TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/2 Ra 2021/20/0156

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Veröffentlicht am 02.03.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
19/05 Menschenrechte
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ABGB §138
AVG §58
AVG §60
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z3
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
MRK Art8
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwRallg

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/20/0358
Ra 2021/20/0359
Ra 2021/20/0360
Ra 2021/20/0361

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie den Hofrat Dr. Eisner und die Hofrätin Mag. Bayer, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revisionen 1. des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2021, L515 2178038-1/17E (Zl. Ra 2021/20/0156), sowie 2. des V G, 3. der A B, 4. der K G, und 5. des K G, alle in W, alle vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 30. März 2021, L515 2178039-1/19E, L515 2178036-1/20E, L515 2178038-1/17E und L515 2178037-1/17E (Zlen. Ra 2021/20/0358 bis 0361), jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl; mitbeteiligte Partei zu Ra 2021/20/0156: K G),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revisionen der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien zu Ra 2021/20/0358 bis 0361 werden zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Das zu Ra 2021/20/0156 angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung, sohin im zweiten Spruchteil des Spruchpunkts 3.) A), mit dem die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die Viertrevisionswerberin bis zum 31. Juli 2023 für vorübergehend unzulässig erklärt wurde, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Die zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige von Armenien. Der Zweitrevisionswerber ist der Ehemann der Drittrevisionswerberin. Die volljährige Viertrevisionswerberin und der minderjährige Fünftrevisionswerber sind ihre gemeinsamen Kinder.

2        Die zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien stellten in den Jahren 2015 (Zweitrevisionswerber und Drittrevisionswerberin) sowie 2016 (Viertrevisionswerberin und Fünftrevisionswerber) Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

3        Mit den Bescheiden je vom 2. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge ab (jeweils Spruchpunkt I. und II.), erteilte den zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte jeweils fest, dass die Abschiebung nach Armenien zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (jeweils Spruchpunkt III.).

4        Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden, mit Ausnahme jener der Viertrevisionswerberin, wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit den Erkenntnissen je vom 30. März 2021 zur Gänze als unbegründet ab. Der Beschwerde der Viertrevisionswerberin gab das Bundesverwaltungsgericht insoweit statt, als es im zweiten Absatz des Spruchpunktes 3.) A) des Erkenntnisses „in Erledigung der Beschwerde in Bezug auf Spruchpunkt III“ (des angefochtenen Bescheides betreffend die Viertrevisionswerberin) aussprach, „dass die Rückkehrentscheidung bis zum 31.7.2023 vorübergehend unzulässig“ sei.

5        Die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht jeweils für nicht zulässig.

6        Gegen diese Erkenntnisse erhoben die zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 22. Juni 2021, E 1916-1919/2021-9, deren Behandlung ablehnte und sie mit Beschluss vom 21. Juli 2021, E 1916-1919/2021-12, über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

7        In der Folge wurden die vorliegenden Revisionen der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien eingebracht.

8        Gegen das die Viertrevisionswerberin betreffende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2021, L515 2178038-1/17E, hat im Umfang des Spruchpunkts 3.) A), „soweit darin ausgesprochen wird, dass die Rückkehrentscheidung bis zum 31.07.2012 vorübergehend unzulässig sei“ das BFA Revision erhoben.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revisionen und der Verfahrensakten das Vorverfahren hinsichtlich der Revision des BFA eingeleitet sowie die Verfahren wegen ihres persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung verbunden. Die Viertrevisionswerberin hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zu I:

11       Die Revisionen der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien (protokolliert zu Ra 2021/20/0358 bis 0361) erweisen sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als nicht zulässig.

12       Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

13       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

14       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

15       Zur Begründung der Zulässigkeit ihrer Revisionen bringen die zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien vor, das Bundesverwaltungsgericht habe es unterlassen, der angefochtenen Entscheidung aktuelle Länderberichte zu Grunde zu legen, sich mit der medizinischen Versorgung, den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie und der Situation von Kindern in Armenien auseinanderzusetzen. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich zudem nicht ausreichend mit dem Kindeswohl befasst und eine unvertretbare Interessenabwägung nach § 9 Abs. 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) durchgeführt. Ferner entsprächen die Begründung und der Aufbau des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts nicht den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Kriterien zur Begründungspflicht verwaltungsgerichtlicher Erkenntnisse.

