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19/05 MenschenrechteNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. September 2020, W152 1267811-2/13E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: U S inH), zu Recht erkannt:
Spruch
Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich der Spruchpunkte A) II. bis IV., wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger der Mongolei, stellte am 23. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er im Wesentlichen damit begründete, im Zusammengang mit Korruptionsvorwürfen gegen den Bürgermeister seines Ortes von diesem unter Druck gesetzt worden zu sein.
2 Mit Bescheid vom 19. Juli 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der nunmehrige Amtsrevisionswerber, diesen Antrag vollinhaltlich ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung des Mitbeteiligten in die Mongolei fest (Spruchpunkt III.) und erkannte der Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt IV.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen vom Mitbeteiligten erhobene Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.), erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.), erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.) und behob Spruchpunkt III. des Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A) IV.). Weiters sprach es aus, dass die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B)).
4 Begründend stellte es fest, dass dem Mitbeteiligten von dessen Onkel die Geschäftsführung eines diesem gehörenden Unternehmens übertragen worden sei. Dieses Unternehmen habe über die erforderlichen Sondergenehmigungen für die Verlegung von Stromleitungen verfügt und eine Ausschreibung über den Austausch von Strommasten gewonnen. Allerdings habe der Mitbeteiligte die vom Bürgermeister geforderte „Schmiergeldzahlung“ nicht geleistet. Nach Fertigstellung der Arbeiten sei die Auftragssumme nicht beglichen worden. Der Bürgermeister habe auf Basis eines gefälschten Dokuments, das die Zahlung belegen sollte, den Mitbeteiligten der Veruntreuung bezichtigt. Der Mitbeteiligte sei in diesem Zusammenhang mehrmals von im Einflussbereich des Bürgermeisters stehenden Organen der mongolischen Polizei, die weiterhin gegen den Mitbeteiligten ermittle und nunmehr auch nach ihm fahnde, einvernommen worden, wobei der Mitbeteiligte dabei ebenfalls der Veruntreuung beschuldigt und im Rahmen der Einvernahme auch misshandelt worden sei. Der Bürgermeister habe auch seine Verwandtschaft gegen den Mitbeteiligten aufgebracht und sich in weiterer Folge einer Gruppe von Personen, die ihm nahegestanden seien, - einer Art persönlicher „Schutztruppe“ - bedient, die den Mitbeteiligten mehrmals misshandelt hätten, um ihn zu einem - falschen - Geständnis zu bewegen, dass er Geld veruntreut habe. Als der Mitbeteiligte den auf ihn ausgeübten Druck nicht mehr ausgehalten habe, sei er schließlich aus der Mongolei ausgereist.
5 Im Rahmen der Beweiswürdigung hob das BVwG u.a. seine auf Grund von Länderberichten getroffenen Feststellungen hervor, wonach Sicherheitskräften in der Mongolei vorgeworfen werde, willkürlich Verhaftungen durchzuführen, angehaltene Personen für längere Zeit festzuhalten und Häftlinge zu schlagen, und Folter und andere Misshandlungen insbesondere zur Erzwingung von Geständnissen in Haftanstalten verbreitet seien. Seit Juli 2017, mit Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung, fehlten unabhängige Ermittlungsmechanismen, was zu einer unvollständigen Erfassung und einer Straflosigkeit von Folter führe. Rechtliche Rahmenbedingungen und Maßnahmen zur Verhinderung von Folter seien unzureichend. Korruption sei in der gesamten öffentlichen Verwaltung und Industrie weit verbreitet. Die Haftbedingungen in der Mongolei seien nach wie vor dürftig bis harsch, auch wenn es in den letzten Jahren Verbesserungen gegeben habe. Auch der Polizei werde vorgeworfen, willkürliche Verhaftungen durchzuführen.
6 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, dass die vom Mitbeteiligten relevierte Bedrohung auf keinem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe basiere. Insbesondere sei weder vorgebracht worden noch evident, dass die Unterlassung der geforderten Schmiergeldzahlung aus Gründen der politischen Gesinnung erfolgt sei. Dem Mitbeteiligten sei daher kein Asyl zu gewähren.
7 Hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wies das BVwG zunächst darauf hin, dass die Mongolei zwar als sicherer Herkunftsstaat (im Sinn des § 19 BFA-Verfahrensgesetz) gelte. Die Aufnahme eines Staates in die Liste sicherer Herkunftsstaaten führe jedoch nicht zu einer gesetzlichen Vermutung, die nicht - durch ein entsprechendes Vorbringen des Fremden - widerlegbar wäre. Im Hinblick auf das Vorbringen des Mitbeteiligten, das mit den Länderfeststellungen im Einklang stehe, reiche die Aufnahme der Mongolei in die Liste sicherer Herkunftsstaaten nicht aus, um die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im gegenständlichen Fall auszuschließen.
