TE OGH 2021/12/9 5Ob134/21y

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Veröffentlicht am 09.12.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann, die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj V*, geboren am * 2010, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters D*, Frankreich, vertreten durch Mag. Milorad Erdelean, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 22. März 2021, GZ 16 R 360/20k-132, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Baden vom 25. November 2020, GZ 2 Ps 157/18d-123, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Die Revisionsrekursbeantwortung der Mutter S* wird zurückgewiesen.

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

II. Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die im Übrigen als in Rechtskraft erwachsen unberührt bleiben, werden, soweit der Antrag des Vaters auf Einräumung eines Kontaktrechts abgewiesen wurde, aufgehoben. Insoweit wird dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung des Verfahrens aufgetragen.

Text

Begründung:

[1]       Die nunmehr 11-jährige V* ist die eheliche Tochter von S* und D*. Mutter und Tochter sind österreichische Staatsbürger, der Vater ist rumänischer Staatsangehöriger. Die Eltern lebten bis Juni 2017 mit ihrer Tochter in Frankreich. Dort befand sich der Vater vom 19. 6. 2017 bis 14. 11. 2017 wegen des Verdachts der Geldwäsche in Untersuchungshaft. Nach der Inhaftierung des Vaters übersiedelten Mutter und Tochter nach Österreich. Der Vater lebt nach wie vor in Frankreich.

[2]       Schon vor der Festnahme des Vaters gab es massive Probleme zwischen den Eltern. Der Vater war sowohl gegenüber der Mutter als auch der Minderjährigen gewalttätig. Seit etwa Anfang September 2018 drohte der Vater der Mutter wiederholt, ihr die Tochter wegzunehmen, und äußerte sinngemäß, wenn sie gegen ihn in Frankreich aussage, werde er das Kind nach Rumänien bringen bzw jemanden schicken, der sie abholt.

[3]       Nachdem Mutter und Tochter nach Österreich übersiedelt waren, besuchte der Vater die Tochter auf der Durchreise nach Rumänien. Bei einem gemeinsamen Treffen in einem Schwimmbad am 29. 5. 2019 wurde der Vater aggressiv und zornig, weil sich die Minderjährige seiner Aufforderung zu gehen, nicht sofort fügte. Er versetzte ihr zwei Faustschläge gegen den linken Oberarm und kündigte in lauter und aggressiver Stimme an, ihr die Zähne auszuschlagen, wenn sie nicht still sei. Er stieß die Mutter kraftvoll zu Boden und trat mehrmals auf sie ein. Er forderte sie auf, wieder in das Fahrzeug einzusteigen, sonst werde er sie „aus der Welt schaffen“ und drohte, dass das „noch nicht alles sei“. Der Vater wurde wegen dieser Vorfälle der Vergehen der Körperverletzung, der versuchten Nötigung und der gefährlichen Drohung schuldig befunden und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt.

[4]            Seit den Vorfällen vom 29. 5. 2019 gab es zwischen Vater und Tochter keine Kontakte mehr.

[5]            Mit dem im Revisionsrekursverfahren noch relevanten Antrag begehrte der Vater, ihm „mindestens zehn begleitete Kontakte zu seiner Tochter im Ausmaß von einer Stunde zu gewähren“, nach welchen die Besuchsbegleiterin einen Bericht verfassen und [die Minderjährige] neuerlich gefragt werden solle, ob sie den Kindesvater sehen will, und damit zusammenhängend die Ergänzung der fachlichen Stellungnahme der Familiengerichtshilfe nach einer Interaktionsbeobachtung.

[6]       Das Erstgericht wies (auch) diese Anträge des Vaters ab. Die Gewaltanwendung des Kindesvaters sowohl gegenüber der Minderjährigen als auch der Kindesmutter, bewirke eine massive Gefährdung des Wohls der Minderjährigen, weshalb dem Vater die Ausübung des Kontaktrechts zu untersagen sei. Zwar habe die Familiengerichtshilfe in ihrer letzten (telefonischen) Stellungnahme die Herstellung von Kontakten des Vaters zu seiner Tochter längerfristig und nach einer Interaktionsbeobachtung befürwortet, um ihr positive Erfahrungen mit ihrem Vater zu ermöglichen. Das müsse jedoch in Verbindung mit den massiven Drohungen und der deswegen erfolgten Verurteilung des Vaters gesehen werden. Auch lehne die Minderjährige explizit ab, ihren Vater zu sehen. Dazu bezog sich die Erstrichterin auf ihre telefonische Befragung der Minderjährigen vom 27. 10. 2020.

