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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §52Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie Hofrätin Mag. Hainz-Sator und Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des Z P, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in 1020 Wien, Praterstern 2/1. DG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2019, Zl. W141 2213719-1/5E, betreffend Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 1. Mit Eingabe bei der belangten Behörde vom 13. April 2018 beantragte der Revisionswerber die Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gemäß den Bestimmungen der §§ 2 und 14 des Behinderteneinstellungsgesetzes (BEinstG) aufgrund von Gesundheitsschädigungen infolge dreimaliger Bandscheibenoperation.
2 Die belangte Behörde holte ein Gutachten bei einem allgemeinmedizinischen Sachverständigen ein. Im Gutachten vom 27. Juni 2018 kommt der Sachverständige zum Ergebnis, dass degenerative Veränderungen der Wirbelsäule vorlägen, für die infolge nachvollziehbarer Beschwerden der untere Rahmensatz festzulegen und demnach ein Gesamtgrad der Behinderung von 30 % gegeben sei. Das zweite vom Gutachter festgestellte, einen geringeren Grad der Behinderung begründende Leiden führe wegen fehlender ungünstiger wechselseitiger Leidensbeeinflussung und fehlender maßgeblicher funktioneller Zusatzrelevanz zu keiner Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung.
3 Mit Bescheid vom 2. August 2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten ab und stellte fest, dass der Grad der Behinderung 30 % betrage.
4 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber vor, im eingeholten Gutachten sei auf das Problem der als Folge der dreimaligen Operation bestehenden chronischen Schmerzzustände und die beschriebenen Beschwerden mit der Stuhl- und Harnentleerung sowie Erektionsstörungen nicht eingegangen und seien die Beschwerden bei der Ermittlung des Grades der Behinderung nicht ausreichend gewürdigt worden. Der Revisionswerber legte weitere Unterlagen vor und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
5 Angesichts des Beschwerdevorbringens sowie der Vorlage weiterer Unterlagen holte die belangte Behörde eine ergänzende Stellungnahme desselben allgemeinmedizinischen Sachverständigen ein mit dem Ergebnis, dass aus gutachterlicher Sicht nach neuerlicher Durchsicht des Aktenmaterials eine Änderung der getroffenen Beurteilung nicht vorgeschlagen werde, da die relevanten Gesundheitsschädigungen und Funktionsbeeinträchtigungen korrekt berücksichtigt und bewertet worden seien und gegenteilige Befunde nicht vorliegen würden.
6 In seiner im Rahmen des durch das Verwaltungsgericht gewährten Parteiengehörs erstatteten Stellungnahme vom 19. Oktober 2018 verwies der Revisionswerber erneut auf seine chronischen Schmerzzustände sowie die Beschwerden bei der Harnentleerung und regte die Einholung von Sachverständigengutachten aus den Fachgebieten der Neurologie/Psychiatrie und Orthopädie/Chirurgie an.
7 In weiterer Folge holte die belangte Behörde ein Gutachten einer Fachärztin für Orthopädie ein. In ihrem Gutachten vom 20. Jänner 2019 kommt die Gutachterin zum Ergebnis, dass degenerative Veränderungen der Wirbelsäule vorlägen, für die infolge anhaltender Beschwerden der obere Rahmensatz festzulegen und also ein Gesamtgrad der Behinderung von 40 % gegeben sei. Von den drei festgestellten Leiden seien die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule als führendes Leiden anzusehen. Die beiden weiteren würden zu keiner Erhöhung des führenden Leidens führen, weil kein ungünstiges Zusammenwirken vorliege. Die weiteren vom Revisionswerber geltend gemachten Gesundheitsschädigungen einer Harn- und Stuhlentleerungsstörung seien befundmäßig nicht belegt.
8 Mit Beschwerdevorlage vom 28. Jänner 2019 legte die belangte Behörde das Beschwerdevorbringen samt dazugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: Verwaltungsgericht) zur Entscheidung vor.
9 In seiner Stellungnahme vom 20. Februar 2019 wies der Revisionswerber darauf hin, dass sowohl die Stuhl- und Harnentleerungsstörung als auch die der Gutachterin gegenüber im Detail beschriebenen, im Zusammenhang mit der Wirbelsäule stehenden Schmerzen unzureichend gewürdigt worden seien.
