Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch Dr. Franz Amler, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1081 Wien, Josefstädter Straße 80, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. September 2021, GZ 7 Rs 84/21f-12, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger arbeitete am 30. 7. 2020 im Homeoffice an seiner Wohnadresse. Der Dienstgeber gestattete ihm auch im Homeoffice, eine halbe Stunde Mittagspause zu machen. Diese muss spätestens 6 Stunden nach Dienstbeginn (um 7:00 Uhr) gehalten werden. Der Kläger hatte an diesem Tag vor, sich „irgendeine kalte Jause“ zu kaufen. Er fuhr mit seinem Motorrad über einen vom Erstgericht festgestellten – und unstrittig infolge des starken Verkehrsaufkommens über die Mittagszeit vom Kläger über Nebenwege und nicht über die Hauptstraßen gewählten – Weg von 3 km rund 6 Minuten zu einer „H*-Filiale“. Auf dem Rückweg begann sein Motorrad zu brennen. Der Kläger erlitt Verbrennungen an mehreren Körperregionen. Gegenüber der Wohnadresse des Klägers befindet sich in rund 120 m Entfernung ein E*-Supermarkt, der in einer Minute zu Fuß zu erreichen ist. In 500 m Entfernung befindet sich ein P*-Markt, der in rund 6 Minuten zu Fuß zu erreichen ist.
[2] Mit Bescheid vom 18. 2. 2021 lehnte die Beklagte unter Anwendung des § 117 B-KUVG die Anerkennung des Vorfalls vom 30. 7. 2020 als Arbeitsunfall und die Gewährung von Leistungen gemäß §§ 173 ff ASVG ab.
[3] Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren auf Feststellung, dass die beim Unfall vom 30. 7. 2020 erlittenen Gesundheitsstörungen Folgen eines Arbeitsunfalls seien, und auf Gewährung einer Versehrtenrente ab.
Rechtliche Beurteilung
[4] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
[5] 1.1 Gemäß § 175 Abs 2 Z 7 ASVG sind Arbeitsunfälle auch Unfälle, die sich auf einem Weg von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte ereignen, den der Versicherte zurücklegt, um während der Arbeitszeit, einschließlich der in der Arbeitszeit liegenden gesetzlichen sowie kollektivvertraglich oder betrieblich vereinbarten Arbeitspausen, in der Nähe der Arbeits- oder Ausbildungsstätte oder in seiner Wohnung lebenswichtige persönliche Bedürfnisse zu befriedigen, anschließend auf dem Weg zurück zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte sowie bei dieser Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse, sofern sie in der Nähe der Arbeits- oder Ausbildungsstätte, jedoch außerhalb der Wohnung des Versicherten erfolgt.
[6] 1.2 Die Wohnadresse des Klägers gilt im vorliegenden Fall gemäß § 175 Abs 1b ASVG unstrittig als Arbeitsstätte im Sinn des § 175 Abs 2 Z 7 ASVG (§ 734 ASVG).
[7] 1.3 Die Voraussetzungen, unter denen nach § 175 Abs 2 Z 7 ASVG für einen Wegunfall Versicherungsschutz gewährt werden soll, sind folgende: Der Weg muss in der Arbeitszeit bzw während der Dauer einer Arbeitspause zurückgelegt worden sein, er muss der Befriedigung lebenswichtiger persönlicher Bedürfnisse (lebensnotwendiger Bedürfnisse) gedient haben (RS0106692), und das Ziel des Wegs (bzw im Fall des Rückwegs: der Ausgangspunkt) muss entweder die Wohnung der versicherten Person oder aber ein in der Nähe der Arbeitsstätte gelegener Ort sein (Schrattbauer, UV-Schutz bei Wegunfall in der Mittagspause, ZAS 2014/6, 37 [40]; 10 ObS 169/12v SSV-NF 27/18; 10 ObS 35/13i SSV-NF 27/28).