[7]            Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es verneinte eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz, weil dem Vater der Aktenvermerk über das Telefonat mit der Minderjährigen nicht übermittelt worden war, und führte in rechtlicher Hinsicht aus, die Bedeutung des Kindeswillens hänge entscheidend von der Beurteilung ab, ob der Wunsch des Minderjährigen auf ein eindeutig erkennbares Ziel gerichtet und über einen längeren Zeitraum stabil sei und ob davon ausgegangen werden könne, dass der Wille autonom gebildet worden und nicht weitgehend das Ergebnis von Beeinflussungen sei. Die (damals) 10-jährige Minderjährige lehne Kontakte zum Vater explizit ab, wobei dem Sachverhalt keine reduzierte Urteilsfähigkeit entnommen werden könne. Vielmehr liege eine Bewältigungsstrategie und ein Schutzmechanismus vor (emotionaler) Überforderung sowie eine Kompensationsstrategie vor, worin die Überforderung der Minderjährigen klar zum Ausdruck komme. Daher wäre es dem Kindeswohl aktuell nicht zuträglich, sie zu einem Kontakt zu ihrem Vater zu zwingen. Auch ein begleiteter Kontakt führe zwangsläufig zu Irritationen des Kindes und werde von der Minderjährigen ausdrücklich abgelehnt. Damit erscheine ein Kontakt der Minderjährigen zu ihrem Vater verfrüht, sodass er aktuell nicht dem Kindeswohl entspreche.

Rechtliche Beurteilung

[8]       Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters, der zulässig und im Sinn des auf Aufhebung gerichteten Eventualantrags auch berechtigt ist.

I. Zur Zurückweisung der Revisionsrekursbeantwortung der Mutter:

[9]       Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 28. 9. 2021, mit dem ihr die Beantwortung des außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters freigestellt wurde, ist der Mutter am 5. 10. 2021 durch Hinterlegung zugestellt worden. Die Mutter erstattete eine Revisionsrekursbeantwortung, die sie in den Postkasten des Erstgerichts einwarf, von wo sie am 20. 10. 2021 behoben wurde. Beim Obersten Gerichtshof langte sie am 28. 10. 2021 ein.

[10]     Die vierzehntägige Frist (§ 68 Abs 1 Satz 2 AußStrG) zur Beantwortung des Revisionsrekurses, die direkt beim Obersten Gerichtshof einzubringen ist (§ 68 Abs 42 AußStrG), beginnt gemäß § 68 Abs 3 Z 3 AußStrG bei einem außerordentlichen Revisionsrekurs mit der Zustellung der Mitteilung des Obersten Gerichtshofs, dass die Beantwortung des Rekurses freigestellt werde. Das war am 5. 10. 2021 der Fall, weil an diesem Tag die hinterlegte Sendung mit der genannten Mitteilung erstmals zur Abholung bereitgehalten wurde (§ 17 Abs 3 ZustG). Der letzte Tag der Frist für die Revisionsrekursbeantwortung war der 19. 10. 2021. Die Rechtsmittelbeantwortung der Mutter ist daher verspätet und zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0108631 [T4]). Ein Verbesserungsauftrag, weil die Revisionsrekursbeantwortung der Mutter nicht von einem Rechtsanwalt unterschrieben ist (§ 6 Abs 1 letzter Halbsatz, § 65 Abs 3 Z 5 iVm § 68 Abs 1 letzter Halbsatz AußStrG), ist damit entbehrlich (vgl RS0036281).