10 2. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde mit der Maßgabe ab, dass die Zitierung des Grades der Behinderung im Spruch entfalle. Gleichzeitig sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
11 Begründend stellte das Verwaltungsgericht den Gesamtgrad der Behinderung mit 40 %, den im Einzelnen wiedergegebenen Untersuchungsbefund und das Ergebnis der durchgeführten Begutachtung aus dem Gutachten der Fachärztin für Orthopädie fest.
12 Beweiswürdigend führte es aus, die von der belangten Behörde eingeholten Gutachten seien schlüssig und nachvollziehbar. Es sei auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen worden. Von der Fachärztin für Orthopädie sei klar und schlüssig festgehalten, dass das führende Leiden (degenerative Veränderungen der Wirbelsäule) durch die beiden weiteren Leiden nicht erhöht werde, da keine ungünstig wechselseitige Leidensbeeinflussung vorliege. Des Weiteren habe die Gutachterin ausgeführt, dass sowohl eine Harn- als auch Stuhlentleerungsstörung, welche vom Revisionswerber eingewendet worden sei, befundmäßig nicht belegt worden sei und daher keine Berücksichtigung im Gutachten habe finden können.
13 Den Entfall der mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht damit, der Rechtsprechung des EGMR könne entnommen werden, dass er das Sozialrecht auf Grund seiner technischen Natur und der oftmaligen Notwendigkeit, Sachverständige beizuziehen, als gerade dazu geneigt ansehe, nicht in allen Fällen eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Ein mündliches Verfahren erscheine verzichtbar, wenn ein Sachverhalt in erster Linie durch seine technische Natur gekennzeichnet sei. Darüber hinaus erkenne er bei Vorliegen eines ausreichend geklärten Sachverhalts das Bedürfnis der nationalen Behörden nach zweckmäßiger und wirtschaftlicher Vorgangsweise an, welches das Absehen von einer mündlichen Verhandlung gestatte.
14 3. Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.
15 4. Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
16 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die Revision ist auch begründet.
17 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geht es bei der Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten um ein „civil right“ iSd. Art. 6 EMRK, sodass die Durchführung der Verhandlung essenziell ist (vgl. aus vielen das zitierte hg. Erkenntnis Ra 2020/11/0087 mwN). Gerade die mündliche Verhandlung ermöglicht es nämlich, im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, einerseits ergänzende Fragen an die beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (VwGH 22.2.2018, Ra 2016/11/0029, mwN).
18 Das Verwaltungsgericht stützte seine Entscheidung im Wesentlichen auf die im behördlichen Verfahren eingeholten ärztlichen Gutachten, die als schlüssig und nachvollziehbar beurteilt wurden. Die Ansicht, die vom Revisionswerber eingewendeten Störungen bei der Stuhl- und Harnentleerung hätten keine Berücksichtigung finden können, begründete das Verwaltungsgericht (in Übernahme der Ausführungen der Fachärztin für Orthopädie) damit, dass diese Beeinträchtigungen befundmäßig nicht belegt worden seien. Die vom Revisionswerber im gesamten Verfahrensverlauf in konsistenter Weise angegebenen chronischen Schmerzzustände erachtete das Verwaltungsgericht dem Anschein nach als durch die im Gutachten der Fachärztin für Orthopädie vorgenommene Bewertung des führenden Leidens inklusive Festlegung des oberen Rahmensatzes angemessen berücksichtigt.
19 Schon weil das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall insofern nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen durfte, stellt das vom Revisionswerber zu Recht gerügte Unterlassen der mündlichen Verhandlung eine zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses führende Rechtswidrigkeit dar (vgl. aus vielen VwGH 4.12.2017, Ra 2017/11/0256, und die dort zitierte Vorjudikatur).
20 Das angefochtene Erkenntnis, mit dem das Verwaltungsgericht die Rechtslage in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannt hat, war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
21 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil ein weiterer Aufwandersatz unter dem Titel eines ERV-Zuschlags und der Umsatzsteuer nicht vorgesehen ist (vgl. VwGH 11.9.2020, Ra 2019/11/0043).
Wien, am 23. Februar 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2019110057.L00Im RIS seit
21.03.2022Zuletzt aktualisiert am
21.03.2022