16       Werden Verfahrensmängel - wie hier Ermittlungs- und Begründungsmängel - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision - zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensmangels als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. etwa VwGH 4.8.2021, Ra 2021/20/0180, mwN).

17       Es gelingt den zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien nicht, die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensmängel aufzuzeigen. Ihren Ausführungen ist nicht konkret zu entnehmen, welche weiteren Ermittlungsschritte vorzunehmen und welche (aktuelleren) Berichte zusätzlich einzubeziehen gewesen wären. Sie lassen auch nicht erkennen, welche Tatsachen bei Vermeidung der geltend gemachten Verfahrensmängel festzustellen gewesen wären und inwiefern angesichts derartiger Tatsachen eine Verletzung der den zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien durch Art. 2 und Art. 3 EMRK garantierten Rechte zu gewärtigen wäre (vgl. zum diesbezüglich anzulegenden Maßstab VwGH 23.9.2020, Ra 2020/01/0146, unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili gegen Belgien, 41738/10).

18       Soweit sich die zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen wenden, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. VwGH 8.9.2021, Ra 2021/20/0251, mwN).

19       Das Bundesverwaltungsgericht kam nach Durchführung einer Verhandlung zum Ergebnis, dass in den vorliegenden Fällen die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien am Verbleib im Bundesgebiet überwögen. Bei der Gesamtbetrachtung berücksichtigte das Bundesverwaltungsgericht alle entscheidungswesentlichen Umstände und nahm sowohl auf das Kindeswohl als auch die in der Revision vorgebrachten Aspekte Bedacht.

20       Zudem ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach im Rahmen der nach § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung den Kriterien des § 138 ABGB lediglich die Funktion eines „Orientierungsmaßstabs“ zukommt. Die Berücksichtigung des Kindeswohls stellt im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. VwGH 8.9.2021, Ra 2021/20/0166 bis 0170, mwN).

21       Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Beurteilung die fallbezogen relevanten Umstände näher beleuchtet und die Situation des minderjährigen Fünftrevisionswerbers ausreichend berücksichtigt. Das Bundesverwaltungsgericht führte dazu aus, dass im Hinblick auf die Verweildauer im Bundesgebiet, die bereits begonnene Sozialisierung in Armenien, das noch relativ geringe Alter des Fünftrevisionswerbers und dessen Möglichkeit, die Pflichtschule in Armenien fortzusetzen und zu beenden sowie im Anschluss daran eine weitere Ausbildung abzuschließen, davon auszugehen sei, dass ein Wechsel vom österreichischen ins armenische Bildungssystem keinen unzulässigen Eingriff in das Privatleben im Sinn des Art. 8 EMRK - auch aus dem Blickwinkel des Kindeswohls - darstelle. Ferner habe der minderjährige Fünftrevisionswerber Kultur und Sprache seines Herkunftslandes - über den Zeitpunkt der Ausreise hinaus - von seinen Eltern vermittelt bekommen und befände sich in einem Alter erhöhter Anpassungsfähigkeit. Die Revisionen treten diesen Annahmen nicht konkret entgegen und zeigen nicht auf, dass das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Interessenabwägung in unvertretbarer Art und Weise von den Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen wäre.

22       In den Revisionen der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Diese Revisionen waren daher - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Zu II:

23       Die - zu Ra 2021/20/0156 protokollierte - Revision des BFA zeigt hingegen auf, dass das Bundesverwaltungsgericht mit der von ihm der Anfechtung unterzogenen Entscheidung in maßgeblicher Weise von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - wie unten dargestellt - abgewichen ist. Sie ist daher zulässig und auch begründet.

