Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
BFA-VG 2014 §9Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, in der Revisionssache 1. des M A B, 2. der M S, 3. der R A B, und 4. der I A B, alle vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. März 2021, 1. W170 2206892-2/2E, 2. W170 2206894-2/2E, 3. W170 2206893-2/2E und 4. W170 2206891-2/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind iranische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertrevisionswerberinnen. Die Erst- bis Drittrevisionswerber stellten am 30. Juli 2016 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am 14. Dezember 2017 stellten sie einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz für die in Österreich geborene Viertrevisionswerberin.
2 Mit Erkenntnis vom 27. November 2019 wies das BVwG - im Beschwerdeverfahren - die Anträge der Revisionswerber zur Gänze ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
3 Am 29. Jänner 2020 stellten die Revisionswerber Anträge auf internationalen Schutz in Deutschland. Aufgrund der Bereitschaft Österreichs, die Revisionswerber wiederaufzunehmen, wurden diese Anträge als in Österreich gestellt gewertet und die Revisionswerber nach Österreich überstellt.
4 Mit Bescheid vom 9. Dezember 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Iran zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerber - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit der Maßgabe, dass die Anträge auf internationalen Schutz vom 29. Jänner 2020 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten sowie des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen werden, als unbegründet ab, und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Die gemeinsame Revision der Revisionswerber bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe sich bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung nicht mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl auseinandergesetzt. Auch seien die Eltern der Drittrevisionswerberin nicht gefragt worden, welche Meinung sie [die Drittrevisionswerberin] zu einer Rückkehr in den Iran habe. Bei einer Befragung wäre herausgekommen, dass die Drittrevisionswerberin kein Arabisch spreche, keine Kenntnisse der islamischen Religion und der in dieser Religion charakteristischen Verhaltensweise habe und deshalb Diskriminierung, Schikanen und körperlicher Züchtigung ausgesetzt sein werde. Das BVwG hätte Feststellungen zur Lebenssituation der Drittrevisionswerberin im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat treffen müssen.
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017, mwN).
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA-VG „die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder“, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen und ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2020/19/0010, mwN).
12 Im vorliegenden Fall berücksichtigte das BVwG, dass die im Entscheidungszeitpunkt des BVwG knapp achtjährige Drittrevisionswerberin im Iran geboren sei und dort die ersten Jahre ihres Lebens verbracht habe, sich wie die Viertrevisionswerberin in einem anpassungsfähigen Alter befinde, die Sprache des Herkunftsstaates beherrsche und mit Großeltern, Onkeln und Tanten familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat habe. Die belangte Behörde sei somit zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes der Revisionswerber ihr persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiege. Die Revision zeigt nicht auf, dass diese Interessenabwägung im Hinblick auf die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtes zu berücksichtigenden Kriterien fallbezogen unvertretbar wäre. Vor diesem Hintergrund geht auch das Zulässigkeitsvorbringen, die Eltern der Drittrevisionswerberin seien zur Meinung der Drittrevisionswerberin zu einer Rückkehr in den Iran zu befragen gewesen, ins Leere.
13 Soweit die Revision mit diesem Vorbringen einen Verstoß gegen die Verhandlungspflicht rügt, ist ihr entgegenzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof zwar ausgesprochen hat, bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen komme der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen der mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände. Daraus ist aber noch keine „absolute“ (generelle) Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Verfahren über aufenthaltsbeendende Maßnahmen abzuleiten. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das BVwG von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann auch eine beantragte Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 21.12.2021, Ra 2021/19/0438, mwN).
14 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 21. Februar 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190119.L00Im RIS seit
18.03.2022Zuletzt aktualisiert am
11.04.2022