TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/21 Ra 2021/01/0277

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Veröffentlicht am 21.02.2022
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z6
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
MRK Art8 Abs2
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juli 2021, Zl. G308 2191722-1/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A K in W, vertreten durch Mag. Andreas Reichenbach, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Theobaldgasse 15/21), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Spruchpunkte A) II. und III. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels sowie ersatzlose Aufhebung der Aussprüche über die Zulässigkeit der Abschiebung und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Vorgeschichte

1        Dem Mitbeteiligten, einem irakischen Staatsangehörigen, wurde - nach Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) am 11. November 2015 - mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 16. Dezember 2015 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

2        Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 16. August 2017 wurde der Mitbeteiligte wegen §§ 15, 202 Abs. 1 StGB (versuchte geschlechtliche Nötigung) zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Höhe von 18 Monaten verurteilt.

3        Mit Bescheid des BFA vom 2. März 2018 wurde dem Mitbeteiligten der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 aberkannt, festgestellt, dass ihm gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.), ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.), und eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Angefochtenes Erkenntnis

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) wurde die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen die Spruchpunkte I. bis III. dieses Bescheides des BFA mit der Maßgabe, dass sich die Aberkennung auf § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK („Wegfall der Umstände“) stütze, als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A I.).

5        Darüber hinaus wurde der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen den Spruchpunkt IV. des Bescheides des BFA stattgegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, und dem Mitbeteiligten gemäß § 54, § 55 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt (Spruchpunkt A II.) und wurden die Spruchpunkte V. und VI. des Bescheides des BFA ersatzlos aufgehoben (Spruchpunkt A III.).

Eine Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

6        Begründend stellte das BVwG - soweit vorliegend relevant - fest, der Mitbeteiligte halte sich seit November 2015 in Österreich auf. Er verfüge im Bundesgebiet über keine familiäre Bindungen. Er habe einen Werte- und Orientierungskurs sowie diverse Deutschkurse besucht und verfüge über ein ÖSD-Deutsch-Zertifikat auf dem Niveau A2. Der Mitbeteiligte gehe seit Jänner 2018 - ohne maßgebliche Unterbrechung - einer sozialversicherten Erwerbstätigkeit als Arbeiter nach und beziehe seit diesem Zeitpunkt keine Sozialhilfeleistungen. Ein „darüberhinausgehendes soziales, gesellschaftliches, ehrenamtliches oder gemeinnütziges Engagement ... im Bundesgebiet“ habe nicht festgestellt werden können. Zudem stellte das BVwG die - oben angeführte - Verurteilung des Mitbeteiligten durch das Landesgericht für Strafsachen Wien fest. Der Mitbeteiligte habe den weitaus überwiegenden Teil seines Lebens im Irak verbracht. Er sei dort sozialisiert und verfüge im Herkunftsstaat über viele Verwandte, darunter Geschwister, Cousins, Onkel und Tanten.

7        In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG zu den Spruchpunkten III. bis VI. des Bescheides des BFA zusammengefasst aus, die strafgerichtliche Verurteilung des Mitbeteiligten liege bereits viereinhalb Jahre zurück. Er habe sich seither nichts mehr zu Schulden kommen lassen, gehe seit längerer Zeit einer sozialversicherten Erwerbstätigkeit nach und sei „nur zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt“ worden. Der Mitbeteiligte, welcher aufgrund seines Aufenthalts als Asylberechtigter von dessen grundsätzlicher Dauerhaftigkeit habe ausgehen dürfen, habe seine berufliche Integration sukzessive vorangetrieben und sich zudem um den Erwerb von Sprachkenntnissen bemüht. Folglich würden die privaten Interessen des Mitbeteiligten gegenüber den öffentlichen Interessen überwiegen. Eine Rückkehrentscheidung würde einen unverhältnismäßigen Eingriff in die durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte des Mitbeteiligten darstellen.

Amtsrevision

8        Gegen die Spruchpunkte A II. und III. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

9        Der Mitbeteiligte erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zulässigkeit

10       Zur Zulässigkeit führt die Revision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Wesentlichen aus, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die diesem nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen. Im Revisionsfall liege keine derart außergewöhnliche Konstellation vor, dass trotz des knapp mehr als fünfjährigen Aufenthaltes die privaten Interessen des Mitbeteiligten gegenüber den öffentlichen Interessen überwiegen würden. Die Umstände, dass ein Fremder einer Beschäftigung nachgehe, für seinen Lebensunterhalt selbst aufkomme und Deutsch auf dem Niveau A2 beherrsche, würden - auch angesichts der strafgerichtlichen Verurteilung des Mitbeteiligten - keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale darstellen. Zudem habe das BVwG seine Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte des Fremden darstelle, nicht unter Bedachtnahme aller Umstände des Einzelfalls durchgeführt. Es habe insbesondere die Feststellung, der Mitbeteiligte verfüge über zahlreiche familiäre Bindungen im Herkunftsstaat, außer Acht gelassen.

