Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H*, S*, vertreten durch die Mahringer, Steinwender, Bestebner Rechtsanwälte OG, Salzburg, gegen die beklagte Partei C*, S*, vertreten durch Dr. Hartmut Ramsauer, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 16.867,44 EUR, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 20. Oktober 2021, GZ 22 R 283/21b-41, mit dem die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Salzburg vom 25. Mai 2021, GZ 16 C 189/19b-26, zurückgewiesen wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
[1] Das der Klage stattgebende Urteil wurde dem bevollmächtigten Vertreter der Beklagten am 26. 5. 2021 zugestellt. Am 17. 6. 2021 beantragte die Beklagte Verfahrenshilfe unter anderem durch Beigebung eines Rechtsanwalts zur Ausführung der Berufung. Das Erstgericht bewilligte die Verfahrenshilfe am 6. 7. 2021. Der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer bestellte mit Bescheid vom selben Tag den bisher bevollmächtigten Beklagtenvertreter zum Verfahrenshelfer. Das Erstgericht stellte ihm diesen Bescheid am 13. 7. 2021 zu. Am 2. 9. 2021 erhob die Beklagte Berufung gegen das Ersturteil. Am 23. 9. 2021 hob das Rekursgericht den Beschluss über die Bewilligung der Verfahrenshilfe aufgrund eines vom Kläger erhobenen Rekurses zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Am 5. 10. 2021 zog die Beklagte ihren Verfahrenshilfeantrag ohne Begründung zurück.
[2] Das Berufungsgericht wies die Berufung als verspätet zurück, weil die Zurückziehung des Verfahrenshilfeantrags ex tunc wirke, dessen Unterbrechungswirkung daher nachträglich entfalle und die Berufungsfrist am 2. 9. 2021 somit bereits abgelaufen gewesen sei. Es ließ den „Revisionsrekurs“ zur Frage zu, ob die begründungslose Zurückziehung eines Verfahrenshilfeantrags auch dann ex tunc wirkt, wenn die Verfahrenshilfe schon vom Erstgericht bewilligt und dieser Beschluss vom Rekursgericht aufgehoben wurde.
Rechtliche Beurteilung
[3] Der (richtig) Rekurs der Beklagten, mit dem sie die Aufhebung des Zurückweisungsbeschlusses anstrebt, ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO jedenfalls zulässig (RIS-Justiz RS0098745 [T3]); er ist auch berechtigt.
[4] 1. Die Rücknahme eines Antrags auf Verfahrenshilfe wirkt nach der Rechtsprechung grundsätzlich ex tunc, sodass die durch den Antrag eingetretene Unterbrechung der Rechtsmittelfrist hinfällig wird (RS0110058; 4 Ob 158/16p). Die Partei hätte es sonst in der Hand, durch die Erhebung und spätere Rücknahme ihres Verfahrenshilfeantrags eine verfahrensrechtliche Notfrist zu verlängern (1 Ob 125/08a; 8 Ob 109/09a).
[5] 2. Diese Judikatur betraf jeweils Verfahrenskonstellationen, in denen der Verfahrenshilfeantrag zurückgezogen wurde, bevor das Erstgericht über diesen entschieden hatte. Im vorliegenden Fall hatte das Erstgericht die Verfahrenshilfe aber bereits bewilligt und den Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer, mit dem ein Rechtsanwalt zum Verfahrenshelfer bestellt wurde, an diesen zugestellt. Damit traten die Rechtswirkungen der Bestellung zum Verfahrenshelfer – unabhängig von der Rechtskraft des gerichtlichen Beschlusses über die Bewilligung der Verfahrenshilfe (M. Bydlinski in Fasching/Konecny³ § 67 ZPO Rz 2; Fucik in Rechberger/Klicka ZPO5 § 67 Rz 1; vgl auch Oberlandesgericht Wien 33 R 109/20x) – ein. Auch die zunächst unterbrochene Berufungsfrist begann gemäß § 464 Abs 3 ZPO unabhängig von der Rechtskraft dieses Beschlusses (vgl Klicka/Rechberger in Rechberger/Klicka, AußStrG³ § 7 AußStrG Rz 4 zur vergleichbaren Bestimmung des § 7 Abs 2 AußStrG; ebenso G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 7 Rz 14) neu zu laufen.
[6] 3. Treten die Wirkungen der Bestellung eines Verfahrenshelfers unabhängig von der Rechtskraft des die Verfahrenshilfe bewilligenden Beschlusses ein, so liegt es nach Ansicht des erkennenden Senats nahe, auch bei der Beurteilung der Auswirkung der Zurückziehung des Verfahrenshilfeantrags auf den Beginn und den Lauf der Berufungsfrist darauf abzustellen, ob dieser Beschluss – ungeachtet seiner allenfalls noch nicht eingetretenen Rechtskraft – bereits zur wirksamen Bestellung eines Verfahrenshelfers (durch gerichtliche Zustellung des Bescheids des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer an diesen) geführt hat.
[7] Zieht die Partei ihren Verfahrenshilfeantrag, über den noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, erst nach wirksamer Bestellung des Verfahrenshelfers zurück, entfällt zwar die Grundlage für dessen weitere Tätigkeit (inwieweit er die Partei allenfalls noch vor unmittelbaren Rechtsnachteilen schützen muss, muss hier nicht beurteilt werden). Es erschiene aber nicht sachgerecht, würden vom Verfahrenshelfer (zunächst) wirksam (und fristgerecht) vorgenommene Prozesshandlungen in diesem Fall nachträglich unwirksam werden (bzw verspätet sein). Dies widerspräche auch dem Gedanken des § 68 Abs 4 erster Satz ZPO, wonach der Verfahrenshelfer bis zum Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses, mit dem der Partei die Verfahrenshilfe (mit Wirkung ex tunc) entzogen wird, berechtigt und verpflichtet bleibt, für die Partei zu handeln, woraus sich ergibt, dass von diesem zuvor vorgenommene Verfahrenshandlungen jedenfalls wirksam bleiben. Für die hier vertretene Auffassung spricht auch, dass die Partei im Fall der ex tunc wirkenden Entziehung der Verfahrenshilfe gemäß § 68 Abs 4 zweiter Satz ZPO insoweit vor weiteren prozessualen Nachteilen geschützt wird, als mit Zustellung des Beschlusses über die Entziehung der Verfahrenshilfe an den Rechtsanwalt der Lauf der Frist zur Erhebung von Rechtsmitteln gegen andere Entscheidungen des Gerichts bis zum Eintritt der Rechtskraft des genannten Beschlusses gehemmt wird und mit dessen Rechtskraft von neuem zu laufen beginnt. Dass der Partei aufgrund einer Rücknahme ihres Verfahrenshilfeantrags, aufgrund dessen Bewilligung durch das Erstgericht der Verfahrenshelfer bereits wirksame und (aus damaliger Sicht fristgerechte) Verfahrenshandlungen gesetzt hat, nachträglich eine Fristversäumnis zur Last gelegt würde, entspräche diesem Schutzgedanken nicht. Warum die Partei, die ihren Verfahrenshilfeantrag nach Bewilligung durch das Erstgericht und wirksamer Bestellung eines Verfahrenshelfers zurückzieht, weniger schutzwürdig sein sollte, als jene Partei, der die Verfahrenshilfe nach Bewilligung (mit Wirkung ex tunc) entzogen wird, weil die Voraussetzungen dafür bereits von Anfang an nicht vorlagen, ist nicht ersichtlich.
[8] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Textnummer
E134109European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00224.21D.0125.000Im RIS seit
16.03.2022Zuletzt aktualisiert am
16.03.2022