24       Voranzustellen ist, dass die in der Revision des BFA angesprochene Frage, ob das Interesse der im Revisionsverfahren zu Ra 2021/20/0156 (im Folgenden weiterhin auch als viertrevisionswerbende Partei bezeichneten) mitbeteiligten Partei, ihre Ausbildung in Österreich abzuschließen, eine Verlängerung der ihr nach § 55 Abs. 2 und 3 FPG einzuräumenden Frist gerechtfertigt hätte, nicht Gegenstand des von der Amtsrevision angefochtenen Spruchpunktes und daher auch nicht des Revisionsverfahrens ist, sodass auf dieses Vorbringen hier nicht weiter einzugehen ist.

25       Soweit für die hier betreffend die Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG zu beurteilende Frage von Bedeutung, lässt sich dem angefochtenen Erkenntnis das Folgende entnehmen:

26       Im Erkenntnis nimmt das Bundesverwaltungsgericht eine Schilderung des Verfahrensgangs vor, in der es Auszüge aus den Niederschriften über die Einvernahme der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien durch das BFA wörtlich zitiert und deren schriftliches Vorbringen zusammenfasst.

27       In dem mit „Feststellungen“ überschriebenen Abschnitt des Erkenntnisses finden sich zur persönlichen Situation der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien zunächst allgemeine Feststellungen, insbesondere zu deren Familienstand, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Gesundheitszustand, zu für die Frage der Selbstversorgungsfähigkeit relevanten Tatsachen, zum Vorhandensein und zur kulturellen Bedeutung bestehender familiärer Bindungen im Herkunftsstaat, zum Fehlen familiärer oder anderer enger Bindungen in Österreich, zur Dauer und Art des Aufenthalts in Österreich, zur Art der Bestreitung des Lebensunterhalts in Österreich, zur strafrechtlichen Unbescholtenheit, zu Aspekten einer Teilnahme am Erwerbsleben und zur Existenz von Freundschaften und Bekanntschaften in Österreich sowie zu den Deutschkenntnissen.

28       Daran schließen zum hier interessierenden Thema der Schuldbildung der im Verfahren über die Amtsrevision mitbeteiligten Partei die folgenden Ausführungen (Schreibfehler im Original):

„Die [viertrevisionswerbende Partei] war zum Zeitpunkt der Einreise nach Österreich noch minderjährig, hat Zwischenzeitig die Volljährigkeit erreicht und besucht ein BORG [...].

Im Übrigen wird auf den objektiven Aussagekern der von den [revisionswerbenden Parteien] beschriebenen bzw. bescheinigten, nicht widerlegten und zusammengefasst wiedergegebenen privaten und familiären Bindungen in Österreich verweisen.“

29       In rechtlicher Hinsicht nahm das Bundesverwaltungsgericht eine Abwägung der privaten Interessen der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien mit den öffentlichen Interessen vor, bei der es unter anderem die Art und Dauer des Aufenthalts in Österreich, die privaten Bindungen, den Grad der Integration sowie Bindungen zum Herkunftsland berücksichtigte.

30       Im Rahmen seiner Ausführungen zur Interessenabwägung führte das Bundesverwaltungsgericht auch Überlegungen zu dem Umstand an, dass die Entscheidung, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen gegenüber den zweit-, dritt- und fünftrevisionswerbenden Parteien (sohin Vater, Mutter und minderjährigem Sohn) zu bestätigen, diese aber gegenüber der viertrevisionswerbenden Partei (der im Entscheidungszeitpunkt 18-jährigen Tochter) für bis zum 31. Juli 2023 vorübergehend unzulässig zu erklären, dazu führe, dass Letztere von ihren Eltern und ihrem Bruder während dieses Zeitraums getrennt werde. Das Bundesverwaltungsgericht hielt dazu fest, dass die Trennung nur vorübergehend sei, es sich bei der viertrevisionswerbenden Partei um eine volljährige Frau handle, „kein qualifiziertes Abhängigkeitsverhältnis zwischen [ihr] und den weiteren Familienmitgliedern“ vorliege, und die revisionswerbenden Parteien im genannten Zeitraum „dennoch brieflich, telefonisch oder elektronisch“ in Kontakt bleiben könnten. Aus diesen Gründen sei die vorübergehende Trennung „zumutbar“. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass es „aufgrund der Vielzahl der Unterstützer“ der revisionswerbenden Parteien „während des überschaubaren Zeitraums der Trennung“ zu keiner der viertrevisionswerbenden Partei „unzumutbaren Beeinträchtigung ihrer Lebensführung“ kommen werde.