11       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 26.5.2021, Ra 2021/01/0159, mwN).

12       Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof erfolgt, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist daher nach dem Revisionsmodell nicht dazu berufen, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).

13       Ausgehend davon ist die in der vorliegenden Rechtssache durch das BVwG in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. nochmals VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, und etwa VwGH 11.1.2021, Ra 2020/01/0295, mwN).

14       Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall, weil das BVwG die nachstehend angeführten Aspekte nicht (hinreichend) berücksichtigt hat.

15       Die Revision ist daher zulässig und auch berechtigt.

Rechtslage

16       § 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017, lautet auszugsweise:

Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme

§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

...

4.   einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt ...

...

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird. ...“

17       § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 110/2019, lautet auszugsweise:

Rückkehrentscheidung

§ 52. ...

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

...

3.   ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt

...

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

...

(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. ...“

18       § 58 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 54/2021 lautet auszugsweise:

Antragstellung und amtswegiges Verfahren

§ 58. ...

(2) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. ...“

19       § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 56/2018, lautet auszugsweise:

Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, ... in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.   die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2.   das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3.   die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4.   der Grad der Integration,

5.   die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6.   die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7.   Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8.   die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9.   die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

...

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“

Strafgerichtliche Unbescholtenheit (§ 9 Abs. 2 Z 6 BFA-VG)

20       Dass Straftaten nicht nur das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung erhöhen, sondern auch bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen sind, kann schon deswegen keinem Zweifel unterliegen, weil in § 9 Abs. 2 Z 6 BFA-VG die „strafgerichtliche Unbescholtenheit“ ausdrücklich als einer der dafür maßgeblichen Aspekte genannt wird (vgl. VwGH 6.4.2021, Ra 2021/21/0086). Insbesondere strafrechtliche Verurteilungen stellen Umstände dar, die die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland und eine erfolgte Integration relativieren können, wobei in dem Zusammenhang auch länger zurückliegende Straftaten berücksichtigt werden können (vgl. etwa VwGH 26.5.2021, Ra 2021/01/0159, mwN).

21       Somit erhöht eine fehlende strafgerichtliche Unbescholtenheit (§ 9 Abs. 2 Z 6 BFA-VG) grundsätzlich nicht nur das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung, sondern ist auch bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen, indem sie die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland und eine erfolgte Integration relativieren kann. Ein Fall des § 9 Abs. 6 BFA-VG liegt nicht vor (vgl. zu einem solchen Fall und zur Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach langem Aufenthalt im Bundesgebiet grundsätzlich VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0372, Rn. 43 ff).

22       Vorliegend hat das BVwG das der festgestellten strafgerichtlichen Verurteilung des Mitbeteiligten nach den §§ 15, 202 Abs. 1 StGB (versuchte geschlechtliche Nötigung) zugrunde liegende Fehlverhalten nicht ausreichend berücksichtigt (vgl. zum Einsatz des Nötigungsmittels und dem durch § 202 Abs. 1 StGB geschützten Rechtsgut OGH 25.6.2019, 11 Os 49/19v; vgl. zu einem solchen Delikt und zu der aus einem zugrundeliegenden Fehlverhalten ableitbaren Aggressionsbereitschaft iZm einem Waffenverbot nach dem Waffengesetz VwGH 20.5.2015, Ro 2015/03/0025).

Aufenthaltsdauer (§ 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG)

23       Im Rahmen der Interessenabwägung gemäß § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG ist stets auf die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0372, Rn. 54).

24       Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. etwa VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0330, mwN).

25       Vorliegend zeigt die Amtsrevision im Zusammenhang mit der noch nicht langen Aufenthaltsdauer des Mitbeteiligten im Bundesgebiet (rund fünfeinhalb Jahre) zutreffend auf, dass gegenständlich jedenfalls noch nicht von einer solchen Verdichtung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten auszugehen ist, dass ihm deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste.

26       Zusätzlich zu der oben angeführten fehlenden strafgerichtlichen Unbescholtenheit (§ 9 Abs. 2 Z 6 BFA-VG) weist die Amtsrevision zu Recht darauf hin, dass es das BVwG bei seiner Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK unterlassen hat, die - gemäß den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses - offenkundig nicht stark ausgeprägte soziale Integration des Mitbeteiligten zu berücksichtigen (vgl. zur Maßgeblichkeit der sozialen neben der beruflichen Integration VwGH 24.3.2021, Ra 2021/01/0086, mwN).

27       Ebenso legt die Amtsrevision zutreffend dar, dass das BVwG die festgestellten bestehenden Bindungen des Mitbeteiligten zu dessen Herkunftsstaat gemäß § 9 Abs. 2 Z 5 BFA VG nicht berücksichtigt hat.

Ergebnis

28       Indem das BVwG die angeführten Aspekte nicht (hinreichend) berücksichtigt hat, hat es im vorliegenden Fall seinen Anwendungsspielraum überschritten.

29       Das Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 21. Februar 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010277.L00

Im RIS seit

18.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

22.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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