Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H* G*, vertreten durch Dr. Herbert Laimböck, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei A*-Aktiengesellschaft, *, vertreten durch Dr. Franz Schöberl, Rechtsanwalt in Wien, wegen 145.080 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei und die Rekurse der klagenden sowie der beklagten Partei gegen das Teilurteil und den Aufhebungsbeschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. Juli 2021, GZ 33 R 27/21i-86, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 23. Jänner 2021, GZ 33 Cg 65/16g-82, teilweise bestätigt und teilweise aufgehoben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision und die Rekurse werden zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.314,44 EUR (darin enthalten 385,74 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisions- und des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Zwischen den Streitteilen besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUVB 2011) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:
„Artikel 6 – Was ist ein Unfall?
Begriff des Unfalles
1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.
[…]
Artikel 19 – Welche sachlichen Begrenzungen gibt es?
Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes
1. Eine Versicherungsleistung wird nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen (körperliche Schädigung oder Tod) erbracht.
[...]
3. Auswirkungen von Vorerkrankungen, Gebrechen oder Abnützungserscheinungen
3.1 Haben Krankheiten, Gebrechen oder Abnützungserscheinungen, die schon vor dem Unfall bestanden haben, die Unfallfolgen beeinflusst, ist
- im Falle von dauernder Invalidität (gemäß Art. 7, Pkt. 1) der Invaliditätsgrad,
- […]
entsprechend dem Anteil der Krankheit, des Gebrechens oder der Abnützungserscheinung zu kürzen.
[...]“
[2] Die Revision der Beklagten gegen das Teilurteil und die Rekurse des Klägers sowie der Beklagten gegen den Aufhebungsbeschluss sind entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO bzw § 526 Abs 2 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig. Die Zurückweisung der Rechtsmittel kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a iVm § 510 Abs 3 letzter Satz ZPO; vgl auch RS0043691):
Rechtliche Beurteilung
[3] 1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet (Art 6.1. AUVB 2011).
[4] 1.1. Dass eigenes Verhalten zum Unfall beitragen, ihn sogar herbeiführen kann, ist in der Unfallversicherung nicht zweifelhaft. Dabei wird zwar ein gewolltes und gesteuertes Verhalten des Versicherungsnehmers nicht als Unfallereignis angesehen werden können, ein Unfall liegt dagegen aber bei einem Vorgang vor, der vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und beherrscht wurde, sich dieser Beherrschung aber durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und nunmehr schädigend auf den Versicherten eingewirkt hat (RS0082008). Zum Begriff der „Plötzlichkeit“ des Unfalls gehört das Moment des Unerwarteten und des Unentrinnbaren. Für den Versicherten muss die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen kann (RS0082022). „Plötzlich“ sind damit zwanglos alle Ereignisse, die sich in einem sehr kurzen Zeitraum unerwartet ereignen. Es können aber auch allmählich eintretende Ereignisse unter den Begriff fallen, wenn sie nur für den Versicherungsnehmer unerwartet und unvorhergesehen waren. Ein Unfallereignis liegt damit nur dann vor, wenn objektiv für den betroffenen Versicherungsnehmer kein Grund bestand, mit den konkret eingetretenen Umständen zu rechnen, er davon überrascht wurde und ihnen nicht entgehen konnte (RS0131133). Hat also ein Versicherungsnehmer zwar selbst nicht damit gerechnet, den konkreten widrigen Umständen in dieser Form zu begegnen, hätte er dies aber objektiv betrachtet in der konkreten Situation tun müssen, mangelt es an der beachtlichen subjektiven Komponente, sodass nicht von „Plötzlichkeit“ und einem Unfallgeschehen gesprochen werden kann (7 Ob 79/16t).