[8] 1.4 Geschützt ist daher nach § 175 Abs 2 Z 7 ASVG ausnahmsweise ein privater Weg, der (in der Regel) in einer Arbeitspause zurückgelegt wird, und dadurch eine betriebliche „Färbung“ erhält, dass er beschäftigungsbedingt vom Arbeitsplatz angetreten werden muss. § 175 Abs 2 Z 7 ASVG ist eine abschließende Regelung, die nicht analogiefähig ist: Der geforderte Zusammenhang zur betrieblichen Tätigkeit ist nur dann zu bejahen, wenn im konkreten Fall alle im Gesetz genannten Tatbestandsmerkmale erfüllt sind (R. Müller in SV-Komm, § 175 ASVG Rz 223; Schrattbauer, DRdA 2014, 40).
[9] 2.1 Da das Gesetz auf einen Ort „in der Nähe“ abstellt, besteht ein Versicherungsschutz nicht nur dann, wenn das nächstgelegene Lokal oder der nächstgelegene Platz zur Befriedigung des Bedürfnisses aufgesucht wird. Es wird dem Versicherten in diesem Zusammenhang vielmehr eine gewisse Bewegungsfreiheit zugestanden (RS0128645 [T2]). Die Einschränkung „in der Nähe“ erlaubt aber den Schluss, dass in der Regel der maßgebliche Ort von der Arbeitsstätte zu Fuß in solch einer Zeit erreichbar sein muss, dass während der Arbeitspause Hin- und Rückweg zurückgelegt und das Essen eingenommen werden können. Wird ein weit entfernter Ort aufgesucht und ist dies nicht mehr wesentlich durch die Notwendigkeit der Essenseinnahme geprägt, so sind weder der Weg noch die Verrichtung geschützt (RS0128646 [T1]). Nur hinsichtlich des notwendigerweise mit der Bedürfnisbefriedigung verbundenen Wegs ist eine Risikoüberwälzung auf die Versichertengemeinschaft zu rechtfertigen, nicht aber dann, wenn sich die versicherte Person durch die Wahl eines weiter von der Arbeitsstätte entfernten Ortes einer unnötigen Gefahr aussetzt (10 ObS 169/12v; Schrattbauer, DRdA 2014, 41).
[10] 2.2 Welcher Ort nach dieser Bestimmung noch in der Nähe liegt, ist nach den jeweiligen besonderen Verhältnissen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0128646). Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass der Weg des Klägers im konkreten Fall nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand, ist nicht korrekturbedürftig. Schon das Erstgericht hat zutreffend ausgeführt, dass bereits die Wahl des Klägers, mit dem Motorrad über Nebenwege zu einem drei Kilometer entfernten Supermarkt zu fahren (statt zu Fuß einen nur eine Minute entfernt liegenden aufzusuchen, um sich eine kalte Jause zu kaufen) die Unfallgefahr unnötig erhöht hat. Daran ändert die Argumentation des Klägers, er sei äußerst sorgsam unterwegs gewesen, habe die Hauptstraßen vermieden und Nebenwege gewählt, nichts. Dem weiteren Argument des Erstgerichts, dass schon die längere Fahrtzeit mit dem Motorrad allenfalls längere Wartezeiten im nächstgelegenen Supermarkt „kompensiert“, hält der Revisionswerber neuerlich „erhebliche“ Wartezeiten im nächstgelegenen Supermarkt entgegen. Dass ihm die Einhaltung der Mittagspause und der Verzehr der Jause in der Pause nicht möglich gewesen wäre, behauptet er nicht. Dem Argument des Klägers, im – ebenfalls in wenigen Minuten zu Fuß erreichbaren – P*-Markt habe es nicht die von ihm gewünschten Mahlzeiten gegeben, ist zu entgegnen, dass die Wahl eines weiter entfernten Supermarkts aufgrund bestimmter Vorlieben dem nicht versicherten eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen ist (10 ObS 35/13i).
Textnummer
E134080European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00183.21S.0125.000Im RIS seit
14.03.2022Zuletzt aktualisiert am
14.03.2022