Entscheidungsdatum
29.07.2021Index
10/11 Vereinsrecht VersammlungsrechtNorm
VersammlungsG 1953 §6 Abs1Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Verwaltungsgericht Wien hat durch den Richter Dr. Schmid über die Beschwerde der Frau Ing. A. B., vertreten durch Rechtsanwalt, gegen den Bescheid der Landespolizeidirektion Wien, Vereins-, Versammlungs-, Medienrechtsangelegenheiten, vom 29.01.2021, Zl. …, betreffend Untersagung einer Versammlung nach dem Versammlungsgesetz iVm der Europäische Menschenrechtskonvention, nach durchgeführter Verhandlung am 1.6.2021 durch Verkündung zu Recht e r k a n n t:
I. Gemäß § 28 Absatz 1 und 2 VwGVG wird der Beschwerde Folge gegeben und der angefochtene Bescheid behoben.
II. Gegen diese Entscheidung ist eine ordentliche Revision zulässig.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Mit Bescheid vom 29.1.2021 untersagte die LPD Wien als Versammlungsbehörde die am 19.1.2021 angezeigte Versammlung zum Thema „Für die Freiheit: …“, welche am 31.1.2021 von 09.00 Uhr bis 16.00 Uhr in Wien, C.-Platz abgehalten werden sollte, gemäß § 6 Absatz 1 Versammlungsgesetz iVm Art 11 Absatz 2 EMRK. Die aufschiebende Wirkung einer allfälligen Beschwerde wurde gemäß § 13 Absatz 2 VwGVG ausgeschlossen.
Gegen diesen Bescheid erhob die rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin frist- und formgerecht Beschwerde.
Am 1.6.2021 hielt das Verwaltungsgericht eine Beschwerdeverhandlung ab, in der die Parteien gehört wurden.
Im Anschluss an die Verhandlung wurde die Entscheidung verkündet. Die Beschwerdeführerin beantragte fristgerecht die Zustellung einer vollen Ausfertigung des Erkenntnisses.
Das Verwaltungsgericht Wien hat erwogen:
Auf der Grundlage der Dokumentation des Verfahrens im Behördenakt und den glaubhaften Aussagen der Parteien in der Verhandlung wird folgender Sachverhalt festgestellt:
Am 19.1.2021 (Dienstag) langte bei der LPD Wien als Versammlungsbehörde die von Frau Ing. A. B. unterschriebene Anzeige einer Versammlung für 31.1.2021 (Samstag) ein. Angezeigt wurde eine Versammlung mit dem Titel „Für die Freiheit: …“ Als Versammlungsort wurde darin der C.-Platz in Wien angeführt. Die näheren Modalitäten wurden beschrieben. Als erwartete Teilnehmerzahl wurde 5000 angeführt. Die Anzeigerin führte ihre Adresse, Telefonnummer und E-Mail-Adresse an.
Am 20.1.2020 leitete die Versammlungsbehörde die Anzeige an die Gesundheitsbehörde mit dem Ersuchen um Benachrichtigung weiter, wenn Bedenken gegen die Versammlung aus gesundheitsbehördlicher Sicht bestehen. Konkrete Fragen wurde an die Gesundheitsbehörde nicht gerichtet.
Mit Schreiben vom 25.1.2021 (Montag) ersuchte die Versammlungsbehörde das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung um eine Gefährdungseinschätzung.
Per E-Mail vom 26.1.2021, 17.07 Uhr, stellt die Versammlungsbehörde zwei konkrete Fragen an die Gesundheitsbehörde. Die Anfrage an die Gesundheitsbehörde vom 20.1.2020 blieb bis dahin unbeantwortet.
Die halbseitige Antwort der Gesundheitsbehörde langte am 27.1.2021 (Mittwoch) um 20.05 Uhr bei der Versammlungsbehörde ein.
Ebenfalls am 27.1.2021 langte seitens Frau B. eine Ergänzung der Versammlungsanzeige bei der Versammlungsbehörde ein. Darin wurde unter anderem moniert, dass trotz mehrfacher telefonischer Nachfrage durch die Anzeigerin keine Informationen seitens der Behörde ergingen.