[5] 1.2. Der Kläger leidet an Diabetes Mellitus und diabetischer Polyneuropathie. Ein Charakteristikum der Erkrankung Diabetes Mellitus ist die schlechte Wundheilung, die erhöhte Infektionsanfälligkeit sowie eine allgemein stark erhöhte Komplikationsrate bei Erkrankungen und Verletzungen. Charakteristikum der diabetischen Polyneuropathie ist der teilweise oder vollständige Funktionsausfall der sensiblen und motorischen Nerven.
[6] Der Kläger nahm am 15. Jänner 2014 im Rahmen einer Massage-Behandlung ein Fußbad, bei dem zur Erwärmung des Wassers ein elektronisches Gerät verwendet wurde. Aufgrund einer Fehlfunktion erhitzte das Gerät das Wasser zu stark (Einstellung auf ca 37° C, Erhitzung auf ca 60° C), was dem Kläger aber aufgrund seiner Erkrankungen zunächst (ca 10 Minuten lang) nicht auffiel. Als er die Hitze bemerkte, zog er die Beine zwar sofort aus dem Wasser, hatte aber bereits zweit- und drittgradige Verbrennungen erlitten, die eine Behandlung im Krankenhaus, mehrere Operationen und aufgrund einer chronischen Infektion auch die notfallmäßige Amputation des linken Unterschenkels notwendig machten.
[7] 1.3. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die Einwirkung des heißen Wassers auf die Unterschenkel des Klägers über einen Zeitraum von rund 10 Minuten als Unfall im Sinn von Art 6.1. AUVB 2011 zu qualifizieren ist, hält sich im Rahmen der Judikatur. Beim Aufheizen der Wassertemperatur von 37° C auf etwa 60° C in rund 10 Minuten handelte es sich zwar um ein allmählich eintretendes Ereignis, allerdings bestand objektiv kein Grund, dass der Kläger mit dem Erwärmen des Wassers über die anfänglich eingestellten 37° C rechnen musste und er konnte sich dem Ereignis auch nicht entziehen, weil er die Erhitzung aufgrund seiner Erkrankungen solange nicht spürte bis er bereits starke Verbrennungen erlitten hatte.
[8] 2. Art 19.3. AUVB 2011 enthält eine Regelung über die Leistungskürzung bei mitwirkenden Ursachen. Haben Krankheiten, Gebrechen oder Abnützungserscheinungen, die schon vor dem Unfall bestanden, die Unfallfolgen beeinflusst, ist im Falle der Invalidität der Invaliditätsgrad, ansonsten die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit, des Gebrechens oder der Abnützungserscheinung zu kürzen.
[9] 2.1. Bei dieser Klausel wird allein auf die Mitwirkung der Krankheiten, Gebrechen oder Abnützungserscheinungen auf die Unfallfolgen abgestellt, nicht jedoch darauf, ob beim Unfallereignis selbst Vorerkrankungen mitgewirkt haben (7 Ob 103/15w zu Art 18.3. AUVB 2005 = RS0119520 [T1]).
[10] Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die beim Kläger bestehenden Erkrankungen zwar am Unfallereignis mitgewirkt haben, weil er mangels Fähigkeit den Temperaturanstieg wahrzunehmen die Füße nicht bereits bei 45° C aus dem Wasser gezogen hat, dies aber im Sinn der zitierten Judikatur nicht zu einer Minderung der Ansprüche des Klägers führt, ist somit nicht korrekturbedürftig.
[11] 2.2. Art 19.3. AUVB 2011 sieht eine sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes insofern vor, als eine Versicherungsleistung nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen zu erbringen ist, der Versicherer also nur für die Folgen einzutreten hat, für die der Unfall (allein) kausal ist (RS0119520 [T1] zu Art 18.3. AUVB 2005). Der durchschnittliche Versicherungsnehmer versteht diese Regelung so, dass unfallfremde Krankheiten, Gebrechen oder Abnützungserscheinungen grundsätzlich zu seinen Lasten gehen, nämlich zu einer Kürzung des Anspruchs oder einem Abzug von der Gesamtinvalidität führen (7 Ob 103/15w zu Art 18.3. AUVB 2005). Bei der Quantifizierung des Mitwirkungsanteils ist vom konkreten Versicherungsnehmer und seiner individuellen Körpergestaltung auszugehen. Zu vergleichen ist die versicherte Person, wie sie ist (also mit vorhandenen Gebrechen und Krankheiten) und wie sie auf das Unfallereignis reagiert hat, mit ihrem Zustand ohne das konkrete Gebrechen oder die konkrete Krankheit und wie sie auf den Unfall dann reagiert hätte (7 Ob 170/18b mwN). Der Mitwirkungsanteil eines Gebrechens oder einer Krankheit an den Unfallfolgen ist eine nicht revisible Tatfrage (RS0119522 [T1]).