II. Zum Revisionsrekurs des Vaters:

[11]           1.1 Das Recht auf persönlichen Verkehr zwischen Eltern und Kindern ist ein allgemein anerkanntes Grundrecht der Eltern-Kind-Beziehung, das im Konfliktfall gegenüber dem Wohl des Kindes zurückzustellen ist, wenn die nachteiligen Auswirkungen für das Kind jenes Maß überschreiten, das als Folge der Zerrüttung der Beziehung der Eltern ganz allgemein in Kauf genommen werden muss (RS0048068). Soweit die Ausübung des Rechts das Wohl des Kindes gefährdet, steht den Eltern das Recht auf persönlichen Verkehr nicht zu (RS0047754). Im Konfliktfall hat der Kontaktrechtsanspruch eines Elternteils daher gegenüber dem Kindeswohl zurückzutreten, auch wenn die Ausübung immer nur vorübergehend oder bis auf weiteres, grundsätzlich aber nicht für immer untersagt werden kann (RS0047950 [T10]; RS0048068 [T9]).

[12]     1.2 Grundsätzlich muss jede sich ohne Gefährdung des Kindeswohls bietende Möglichkeit einer Kontaktaufnahme genutzt werden (RS0047754 [T15]). Nach ständiger Rechtsprechung (5 Ob 219/17t mwN) kommt auch der Weigerung eines unmündigen Minderjährigen, mit einem Elternteil in Kontakt zu treten, ein Gewicht bei der Beurteilung zu, inwieweit gegen seinen feststehenden unbeeinflussten Willen die Ausübung des Kontaktrechts ermöglicht werden soll, weil dadurch die ablehnende Haltung des Kindes vertieft und verstärkt werden kann. Die Mündigkeit bildete dabei keine starre Grenze, zumal die Einstellung eines Kindes zum Kontaktrecht mit zunehmendem Alter größeres Gewicht erlangt (RS0047981 [T9]). Jüngere Kinder können aber auch gegen ihren Willen zu einem Kontakt verhalten werden (RS0047981 [T7]). Die bloße Befürchtung einer Irritation des Kindes oder eine „angstbetonte Beziehung“ reichen aber nicht aus, das Kontaktrecht zu untersagen (RS0047950 [T2]). Nur wenn die tatsächliche Ausübung des Kontaktrechts beim Kind merkbare und nicht bloß vorübergehende, seinem Wohl daher abträgliche Auswirkungen zeitigen sollte, sind die persönlichen Kontakte vorübergehend zu untersagen (RS0047950 [T7]).

[13]     1.3 Kontaktrechtsentscheidungen sind zukunftsbezogene Rechtsgestaltung. Sie bedürfen daher einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage, um sachgerecht zu sein (RS0106312). Bei der Beurteilung darf nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden, es sind auch Zukunftsprognosen anzustellen (RS0106312 [T7]).

[14]           2.1 Der Vater beruft sich auf diese Grundsätze und macht dazu insbesondere geltend, dass die Familiengerichtshilfe bereits am 24. 7. 2019 Stellung nahm, und die Erstrichterin zuletzt am 19. 8. 2019, somit deutlich mehr als ein Jahr vor der Entscheidung, selbst (telefonisch) nachfragte. In der Stellungnahme vom 24. 7. 2019 werden Kontakte des Vaters zu seiner Tochter keineswegs als deren Wohl abträglich angesehen, sondern darauf hingewiesen, dass solche künftig durch professionelle Dritte begleitet werden und im Wohnumfeld der Minderjährigen stattfinden sollen. Auch in ihrer telefonischen Ergänzung vom 19. 8. 2019 hat die fachkundige Mitarbeiterin der Familiengerichtshilfe darauf hingewiesen, dass begleitete Kontakte der Minderjährigen zu ihrem Vater langfristig sinnvoll wären, um ihr eine positive Erfahrung mit ihrem Vater zu ermöglichen.

