TE Vwgh Beschluss 2022/2/21 Ra 2021/01/0330

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Veröffentlicht am 21.02.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §18
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/01/0331

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der 1. M F, und 2. P N, diese vertreten durch M F als gesetzliche Vertreterin, beide in Wien und vertreten durch Dr. Nikolaus Vogler, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Maderstraße 1/12, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Maga. Nadja Lindenthal, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Siebensterngassse 23/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. August 2021, Zlen. 1. W123 2210725-1/19E und 2. W123 2211027-1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweitrevisionswerberin, beide sind Staatsangehörige von Afghanistan. Sie stellten am 4. Jänner 2016 und am 2. Mai 2018 Anträge auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 8. November 2018 wurden die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) abgewiesen (jeweils Spruchpunkt I.). Den Revisionswerberinnen wurde gemäß § 8 Abs. 1 bzw. § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (jeweils Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (jeweils Spruchpunkt III.).

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurden die Beschwerden der Revisionswerberinnen gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten (jeweils Spruchpunkt I. der Bescheide des BFA) als unbegründet abgewiesen (A) und eine Revision für nicht zulässig erklärt (B).

4        Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Wesentlichen aus, das Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin (zur behaupteten Verfolgung und Bedrohung auf offener Straße bzw. zur behaupteten Feindschaft ihres Ehemannes mit dessen Onkel sowie zur behaupteten Bedrohung durch Personen, die für den Tod ihres Bruders verantwortlich seien) - die Zweitrevisionswerberin hatte keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht - sei nach näherer Beweiswürdigung nicht glaubwürdig. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Erstrevisionswerberin ihrem Ehemann nach Österreich nachgereist sei, um mit diesem ein Familienleben zu führen.

5        Zur vorgebrachten „westlichen Orientierung“ führte das BVwG mit näherer Begründung und nach Ausführungen zur Lage der Frauen in Afghanistan nach der „Machtübernahme“ durch die Taliban aus, die Lebensumstände der Erstrevisionswerberin vor ihrer Einreise nach Österreich ließen keine Aspekte eines selbstbestimmten Lebens erkennen. Das Vorbringen der Erstrevisionswerberin, in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, weiche erkennbar von ihrer Lebenswirklichkeit ab. Die Kommunikationsfähigkeit in der Landessprache sei für einen freibestimmten Lebenswandel und eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Aufenthaltsstaat essentiell. In dieser Hinsicht machten die von der Erstrevisionswerberin erworbenen Sprachkenntnisse in Relation zur Aufenthaltsdauer eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise nicht „glaubhaft“. Auch die sonstigen Umstände ihres Alltagslebens in Österreich ließen nicht darauf schließen, dass die Erstrevisionswerberin eine selbstbestimmte Lebensführung und Geisteshaltung angenommen habe und diese ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden sei. „Überzogen und einstudiert, sohin auch nicht glaubhaft“ wirkten auch manche Aussagen in der mündlichen Verhandlung zur Lebenssituation in Österreich. Der erkennende Richter gehe insgesamt unter Berücksichtigung dieser Ausführungen und des im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindruckes davon aus, dass die Erstrevisionswerberin eine „westliche Lebensführung“, der eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise immanent sei, noch nicht in einem ausreichenden Ausmaß verinnerlicht habe. Diese sei auch nicht nur in Ansätzen in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert bzw. werde eine solche Lebensweise mangels Aktivitäten, die wesentlich über die Kinderbetreuung und diverse Freizeitaktivitäten hinausginge, auch nicht gelebt.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

7        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

9        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10       Die Revision bringt in ihrer allein maßgeblichen Zulässigkeitsbegründung (vgl. dazu etwa VwGH 7.9.2020, Ra 2020/01/0250) zunächst mit näherer Begründung vor, das BVwG habe im Hinblick auf die Lage der Frauen unter der Taliban-Herrschaft den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt, aktenwidrige Schlussfolgerungen bzw. reine Mutmaßungen getroffen und sei damit von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 18 AsylG 2005 und der Verpflichtung, den Sachverhalt vollständig zu ermitteln und festzustellen, abgewichen.