[12] 2.2.1. Der Kläger erlitt aufgrund der Einwirkung von heißem Wasser über rund 10 Minuten auf die Haut zweit- und drittgradige Verbrennungen, weil er aufgrund seiner Erkrankungen zu spät auf die thermischen Gegebenheiten reagierte. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass ein Mitwirkungsanteil der Vorerkrankungen des Klägers an seinen Verbrennungen zu verneinen ist, bedarf keiner Korrektur durch den Obersten Gerichtshof, weil der Kläger durch das Unfallereignis (Einwirkung von heißem Wasser auf die Haut) dieselben Unfallfolgen (Verbrennungen) auch ohne seine Vorerkrankungen erlitten hätte.
[13] 2.2.2. Ebenfalls nicht korrekturbedürftig ist die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass ein Mitwirkungsanteil der Vorerkrankungen des Klägers an den weiteren Unfallfolgen, nämlich der chronischen Infektion/Sepsis und der Amputation des linken Unterschenkels, sehr wohl zu berücksichtigen ist, stellte das Erstgericht doch fest, dass bei den vom Kläger erlittenen Verbrennungen das Risiko einer Wundinfektion samt nachfolgender Amputation im Vergleich zu Personen ohne seine Vorerkrankungen deutlich höher ist.
[14] Der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, kann aber nach ständiger Rechtsprechung dem Gericht zweiter Instanz nicht entgegentreten, wenn es von einer richtigen Rechtsansicht ausgehend den Sachverhalt – hier zur Frage des Mitwirkungsanteils an den weiteren Unfallfolgen – für ergänzungsbedürftig hält (RS0042179 [T20, T22]).
[15] 3. Die Revision der Beklagten gegen das Teilurteil und die Rekurse des Klägers sowie der Beklagten gegen den Aufhebungsbeschluss sind somit mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage unzulässig.
[16] 4. Der Kostenausspruch beruht auf §§ 41, 50 Abs 1 ZPO. Im Zwischenstreit über die mangels erheblicher Rechtsfrage verneinte Zulässigkeit der Rechtsmittel gegen ein Teilurteil und einen Aufhebungsbeschluss im Sinn des § 519 Abs 1 Z 2 ZPO findet ein Kostenvorbehalt nach § 52 ZPO nicht statt (RS0123222). Vielmehr hat der Rechtsmittelgegner einen Kostenersatzanspruch, wenn er auf diese Unzulässigkeit hingewiesen hat (RS0123222 [T8]).
[17] Der Kläger hat für seine Revisions- und Rekursbeantwortung einen Kostenersatzanspruch, weil er auf die Unzulässigkeit der Rechtsmittel der Beklagten hingewiesen hat. Ihm gebühren jedoch nicht – wie von ihm verzeichnet – Kosten für zwei getrennte Schriftsätze (vgl 8 Ob 103/09v), sondern lediglich für einen Schriftsatz auf Basis des Gesamtstreitwerts. Da die Beklagte in ihrer Rekursbeantwortung auf den vorliegenden Zurückweisungsgrund nicht hingewiesen hat, stehen ihr dafür hingegen keine Kosten zu.
Textnummer
E134088European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00178.21H.0126.000Im RIS seit
14.03.2022Zuletzt aktualisiert am
14.03.2022