TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/23 Ro 2021/01/0020

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Veröffentlicht am 23.02.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §29

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 2021, Zl. L516 2164097-1/22E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M H, in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, stellte am 11. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 16. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Amtsrevisionswerber) den Antrag auf internationalen Schutz des Mitbeteiligten zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung gegen ihn, stellte die Zulässigkeit der Abschiebung nach Bangladesch fest und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde des Mitbeteiligten statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass eine Revision zulässig sei (Spruchpunkt B).

4        Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte sei nach einer in Österreich von ihm selbst vorgenommenen Selbstmedikation abhängig von Opioiden und ein Abbruch seiner zwischenzeitlich begonnenen Substitutionstherapie würde zu schwerwiegenden, lebensgefährlichen Entzugserscheinungen führen. Der Mitbeteiligte gehöre der „sozialen Gruppe der opioidabhängigen Suchtkranken“ an. Seine Drogensucht stelle einen Hintergrund dar, der in Ermangelung verfügbarer Therapiemöglichkeiten in Bangladesch auch nicht mehr verändert werden könne. Den Länderberichten sei zu entnehmen, dass der Mitbeteiligte als Angehöriger der genannten sozialen Gruppe von der ihn umgebenden Gesellschaft einer Stigmatisierung ausgesetzt sei. Der Staat gehe radikal gegen Drogensüchtige vor und „töte diese gar im Rahmen einer Welle außergerichtlicher Tötungen“.

5        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6        Der bloße Hinweis des BVwG, dass Rechtsprechung zur Frage fehle, „ob im vorliegenden Fall eine Verfolgung aus dem Konventionsgrund der hier festgestellten Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe besteht oder nicht“, kann die Zulässigkeit der Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht begründen. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass eine einheitliche Rechtsprechung zu den hier entscheidungswesentlichen Kriterien vorhanden ist, die für die Prüfung und Zuerkennung des Status des Asylberechtigten aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe maßgeblich sind (vgl. VwGH 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, mwN). Mit der Frage nach dem Vorliegen einer solchen sozialen Gruppe im Revisionsfall stellt das BVwG bloß die Frage nach der Rechtsrichtigkeit seiner im Einzelfall getroffenen Entscheidung und legt damit keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung dar.

7        Der Amtsrevisionswerber schließt sich in seiner Zulässigkeitsbegründung zunächst der Begründung des BVwG über die Zulässigkeit der Revision an und bringt dazu vor, dass eine Drogenabhängigkeit keinen gemeinsamen, nicht mehr veränderbaren Hintergrund darstellen würde, weil durch entsprechende Therapien eine Entwöhnung möglich wäre. Ferner sei fraglich, ob das Kriterium des gemeinsamen Hintergrundes, der nicht mehr verändert werden könne, abhängig von den konkreten Gegebenheiten im Herkunftsstaat sei. Ergänzend bringt der Amtsrevisionswerber vor, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht abgewichen sei, weil es nicht dargelegt habe, inwiefern der Mitbeteiligte als einer von rund sieben Millionen Suchtkranken in Bangladesch konkret und individuell von einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr betroffen sei. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes könne nur eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung relevant sein, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung reiche nicht aus. Fallbezogen sei die Annahme, dass dem Mitbeteiligten Verfolgung drohe, lediglich eine nicht näher begründete Annahme.

8        Die Revision ist - soweit sie sich gegen eine Verletzung der Begründungspflicht wendet - zulässig; sie ist insofern auch begründet.

9        Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, mwN).

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 4.6.2021, Ra 2021/01/0008, mwN).

11       Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:

12       Das BVwG ging davon aus, dem Mitbeteiligten würden als Angehörigem der sozialen Gruppe der opioidabhängigen Suchtkranken in Bangladesch „mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit körperliche Misshandlungen, Folter und Haftstrafen bei vorhandenen unmenschlichen Haftbedingungen in den Haftanstalten“ drohen. Die Revision bringt zu Recht vor, das BVwG habe diese Annahme nicht hinreichend begründet. Den Länderfeststellungen ist (hier auf das Wesentliche zusammengefasst) zu entnehmen, dass die Regierung in Bangladesch im Kampf gegen Drogenkriminalität eine „harte Gangart“ gewählt habe, es zu gewaltsamen Einsätzen komme, einer speziell eingerichteten Eliteeinheit schwere Menschenrechtsverstöße vorgeworfen würden und es Berichten zufolge immer wieder zu außergerichtlichen Tötungen kommen würde. Den Länderfeststellungen ist aber auch zu entnehmen, dass in Bangladesch etwa sieben Millionen Menschen drogenabhängig seien. Das BVwG hat vor diesem Hintergrund allerdings nicht dargelegt, inwiefern der Mitbeteiligte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von den angenommenen Verfolgungshandlungen individuell betroffen wäre.

13       Auch zur persönlichen Situation des Mitbeteiligten im Zusammenhang mit seiner Drogenabhängigkeit hat das BVwG keine ausreichenden Feststellungen getroffen, auf deren Basis die individuelle Verfolgungsgefahr des Mitbeteiligten beurteilt werden könnte. Es traf zwar (allgemeine) Feststellungen zur Lage von Drogenabhängigen und zum Vorgehen staatlicher Institutionen gegen diese Personen, es unterließ aber konkrete Ausführungen zum Vorliegen von individuell dem Revisionswerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgungshandlungen. Das BVwG hat außerdem auch keine Ausführungen dahingehend getätigt, dass der Mitbeteiligte unabhängig von individuellen Momenten von einer Gruppenverfolgung bedroht wäre (vgl. dazu etwa VwGH 12.3.2021, Ra 2020/19/0315, mwN).

14       Vor diesem Hintergrund hätte sich das BVwG im Revisionsfall daher ausgehend von seinen eigenen Länderfeststellungen vor allem auch mit den bei Rückkehr zu erwartenden persönlichen Lebensumständen des Mitbeteiligten (wie insbesondere den konkreten Möglichkeiten einer ambulanten Sucht- und Substitutionstherapie) näher auseinandersetzen müssen, um nachvollziehbar prognostisch beurteilen zu können, welche Risiken dem Mitbeteiligten bei Rückkehr in seine Herkunftsregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen würden und ob ihm solcherart mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte drohe (vgl. VwGH 14.2.2019, Ra 2018/18/0442 [geistige Behinderung]).

15       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und lit c VwGG aufzuheben. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob eine Drogenabhängigkeit an sich überhaupt einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“ darstellt (vgl. zu den notwendigen Voraussetzungen einer „sozialen Gruppe“ etwa VwGH 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, Rn. 13 bis 15, mwN).

Wien, am 23. Februar 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RO2021010020.J00

Im RIS seit

22.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

22.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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