Index
E3R E05204020Norm
AVG §68 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie Hofrätin Mag. Hainz-Sator und Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der V R in W, vertreten durch Dr. Alexander Raidl, BA, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rotenturmstraße 17/10-12, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 30. März 2021, Zl. VGW-101/020/869/2021-7, betreffend Zuerkennung von Pflegeelterngeld (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien, Wiener Kinder- und Jugendhilfe, Referat für Adoptiv- und Pflegekinder), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 1. Mit Bescheid vom 9. September 2013 wies die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin auf Zuerkennung von Pflegeelterngeld für ihre minderjährige Pflegetochter vom 31. Jänner 2013 ab.
2 Begründend führte die belangte Behörde aus, dass Pflegeeltern gemäß § 27 Abs. 1 Wiener Jugendwohlfahrtsgesetz 1990 (im Folgenden: WrJWG 1990) zur Durchführung der vollen Erziehung iSv. § 34 leg. cit. auf Antrag zur Erleichterung der mit der Pflege verbundenen Lasten Anspruch auf Pflegeelterngeld hätten. Die Revisionswerberin sei [infolge der Entscheidung des BG Bratislava II vom 26. Juni 2008] zwar Pflegemutter der im Spruch namentlich genannten Pflegetochter, jedoch liege keine von einem österreichischen Jugendwohlfahrtsträger veranlasste Maßnahme der vollen Erziehung vor. Da die Anspruchsvoraussetzungen somit nicht erfüllt seien, sei der Antrag abzuweisen gewesen.
3 2. Mit Schreiben vom 20. September 2020 wurde dieser Antrag von der Revisionswerberin neuerlich gestellt.
4 Mit Bescheid vom 28. Oktober 2020 wies die belangte Behörde diesen Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurück.
5 In ihrer Begründung führte die belangte Behörde aus, ein Antrag auf Gewährung von Pflegekindergeld [vormals: Pflegeelterngeld] bezogen auf dieselbe Pflegetochter sei bereits mit Bescheid vom 9. September 2013 abgewiesen worden, wobei dieser Bescheid in Rechtskraft erwachsen sei. Da sich der Sachverhalt nicht verändert habe, sei der neuerliche Antrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen gewesen.
6 In der dagegen erhobenen Beschwerde machte die Revisionswerberin geltend, das Amt für Arbeit, Soziales und Familie in Bratislava habe zum 1. September 2012 die Auszahlung eines Beitrages für die Unterstützung der Durchführung der persönlichen Kinderbetreuung mit der Begründung eingestellt, dass auf im EU-Ausland lebende Staatsangehörige die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit iVm. der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Koordinierungsverordnungen) anzuwenden und daher die Slowakische Republik nicht der zuständige Staat für die Zahlung von Familienleistungen sei. Nach rechtskräftiger Abweisung des Antrages vom 31. März 2013 durch die belangte Behörde habe sich die Revisionswerberin an die Gerichte in der Slowakischen Republik gewandt, welche rechtskräftig darüber entschieden hätten, dass seitens der Slowakischen Republik ein „Pflegegeld“ nicht ausbezahlt werden könne, weil aufgrund der Koordinierungsverordnungen automatisch das Sozialsystem der Republik Österreich zuständig sei. Aufgrund der Tatsache, dass gemäß den Koordinierungsverordnungen die Revisionswerberin infolge ihres Umzuges nach und ihrer Arbeitstätigkeit in Österreich zusammen mit dem minderjährigen Kind nicht ohne Sozialsicherung bleiben dürfe, sei die Republik Österreich verpflichtet, diese Leistungen anzuerkennen. Das Verwaltungsgericht werde daher angerufen, den Bescheid vom 28. Oktober 2020 aufgrund seines Widerspruchs mit dem Unionsrecht zu „annulieren“ und der Revisionswerberin „Pflegegeld“ ab September 2012 zuzuerkennen.
7 3. Mit dem hier angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: Verwaltungsgericht) die Beschwerde als unbegründet ab. Die Revision erklärte es für unzulässig.
8 In seiner Begründung gab das Verwaltungsgericht zunächst den Verfahrensgang sowie - zusammengefasst - den Inhalt der Beschwerde der Revisionswerberin wieder und stellte den von der Revisionswerberin vor den slowakischen Gerichten beschrittenen Rechtsweg dar.
9 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte es aus, nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stehe die Rechtskraft einer früher in der gleichen Angelegenheit ergangenen Erledigung einer neuen Sachentscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG nur dann nicht entgegen, wenn in den für die Entscheidung maßgebenden Umständen eine Änderung eingetreten sei. Die objektive (sachliche) Grenze dieser Wirkung der Rechtskraft werde durch die „entschiedene Sache“, d.h. durch die Identität der Sache, über die formell rechtskräftig abgesprochen worden sei, mit der im neuerlichen Abspruch erfassten bestimmt. Identität der Sache liege dann vor, wenn einerseits weder in der für die Vorentscheidung maßgeblichen Rechtslage noch in den für die Beurteilung der in der Vorentscheidung als maßgebend erachteten tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten sei. Im gegenständlichen Fall habe sich zum einen die auf den neuerlichen Antrag der Revisionswerberin anzuwendende Rechtslage, soweit die verfahrenswesentlichen Anspruchsvoraussetzungen betroffen seien, nicht geändert. Gemäß § 44 Abs. 1 Wiener Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013 (WKJHG 2013) gebühre Pflegepersonen zur Durchführung der vollen Erziehung (§ 30) auf Antrag zur Erleichterung der mit der Pflege verbundenen Lasten Pflegekindergeld. Bei der „vollen Erziehung“ iSd. § 30 WKJHG 2013 handle es sich um eine behördliche Maßnahme, die bereits in § 27 Abs. 1 WrJWG 1990 als Voraussetzung für die Gewährung von „Pflegeelterngeld“ normiert gewesen sei. Die nunmehr als „Pflegekindergeld“ bezeichnete finanzielle Unterstützung sei somit nach wie vor an die Voraussetzung der „vollen Erziehung“ gebunden. Dass zum anderen eine solche behördliche Maßnahme zwischenzeitlich getroffen worden wäre und sich insoweit der entscheidungswesentliche Sachverhalt geändert hätte, sei von der Revisionswerberin nicht vorgebracht worden und ergebe sich auch nicht aus dem sonstigen Akteninhalt.