31       Den die viertrevisionswerbende Partei betreffenden Ausspruch, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorübergehend unzulässig sei, begründete das Bundesverwaltungsgericht in rechtlicher Hinsicht wie folgt:

„Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG liegen beträchtliche öffentliche Interessen an einer Beendigung des Aufenthaltes der [viertrevisionswerbenden Partei] im Bundesgebiet vor, umgekehrt ist in Bezug auf die [viertrevisionswerbende Partei] festzustellen, dass eine sofortige Abschiebung, welche sie an der Beendigung ihrer fortgeschrittenen und aufgrund ihrer Lebensumstände, insbesondere ihres Alters maßgeblich wahrscheinlich in Armenien nicht oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand nachholbaren schulischen Ausbildung hindert, für sie besonders qualifizierte Folgen nach sich ziehen würde.

Es wird letztlich iSd bereits beschriebenen Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens seitens des erkennenden Richters davon ausgegangen, dass erhebliche öffentliche Interessen an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bestehen, im Zweifel jedoch in diesem speziellen und nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelfall für die [viertrevisionswerbende Partei] jedoch davon ausgegangen wird, dass kein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Umsetzung solcher Maßnahmen noch vor dem 31.7.2023 und somit vor dem Zeitpunkt, an dem davon auszugehen ist, dass die [viertrevisionswerbende Partei] ihre schulische Ausbildung beendete und ihr ausreichend Zeit eingeräumt wird, ihrer Rückreise nach Armenien vorzubereiten, besteht.

In Bezug auf die [viertrevisionswerbende Partei] ist somit davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidung vorübergehend bis zum 31.7.2023 nicht zulässig ist.

Da das genannte Ausreisehindernis aus gegenwärtiger Sicht nicht auf Dauer, sondern nur vorübergehend anzunehmen ist, war die Rückkehrentscheidung nicht auf Dauer, sondern lediglich vorübergehend als unzulässig zu qualifizieren.

Absch[l]ießend wird darauf hingewiesen, dass sich aus dem Akt ergibt, dass die [viertrevisionswerbende Partei] im Bundesgebiet über eine Mehrzahl von unterstützungswilligen Anschlusspersonen verfügt, sodass die hier vorgenommene Differenzierung zwischen den [revisionswerbenden Parteien] in Bezug auf die Rückkehrentscheidung und den sich daraus ergebenden Zeitpunkt der Ausreise für die [revisionswerbenden Parteien], insbesondere für die [viertrevisionswerbende Partei] zu keinem unverhältnismäßigen Nachteil führt.

Dass der volljährigen [viertrevisionswerbenden Partei] aus dem Lichte des Art. 8 EMRK eine vorübergehende Trennung von den weiteren [revisionswerbenden Parteien] zumutbar ist, wurde bereits festgestellt.“

32       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2020/20/0066 bis 0070, mwN).

33       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. VwGH 10.7.2019, Ra 2019/14/0288; 24.9.2019, Ra 2019/20/0274, jeweils mwN).

34       Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 5.7.2019, Ra 2019/01/0227, 0228, mwN).