8 Aus dem festgestellten Sachverhalt folge rechtlich, dass dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sei: Dass der Mitbeteiligte einerseits durch den Bürgermeister mittels einer „Schutztruppe“ und andererseits auch durch im Einflussbereich des Bürgermeisters stehende Polizeiorgane permanentem Druck, der Drohung strafgerichtlicher Verfolgung und auch Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei, ließe ihn in der Mongolei im erheblichen Maß iSd Art. 3 EMRK - insbesondere im Hinblick auf eine unmenschliche Behandlung - gefährdet erscheinen. Da die drohende Gefahr auch von Organen des Staates ausgehe, könne auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Anwendung gelangen. Somit sei der Mitbeteiligte im Falle der Verbringung in die Mongolei der Verletzung des Art. 3 EMRK ausgesetzt.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision der belangten Behörde, die zu ihre Zulässigkeit unter anderem vorbringt, das BVwG sei in Abweichung von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes davon ausgegangen, dass eine seitens staatlicher Organe drohende Verletzung des Art. 3 EMRK eine innerstaatliche Fluchtalternative schon grundsätzlich ausschließe.
10 Nach Vorlage der Revision samt den Verfahrensakten durch das BVwG und Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof hat der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung eingebracht, in der er der Revision entgegen trat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
11 Die Revision ist aus dem von ihr dargestellten Grund zulässig und auch begründet.
12 Nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des subsidiär Schutzberechtigten unter anderem dann zuzuerkennen, wenn dieser Antrag in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, jedoch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde.
13 Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aber abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative nach § 11 AsylG 2005 offen steht. Nach dieser Bestimmung besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative, wenn einem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann. Schutz in diesem Sinn ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 3.7.2020, Ra 2020/14/0255, mwN).
15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung weiters dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. etwa VwGH 9.11.2021, Ra 2020/14/0450; 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, jeweils mwN).
16 Dass jedoch der Umstand, dass die zu erwartende Verletzung der von Art. 3 EMRK geschützten Rechte (auch) von staatlichen Organen des Herkunftsstaates ausgeht, schon grundsätzlich die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausschließen würde, ist weder der diesbezüglichen gesetzlichen Regelung noch der dazu ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu entnehmen. Vielmehr kann aus der bisherigen Judikatur abgeleitet werden, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative auch in solchen Konstellationen nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, sondern von den konkreten Umständen abhängt (vgl. etwa VwGH 29.4.2015, Ra 2014/20/0077: Feststellung erforderlich, ob der Revisionswerber von der Polizei in Mazar-e-Sharif nicht mehr verfolgt werde; VwGH 18.12.1996, 95/20/0611: Ausschluss der innerstaatlichen Fluchtalternative, wenn auf Grund eines aufrechten Haftbefehles territorial uneingeschränkter Zugriff der staatlichen Behörden auf den Beschwerdeführer zu befürchten wäre).
17 Nach den Feststellungen des BVwG geht die vom Mitbeteiligten staatlicherseits zu gewärtigende Verfolgung von einem Bürgermeister und in dessen Einflussbereich stehenden Polizeiorganen aus. Feststellungen, aus denen sich ergäbe, dass deren Einflussbereich das gesamte Staatsgebiet umfasste, sind nicht getroffen worden. Gerade im vorliegenden Fall einer Gefährdung (nur) durch lokale Behörden, die überdies auf privaten kriminellen Motiven beruht, bedürfte die Annahme, dem Mitbeteiligten drohte auch in anderen Landesteilen eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung (oder der Aufenthalt in den in Betracht kommenden anderen Teilen des Staatsgebietes könne dem Mitbeteiligten nicht zugemutet werden) aber einer konkreten Begründung auf der Grundlage ausreichender Feststellungen.
18 Das BVwG hat auf Basis seiner unzutreffenden Rechtsansicht, wonach eine Gefährdung durch staatliche Behörden schon per se die Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aus dem Grund des Offenstehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 8 Abs. 3 iVm § 11 AsylG 2005 ausschließt, diese Prüfung unterlassen und die dafür erforderlichen Feststellungen nicht getroffen.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
Wien, am 28. Februar 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020140469.L00Im RIS seit
25.03.2022Zuletzt aktualisiert am
11.04.2022