10 Die von der Revisionswerberin angesprochenen Verordnungen der Europäischen Union seien schon im Zeitpunkt der ersten behördlichen Entscheidung beachtlich gewesen. Ob die Behörde diesen ausreichend Rechnung getragen habe, könne infolge der Rechtskraftwirkung des Bescheides in vorliegendem Verfahren nicht mehr geprüft werden.
11 4. Mit Beschluss vom 22. September 2021, E 2363/2021-5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde der Revisionswerberin ab und trat sie an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
12 5. Gegen dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichts richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
13 6.1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
14 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
15 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof ausschließlich im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
16 6.2. Zur Begründung ihrer Zulässigkeit führt die Revision im Wesentlichen aus, das angefochtene Erkenntnis weiche insofern von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Vorliegen von Identität der Sache ab, als das Verwaltungsgericht zum einen außer Acht gelassen habe, dass sich der abweisende Bescheid der belangten Behörde vom 9. September 2013 auf eine nicht mehr zur Anwendung kommende Gesetzesbestimmung gegründet habe, und zum anderen, dass die Revisionswerberin seit der Antragstellung am 31. Jänner 2013 den Rechtsweg in der Slowakei bis zur letzten Instanz ausgeschöpft habe und dort festgestellt worden sei, dass die Republik Österreich für die Auszahlung von Familienleistungen an die Revisionswerberin zuständig sei.
17 Dieses Vorbringen erweist sich vor dem Hintergrund der oben in Rz. 8 f wiedergegebenen Begründung des Verwaltungsgerichts zum einen als unzutreffend, zum anderen als für die Identität der Sache unbeachtlich. Das Verwaltungsgericht setzte sich nämlich mit dem Verhältnis der die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Pflegekindergeld regelnden Bestimmungen des Wiener Kinder- und Jugendhilfegesetzes 2013 zu den die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Pflegeelterngeld regelnden Bestimmungen des Wiener Jugendwohlfahrtsgesetzes 1990 auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass in der für die Vorentscheidung maßgeblichen Rechtslage insoweit keine Änderung eingetreten sei, als das Vorliegen der behördlich angeordneten Maßnahme der „vollen Erziehung“ unverändert entscheidungswesentliche Voraussetzung der bescheidmäßigen Zuerkennung von (nunmehr) Pflegekindergeld sei. Insoweit zum anderen die Ausschöpfung des Rechtsweges in der Slowakischen Republik keinen für die Erledigung des (neuen) Antrags maßgebenden geänderten tatsächlichen Umstand bildet, berührt sie die Frage der Identität der Sache nicht. Im Übrigen ging das Verwaltungsgericht auch auf dieses Vorbringen ein, indem es Feststellungen dazu traf. Die Revision zeigt mit ihrem Vorbringen nicht ansatzweise auf, worin die behauptete Abweichung des Verwaltungsgerichts von der hg. Judikatur gelegen sein sollte.
18 Soweit die Revision in der Zulässigkeitsbegründung geltend macht, es stelle sich die Frage, ob der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ausreichend Rechnung getragen worden sei, zeigt sie das Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG ebenfalls nicht auf, weil sie in Hinblick darauf, dass diese Verordnung bereits im Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde über den ersten Antrag mit Bescheid vom 9. September 2013 in Geltung war, erneut keine Änderung eines relevanten Umstands aufzeigt, der dem Einwand der entschiedenen Rechtssache entgegenstehen könnte.
19 Mit dem Verweis der Revision auf den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes, mit dem die Behandlung der Beschwerde gemäß Art. 144 B-VG der Revisionswerberin abgelehnt und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten wurde, wird ein Abweichen von der für die Beurteilung der Zulässigkeit allein maßgeblichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ebenfalls nicht aufgezeigt (vgl. etwa VwGH 14.9.2017, Ra 2017/01/0255).
20 Soweit die Revision schließlich rügt, das Verwaltungsgericht habe seinen Ausspruch der Unzulässigkeit der Revision nicht ausreichend, weil durch bloß formelhafte Wiedergabe der gesetzlichen Gründe begründet, genügt der Hinweis, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 34 Abs. 1a VwGG bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision (iSd. Art. 133 Abs. 4 B-VG) an den diesbezüglichen Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nach § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden ist und die Revisionswerberin an der gesonderten Darlegung von in § 28 Abs. 3 VwGG geforderten Gründen, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird, nicht gehindert war (vgl. den hg. Beschluss vom 1. Oktober 2014, Zl. Ra 2014/09/0022).
21 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 1. März 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022110003.L00Im RIS seit
21.03.2022Zuletzt aktualisiert am
12.04.2022