35       Ein solcher Fall liegt hier vor.

36       § 9 Abs. 3 BFA-VG lautet:

„(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat-und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat-und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.“

37       Der Besuch einer Bildungseinrichtung in Österreich kann als Aspekt des Privatlebens im Sinn von Art. 8 EMRK zu jenen Umständen zählen, die bei der Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht unverhältnismäßig ist, zu berücksichtigen sind (vgl. zum Schulbesuch als Indiz der Integration in Österreich etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0224). Die vom BFA gegen die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts ins Treffen geführte Rechtsprechung (VwGH 4.10.2018, Ra 2018/22/0126; ähnlich auch VwGH 13.12.2011, 2010/22/0179; 11.6.2014, 2012/22/0034; 10.5.2016, Ra 2015/22/0158) steht dem nicht entgegen, zumal die in der Revision des BFA daraus hervorgehobene Aussage, dass „dem Interesse eines Fremden an der Fortsetzung seiner Ausbildung für sich genommen keine entscheidungserhebliche Bedeutung“ zukomme, auf die dem jeweiligen Revisionsfall zugrunde liegende individuelle Interessenabwägung bezogen war, jedoch eine Berücksichtigung des Interesses an der Fortsetzung einer Ausbildung in Österreich im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK nicht gänzlich ausschließt (zur Berücksichtigung einer Schulausbildung als Teilaspekt schutzwürdigen Privatlebens in Österreich vgl. VwGH 29.4.2010, 2009/21/0055 bis 0057; 22.2.2011, 2011/18/0013; 25.7.2019, Ra 2018/22/0219).

38       Zu beachten ist indes, dass der allfällige Umstand, dass Bildungsmöglichkeiten in Österreich mit jenen im Herkunftsland nicht gleichwertig sind, bei der Abwägung nach Art. 8 EMRK nicht entscheidend ist (vgl. so auch EGMR 27.2.2014, S.J. gegen Belgien, Beschw.Nr. 70.055/10, Rz. 134 und 142).

39       Das Bundesverwaltungsgericht ist im angefochtenen Erkenntnis zwar davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts (auch) der viertrevisionswerbenden Partei deren persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet „deutlich überwiegt“. Jedoch vertrat es im Hinblick auf den für den Abschluss des derzeitigen Schulbesuchs der viertrevisionswerbenden Partei von ihm veranschlagten Zeitraum („bis zum 31.7.2023“) die Auffassung, dass „eine sofortige Abschiebung, welche sie an der Beendigung ihrer fortgeschrittenen und aufgrund ihrer Lebensumstände, insbesondere ihres Alters maßgeblich wahrscheinlich in Armenien nicht oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand nachholbaren schulischen Ausbildung hindert“, in das der viertrevisionswerbenden Partei durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht unverhältnismäßig eingreife.

40       Diese Beurteilung erweist sich schon deswegen als rechtswidrig, weil es das Verwaltungsgericht verabsäumt hat, ihr ausreichende Feststellungen zugrunde zu legen. Weder zur Art der Schulausbildung in Österreich noch zu den näheren Umständen einer Fortsetzung im armenischen Schulsystem (oder zur Annahme, es wären bestimmte Bildungsinhalte „nachzuholen“) hat das Verwaltungsgericht Feststellungen getroffen. Die in diesem Zusammenhang vorhandenen Feststellungen erschöpfen sich in der Aussage, dass die viertrevisionswerbende Partei zum Zeitpunkt der Einreise nach Österreich noch minderjährig gewesen sei, zwischenzeitig die Volljährigkeit erreicht habe und „ein BORG“ besuche. Darüber hinaus begnügt sich das Verwaltungsgericht mit einem Verweis auf den „objektiven Aussagekern“ der im Verfahrensgang wiedergegebenen Auszüge aus Niederschriften und Parteivorbringen. Ein derartiger Verweis kann aber die erforderlichen Feststellungen nicht ersetzen (vgl. VwGH 19.2.2018, Ra 2017/12/0017; 5.9.2018, Ra 2018/12/0031; 16.12.2014, Ra 2014/19/0101).

41       Das mit der zu Ra 2021/20/0156 protokollierten Revision angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2021, L515 2178038-1/17E, war somit schon aus diesem Grund im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 2. März 2022

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021200156.L00

Im RIS seit

24.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

21.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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