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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
ASVG §58 Abs5Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Sasshofer, über die Revision des X H in W, vertreten durch Mag. Franz Kellner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Ring 14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Oktober 2021, W178 2230813-1/5E, betreffend Haftung für uneinbringliche Beiträge gemäß § 67 Abs. 10 ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Gebietskrankenkasse, nunmehr: Österreichische Gesundheitskasse), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Österreichische Gesundheitskasse hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 16. Dezember 2019 sprach die Wiener Gebietskrankenkasse (nunmehr: Österreichische Gesundheitskasse) aus, der Revisionswerber hafte gemäß § 67 Abs. 10 ASVG als damaliger Geschäftsführer für die von der O GmbH für den Zeitraum September 2017 bis Dezember 2017 zu entrichten gewesenen Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von EUR 21.915,33 zuzüglich Verzugszinsen. Über das Vermögen der O GmbH sei am 24. Jänner 2018 die Insolvenz eröffnet worden; der Konkurs sei am 30. August 2019 rechtskräftig aufgehoben worden. Dass der Revisionswerber wie vorgebracht zunächst keine Kenntnis von seiner Stellung als Geschäftsführer gehabt habe, sei nicht nachvollziehbar. Er sei mit „Geschäftsführerbeschluss“ vom 15. Mai 2017 zum Geschäftsführer bestellt worden und habe vor einem Notar eine Musterzeichnungserklärung abgegeben. Die vom Revisionswerber vorgebrachten fehlenden Deutschkenntnisse könnten ihn nicht exkulpieren. Einen Nachweis dafür, dass er bei der Zahlung offener Forderungen eine Gläubigergleichbehandlung vorgenommen hätte, habe der Revisionswerber nicht erbracht.
2 In der dagegen gerichteten Beschwerde vom 15. Jänner 2020 brachte der Revisionswerber insbesondere vor, er habe erst gegen Ende 2017 bemerkt, dass er schon seit Monaten als Geschäftsführer der O GmbH im Firmenbuch eingetragen gewesen sei. Die zur Begründung seiner Geschäftsführerstellung unterschriebenen Dokumente habe er nicht verstanden; über deren Inhalt habe man ihm gegenüber unrichtige Angaben gemacht. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde beantragt.
3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 17. April 2020 gab die Österreichische Gesundheitskasse der Beschwerde teilweise statt und änderte den Betrag der vom Revisionswerber aufgrund seiner Haftung zu bezahlenden uneinbringlichen Sozialversicherungsbeiträge auf EUR 16.099,13 ab. Der Revisionswerber stellte einen Vorlageantrag.
4 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde ab und stellte im Wesentlichen (ungeachtet einer Formulierungsanpassung im Zusammenhang mit den Verzugszinsen) den Spruch des Bescheides vom 16. Dezember 2019 wieder her.
5 In der Begründung hielt das Bundesverwaltungsgericht insbesondere fest, eine Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG für uneinbringliche Beitragsschulden einer juristischen Person setze u.a. die Stellung des Haftenden als Vertreter der juristischen Person, eine Pflichtverletzung des Vertreters und dessen Verschulden an der Pflichtverletzung voraus. Es stehe unstrittig fest, dass der Revisionswerber von 15. Mai 2017 bis 4. Jänner 2018 als handelsrechtlicher Geschäftsführer der O GmbH (der Primärschuldnerin) im Firmenbuch eingetragen gewesen sei. Als solcher sei er gemäß § 58 Abs. 5 ASVG dazu verpflichtet gewesen, dafür zu sorgen, dass die Beiträge jeweils bei Fälligkeit entrichtet werden. Die Beschwerde bestreite ein Verschulden des Revisionswerbers an der Nichtentrichtung der Beiträge insbesondere mit dem Vorbringen, dass er mangels deutscher Sprachkenntnisse bis Ende des Jahres 2017 nicht gewusst habe, dass er Geschäftsführer sei. Auf die mangelnde Kenntnis von seiner Funktion komme es jedoch nicht an, weil der Revisionswerber die Funktion eines Geschäftsführers durch den von ihm abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag erlangt habe und allfällige Willensmängel bei Abschluss dieses Gesellschaftsvertrages nur zur Vertragsanfechtung vor den Zivilgerichten berechtigen würden, nicht aber in einem Verwaltungsverfahren eingewendet werden könnten, in dem es um die Erfüllung der Pflichten des Geschäftsführers gehe (Verweis auf VwGH 26.5.2004, 2001/08/0127).
6 Da sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt bereits „aus der Aktenlage in Zusammenschau mit der Beschwerde“ ergebe, sei nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts keine mündliche Erörterung der Angelegenheit zur Ermittlung des Sachverhalts erforderlich gewesen. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG habe von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden können, weil der maßgebliche Sachverhalt festgestanden sei.
7 Die gegen dieses Erkenntnis gerichtete Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Bundesverwaltungsgericht habe gegen die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht verstoßen, indem es sich über den ausdrücklichen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinweggesetzt habe, obwohl in der Beschwerde konkret bestritten worden sei, dass der Revisionswerber Kenntnis von einer Geschäftsführerbestellung hatte, und eine „Instrumentalisierung“ des Revisionswerbers durch den „faktischen Geschäftsführer“ der O GmbH im Zusammenhang mit der Geschäftsführerbestellung vorgebracht worden sei; die Umstände bei der Geschäftsführerbestellung seien jedenfalls keineswegs unstrittig gewesen.