[15]           2.2 Es steht außer Frage, dass die festgestellten Verhaltensweisen des Vaters inakzeptabel sind. Sie waren aber bereits Gegenstand der Stellungnahme vom 24. 7. 2019 und sind damit in die Empfehlung für begleitete Kontakte im Wohnumfeld der Minderjährigen miteingeflossen, sodass nach der Aktenlage schon eine plausible Erklärung dafür fehlt, warum nach der telefonischen Auskunft vom 19. 8. 2019 persönlicher Kontakt „vielleicht nicht sofort sinnvoll“, aber begleitete Kontakte langfristig doch sinnvoll erscheinen, wenn zuvor eine Interaktionsbeobachtung stattfindet. Dieser Widerspruch kann hier aber dahin stehen, weil der Vater mit seinen Anträgen im Ergebnis ohnedies nur darauf abzielt, dass ihm ein Kontakt unter Beobachtung der Interaktion ermöglicht wird. Das Erstgericht hat diese Stellungnahmen zwar festgehalten, ist darauf bei der Beurteilung des Kindeswohls aber nicht mehr zurückgekommen, sodass Anhaltspunkte dafür fehlen, ob die inzwischen verstrichene Zeit nach fachkundiger Einschätzung ausreicht, um dem Vater ungeachtet der intolerablen Vorfälle die Möglichkeit zu eröffnen, mit seiner Tochter in dem von ihm angestrebten Rahmen in Kontakt zu treten, zumal eine solche Kontaktaufnahme bei richtigem Verständnis der Stellungnahme der Familiengerichtshilfe grundsätzlich auch im Interesse der Minderjährigen liegt.

[16]     2.3 Wie dargestellt, ist der Wille eines unmündigen Minderjährigen keineswegs unbeachtlich. Der Weigerung der Tochter, mit ihrem Vater in Kontakt zu treten, kommt daher ein gewisses Gewicht bei der Beurteilung zu, inwieweit dem Vater in Anbetracht der Vorfälle vom 29. 5. 2019 dennoch die Ausübung des (sehr eingeschränkt angestrebten) Kontaktrechts ermöglicht werden soll. Die Minderjährige hat dazu im Alter von knapp über neun Jahren am 12. 11. 2019 zu Protokoll gegeben, dass sie ihren Vater auch im Rahmen eines Besuchskaffees nicht sehen will, und diese Haltung bei einem Telefonat mit der Erstrichterin am 27. 10. 2020 bekräftigt, die darüber einen Aktenvermerk aufgenommen hat. Ein (nach dem Inhalt des Aktenvermerks zuvor mit der Mutter vereinbartes) Telefonat erlaubt keine Aussage darüber, ob die Minderjährige bei diesem Gespräch ihren unbeeinflussten Willen wiedergegeben hat. Da die Vorinstanzen dem Willen der Tochter bei ihrer Entscheidung über das vom Vater angestrebte Kontaktrecht besonderes Gewicht beigemessen haben, ist ein persönlicher Eindruck darüber, ob die geäußerte Ablehnung auf einer autonomen Willensbildung beruht, für die Entscheidungsfindung aber unerlässlich. Damit kann derzeit nicht verlässlich beurteilt werden, inwieweit die (grundsätzlich auch in den Stellungnahmen der Familiengerichtshilfe befürwortete) Ausübung eines begleitenden Kontaktrechts (im begehrten eingeschränkten Rahmen) ungeachtet der seit den Vorfällen vergangenen Zeit bei der Minderjährigen zu einer Verfestigung ihrer ablehnenden Haltung führen würde und damit nicht bloß vorübergehende, ihrem Wohl daher abträgliche Auswirkungen hätte (vgl RS0047950 [T7]).

[17]     3. Eine abschließende Beurteilung des vom Vater für einen eingeschränkten Zeitraum angestrebten Kontaktrechts unter fachkundiger Beobachtung, um die Interaktion zwischen ihm und seiner Tochter beurteilen zu können, ist nach der bisherigen Sachverhaltsgrundlage nicht möglich. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren möglichst zeitnahe Entscheidungsgrundlagen zu schaffen und sich gegebenenfalls persönlich einen Eindruck davon zu verschaffen haben, ob die Ablehnung der Minderjährigen, mit ihrem Vater in Kontakt zu treten, auf einer unbeeinflussten Willensbildung beruht.

[18]     4. Dem Revisionsrekurs des Vaters ist damit Folge zu geben.

Textnummer

E134136

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0050OB00134.21Y.1209.000

Im RIS seit

18.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

18.03.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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