Mit E-Mail vom 28.1.2021 (Donnerstag) ersuchte die Anzeigerin neuerlich um Anleitung durch die Versammlungsbehörde.
Die Stellungnahme des Landesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) stammt vom 28.1.2021.
Mit E-Mail vom Freitag 29.1.2021, 13.09 Uhr (Sendezeit), wurden der Anzeigerin die behördliche Anfrage an die Gesundheitsbehörde, die Stellungnahme der Gesundheitsbehörde und des LVT sowie die Absicht der Behörde auf Untersagung der Versammlung zur Kenntnis gebracht. Gelegenheit zur Stellungnahme wurde der Anzeigerin bis 15.00 Uhr des selben Tages eingeräumt.
In der E-Mail vom 29.1.2021 um 15.04 Uhr stellte sich die Anzeigerin gegen die Argumente der Behörde und kritisierte neuerlich die fehlende Gesprächsbereitschaft der Behörde.
Der mit Amtssignatur versehene (Untersagungs-)Bescheid vom 29.1.2021 wurde der Anzeigerin um 18.43 Uhr per E-Mail zugestellt.
Die untersagte Versammlung fand (am 31.1.2021) nicht statt.
Nicht festgestellt werden kann, dass die Versammlungsbehörde mit der Anzeigerin Kontakt aufgenommen hätte, um den Versammlungsablauf zu erörtern bzw. Vorschläge für Änderungen bestimmter Modalitäten, z.B. des Versammlungsortes, zu unterbreiten oder auf die Zusage bestimmter Modalitäten hinzuwirken.
Der festgestellte Sachverhalt gründet auf dem unbedenklichen Akteninhalt und den glaubhaften Ausführungen der Parteien in der Verhandlung. Die Beschwerdeführerin stellte glaubhaft ihre Anrufe bei der Behörde und ihr Bemühen um Kooperation mit der Behörde dar. Seitens der Behörde wurden diese Kontaktbemühungen der Anzeigerin nicht bestritten. Die LPD Wien brachte auch nicht vor, dass es ihrerseits eine Kontaktaufnahme mit der Anzeigerin und ein Hinwirken auf Abänderung einer der angezeigten Modalitäten gegeben hätte.
Rechtlich folgt daraus:
Nach § 6 Absatz 1 Versammlungsgesetz sind Versammlungen zu untersagen, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährden.
Diese Bestimmung ist im Lichte des in Verfassungsrang stehenden Art 11 EMRK zu interpretieren.
Nach Art 11 Absatz 1 EMRK haben alle Menschen das Recht, sich friedlich zu versammeln. Nach Absatz 2 darf die Ausübung dieser Rechte keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als den vom Gesetz vorgesehenen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.
Das Verwaltungsgericht Wien vertritt die Rechtsansicht, dass sich aufgrund der besonderen Vorgaben des Versammlungsrechtes (Anzeigepflicht von Versammlungen, kein Bewilligungssystem, lediglich Untersagung in Ausnahmefällen möglich, kürzeste Entscheidungsfrist), insbesondere aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bestimmte Verfahrensgrundsätze für Verfahren nach dem Versammlungsgesetz bei Prüfung einer etwaigen Untersagung einer Versammlung ergeben und daraus der Schluss zu ziehen ist, dass, obwohl nach § 18 Versammlungsgesetz unzweifelhaft feststeht, dass die Versammlungsbehörde Untersagungen stets mittels Bescheides vorzunehmen hat, eine Untersagung einer Versammlung dogmatisch betrachtet näher an der Ausübung einer behördlichen Befehlsausübung (verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt in Form einer Maßnahme) als an einem typischen Bescheidverfahren liegt. Daraus folgt, dass der Entscheidung des Gerichtes die Sach- und Rechtslage im Rahmen einer ex ante-Betrachtung zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde zugrunde zu legen ist. Nachträgliche Änderungen im Recht oder im Sachverhalt (z.B. eine gänzliche andere epidemiologische Situation aufgrund der verstrichenen Zeit zwischen behördlicher und gerichtlicher Entscheidung) sind unbeachtlich, könnten sie doch zu völlig unsachlichen und aleatorischen Ergebnissen (für jeweils eine der Parteien) führen. Die jeweilige angezeigte und untersagte Versammlung kann – wenn sie wie im vorliegenden Fall nicht stattgefunden hat – auch nicht (am geplanten Tag) nachgeholt werden.