8 Außerdem sei die Revision zulässig, weil es an höchstgerichtlicher Rechtsprechung dazu fehle, ob mangelnde Kenntnis von der Bestellung zum Geschäftsführer einer Gesellschaft, zumal dann, wenn die Unkenntnis unverschuldet sei, zu einer Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG führen könne. Die vom Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang angeführte Entscheidung VwGH 26.5.2004, 2001/08/0127, sei nicht einschlägig. Diese Entscheidung habe eine Geschäftsführerbestellung durch einen als Notariatsakt errichteten Gesellschaftsvertrag betroffen, wobei der Geschäftsführer auch Gesellschafter gewesen sei, während es hier um eine Geschäftsführerbestellung durch einen Gesellschafterbeschluss gehe, der Revisionswerber weder an der Gesellschaft, noch am Gesellschafterbeschluss beteiligt gewesen sei und er lediglich eine Musterzeichnung unterfertigt habe.
9 Nach Einleitung des Vorverfahrens haben die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde sowie der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Revisionsbeantwortungen eingebracht.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.
12 Im vorliegenden Fall waren insbesondere die näheren Umstände betreffend den Vorgang der (vermeintlichen) Bestellung des Revisionswerbers zum Geschäftsführer der O GmbH - abgesehen von der Tatsache, dass der Revisionswerber von 15. Mai 2017 bis 4. Jänner 2018 als handelsrechtlicher Geschäftsführer der O GmbH im Firmenbuch eingetragen war - strittig. Die Wiener Gebietskrankenkasse stellte in ihrem Bescheid fest, der Revisionswerber sei mit „Geschäftsführerbeschluss“ vom 15. Mai 2017 zum Geschäftsführer bestellt worden. Dass der Revisionswerber wie vorgebracht zunächst keine Kenntnis von seiner Stellung als Geschäftsführer gehabt habe, sei nicht nachvollziehbar, zumal er vor einem Notar eine Musterzeichnungserklärung abgegeben habe. In der Beschwerde brachte der Revisionswerber insbesondere vor, er habe erst gegen Ende 2017 bemerkt, dass er schon seit Monaten als Geschäftsführer der O GmbH im Firmenbuch eingetragen gewesen sei. Die zur Begründung seiner Geschäftsführerstellung unterschriebenen Dokumente habe er nicht verstanden; über deren Inhalt habe man ihm gegenüber unrichtige Angaben gemacht. In der Beschwerdevorentscheidung führte die ÖGK dann noch aus, es sei davon auszugehen, dass der Notar überprüft habe, ob der Revisionswerber den Inhalt der von ihm unterfertigten Unterlagen verstehe.
13 Das Bundesverwaltungsgericht sah von der Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung ab und stellte im angefochtenen Erkenntnis - disloziert in der rechtlichen Würdigung und abweichend vom bekämpften Bescheid - fest, der Revisionswerber habe die Funktion eines Geschäftsführers der O GmbH durch den von ihm abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag erlangt.
14 Es gehört jedoch gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa VwGH 11.4.2018, Ra 2017/08/0141, mwN). Will das Verwaltungsgericht von der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung abweichend andere wesentliche Sachverhaltsfeststellungen treffen, hat es - sogar ungeachtet eines Parteiantrags - eine mündliche Verhandlung durchzuführen und dabei die bereits von der Verwaltungsbehörde aufgenommenen Beweismittel neuerlich aufzunehmen (vgl. VwGH 20.10.2021, Ra 2021/08/0073, mwN).
15 Die strittigen Umstände betreffend den Vorgang der (vermeintlichen) Bestellung des Revisionswerbers zum Geschäftsführer der O GmbH sind auch prozessrelevant, nämlich ausschlaggebend für die Frage der Haftung des Revisionswerbers für die von der O GmbH zu entrichten gewesenen Sozialversicherungsbeiträge als deren Vertreter:
16 Im Erkenntnis vom 15. Dezember 2021, Ra 2021/13/0078, das ebenfalls den Revisionswerber betraf, und zwar im Zusammenhang mit der Frage seiner Haftung für von der O GmbH zu entrichten gewesene Abgaben nach dem Kommunalsteuergesetz 1993 und dem Wiener Dienstgeberabgabegesetz, setzte sich der Verwaltungsgerichtshof eingehend mit den zivilrechtlichen Voraussetzungen einer wirksamen Bestellung zum Geschäftsführer einer GmbH durch Beschluss der Gesellschafter auseinander. Der Verwaltungsgerichtshof sprach im genannten Erkenntnis - freilich ohne unmittelbare Bindungswirkung für das hier in Rede stehende Verfahren - vor dem Hintergrund der vom Bundesfinanzgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen aus, die Bestellung des Revisionswerbers zum Geschäftsführer sei trotz Eintragung im Firmenbuch mangels Annahme der Bestellung durch den Revisionswerber unwirksam gewesen, weshalb eine Haftung für die genannten Abgaben ausscheide. Jedenfalls setzt auch die Haftung des Revisionswerbers für die von der O GmbH zu entrichten gewesenen Sozialversicherungsbeiträge nach § 67 Abs. 10 iVm § 58 Abs. 5 ASVG eine zivilrechtlich wirksame Bestellung zum Geschäftsführer voraus.
17 Das Bundesverwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren nähere Feststellungen über die Umstände im Zusammenhang mit der (vermeintlichen) Bestellung des Revisionswerbers zum Geschäftsführer der O GmbH zu treffen haben und vor diesem Hintergrund das Vorliegen der zivilrechtlichen Voraussetzungen einer wirksamen Bestellung des Revisionswerbers zum Geschäftsführer der O GmbH zu prüfen haben.
18 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Ein Ersatz für Eingabengebühren war wegen der sachlichen Abgabenfreiheit (vgl. § 110 ASVG) nicht zuzusprechen.
Wien, am 22. Februar 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021080139.L00Im RIS seit
21.03.2022Zuletzt aktualisiert am
14.04.2022