11       Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel dargelegt werden, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise, also fallbezogen darzulegen (vgl. für viele VwGH 15.9.2021, Ra 2021/01/0304, mwN).

12       Das in der Revision angeführte Vorbringen, in dem mit Hinweis auf Medienberichte auf „Warnungen“ bzw. „Befürchtungen“ hingewiesen wird, entspricht diesem Erfordernis schon deshalb nicht, weil das BVwG eine „westliche Orientierung“ der Erstrevisionswerberin mit der oben angeführten Begründung verneint hat.

13       Soweit sich die Revision auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 16.4.2002, 99/20/0483) zur Lage der Frauen in Afghanistan in den von Taliban beherrschten Regionen beruft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Rechtsprechung zu einer anderen Sach- und Rechtslage (aus Mai 1999) ergangen ist.

14       Zur Verneinung einer „westlichen Orientierung“ durch das BVwG behauptet die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen, das BVwG sei von der näher zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur „westlichen Orientierung“ abgewichen. Mit den Angaben, die das BVwG als „überzogen und einstudiert“ gewertet habe, habe die Erstrevisionswerberin jedenfalls deutlich gemacht, dass ihr die wesentlichen Grundfreiheiten in Österreich wichtig seien und sie fürchte, in Afghanistan nicht ohne Verfolgung leben zu können. Auch habe das BVwG zahlreiche Feststellungen zur westlichen Lebensweise der Erstrevisionswerberin getroffen.

15       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen (vgl. etwa VwGH 16.6.2021, Ra 2021/18/0054 bis 0058, mwN).

16       Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt aber dazu, dass ihr deshalb internationaler Schutz gewährt werden müsste (vgl. für viele etwa VwGH 9.2.2021, Ra 2020/01/0405-0406, mwN; vgl. zu Asylwerbern auch VwGH 19.4.2021, Ra 2021/01/0034, mwN).

17       Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. nochmals etwa VwGH Ra 2021/18/0054 bis 0058, mwN).

18       Die Beurteilung, ob eine derartige entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Erstrevisionswerberin vorliegt, hat das BVwG einzelfallbezogen auf Basis seiner Feststellungen und auf Grund des in der Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks vorgenommen.

19       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes soll sich das Revisionsmodell nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers an der Revision nach den §§ 500 ff ZPO orientieren (vgl. ErläutRV 1618 BlgNR 24. GP 16). Ausgehend davon ist der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Auch kann einer Rechtsfrage nur dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn sie über den konkreten Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. für viele VwGH 21.7.2021, Ra 2021/01/0223-0224, mwN; vgl. zur Überprüfung der Beweiswürdigung bei einer behaupteten „westlichen Orientierung“ etwa VwGH 29.4.2019, Ra 2019/01/0142, mwN).

20       Ausgehend davon ist dem BVwG nicht entgegenzutreten, wenn es einzelfallbezogen zum Ergebnis gekommen ist, dass die tatsächlich von der Erstrevisionswerberin gelebten Umstände eine innere Geisteshaltung, die einem gelebten „westlich orientierten“ Lebensstil entspricht, nicht widerspiegelte (vgl. idS bereits etwa VwGH 8.3.2021, Ra 2019/14/0581-0585).

21       Soweit die Revision schließlich vorbringt, das BVwG habe es betreffend die Zweitrevisionswerberin „zur Gänze unterlassen, einen eigenen Fluchtgrund zu prüfen“, so ist darauf hinzuweisen, dass für das Asylverfahren § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der §§ 37 AVG iVm 39 Abs. 2 AVG darstellt. Der Verwaltungsgerichtshof hat zu dieser Bestimmung festgehalten, dass dem Vorbringen des Asylwerbers im Verfahren zentrale Bedeutung zukommt. Das geht auch aus § 18 Abs. 1 AsylG 2005 deutlich hervor, wonach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und das Bundesverwaltungsgericht in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken haben, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Diese Pflicht bedeutet aber nicht, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (vgl. etwa VwGH 21.12.2020, Ra 2020/01/0443, mwN).

22       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat zurückzuweisen.

Wien, am 21. Februar 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010330.L00

Im RIS seit

18.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

22.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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