Daraus ergibt sich, dass etwaige Verfahrensfehler, die der Behörde im Verfahren unterlaufen sind, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht nachgeholt oder saniert werden können. Das bedeutet zudem, dass die Behörde zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung (Bescheiderlassung) alles zu berücksichtigen hat, war ihr bekannt ist bzw. bei gehöriger Aufmerksamkeit bekannt sein hätte müssen.
Nach der langjährigen und gefestigten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist die Versammlungsbehörde verpflichtet, wenn sie eine Versammlung wegen eines einzelnen bestimmten Umstandes untersagen müsste, darauf hinzuwirken, dass die Anzeigerin eine Änderung der Versammlungsanzeige vornimmt (vgl. z.B. VfGH B972 vom 7.10.2008, VfGH B1695/07 vom 9.10.2008). Dazu bedarf es nach dieser Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes einer entsprechenden Kontaktaufnahme seitens der Versammlungsbehörde mit der Versammlungsanzeigerin. Im konkreten Fall hat die Behörde eine solche Anleitung unterlassen. Die Behörde hat weder telefonisch, schriftlich noch im Rahmen einer Ladung versucht die Anzeigerin bspw. dazu zu bewegen, einen anderen Versammlungsort zu wählen oder bspw. die Teilnehmerzahl zu beschränken. Dadurch wurde die Versammlungsanzeigerin gehindert, ihre angezeigte Versammlung so zu modifizieren, dass sie nicht untersagt hätte werden müssen.
Unabhängig davon ist jedenfalls auch im Rahmen des Versammlungsgesetzes Parteiengehör zu gewähren. Hierbei reicht es nicht, dass dieses formal eingeräumt wird, sondern muss die Partei in die Lage versetzt werden, auf den Vorhalt der Behörde adäquat antworten zu können. Im konkreten Fall wurden der Beschwerdeführerin die Stellungnahmen der Gesundheitsbehörde und des LVT mit E-Mail übermittelt und wurde ihr eine Stellungsnahmefrist von weniger als zwei Stunden eingeräumt. Allein schon angesichts des Umfanges, aber auch des Inhaltes der übermittelten Stellungsnahmen ist eine solche Frist zu kurz bemessen und war es auch nicht zwingend notwendig, den Untersagungsbescheid am 29.01.2021 zu erlassen. Die Versammlung hätte erst am 31.01.2021 stattfinden sollen.
Diese Verfahrensfehler der Versammlungsbehörde sind nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes durch das gerichtliche Verfahren nicht sanierbar und erweist sich daher der Bescheid aus formellen Gründen als rechtswidrig. Anzumerken ist, dass im vorliegenden Fall die Versammlungsanzeige bereits am 19.1.2021 eingebracht wurde und der Behörde daher mehr Zeit für die Prüfung der Anzeige blieb, als dies im Regelfall typisch ist (nach § 2 Absatz 1 Versammlungsgesetz ist eine Versammlung wenigstens 48 Stunden vor der beabsichtigten Abhaltung anzuzeigen). Dadurch erübrigt es sich, auf die inhaltlichen Argumente der Beschwerde einzugehen.
Der Bescheid ist daher gemäß § 28 Absatz 1 und 2 VwGVG aufzuheben.
Zur Revisionsentscheidung:
Gemäß § 25a Absatz 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Nach Artikel 133 Absatz 4 B-VG ist die (ordentliche) Revision zulässig, wenn eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt, insbesondere weil das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des VwGH abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH nicht einheitlich beantwortet wird.
Soweit ersichtlich, geht das Verwaltungsgericht Wien mit seiner Rechtsansicht von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Bescheidbeschwerdeverfahren hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes (Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde statt des Gerichts) ab und ist aus diesem Grunde eine ordentliche Revision zulässig.
Schlagworte
Untersagung; Versammlungsfreiheit; Bescheid; Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt; Zeitpunkt der Entscheidung; Änderung der Versammlungsanzeige; Anweisung; Parteiengehör; VerfahrensfehlerEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2021:VGW.103.040.3254.2021Zuletzt aktualisiert am
23.03.2022