Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. Dr. O* K* und 2. R* K*, beide vertreten durch Dr. Olaf Borodajkewycz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei F* GmbH, *, vertreten durch die PHH Prochaska Havranek Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien, wegen 5.116 EUR sA, infolge Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 16. Juni 2021, GZ 21 R 81/21a-26, womit das Urteil des Bezirksgerichts Purkersdorf vom 11. März 2021, GZ 6 C 361/20v-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 12 Abs 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 25. 11. 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen dahingehend auszulegen,
- [a] dass für die Beurteilung der Berechtigung des Rücktritts nur jene unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände maßgeblich sind, die im Zeitpunkt des Rücktritts bereits aufgetreten sind,
- [b] oder dahingehend, dass auch außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplant gewesenen Beginn der Reise (= spätest möglicher Rücktrittszeitpunkt) sodann tatsächlich auftreten?
Falls [a] bejaht wird:
- [aa]: Ist Art 12 Abs 2 der Richtlinie dahingehend auszulegen, dass sich der Reisende in der gerichtlichen Auseinandersetzung über die Berechtigung seines Rücktritts auch auf solche unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände berufen kann, die im Zeitpunkt seines Rücktritts bereits aufgetreten, ihm aber erst später bekannt geworden sind?
2. Ist Art 12 Abs 2 der Richtlinie dahingehend auszulegen, dass ein kostenfreies Rücktrittsrecht dann nicht zusteht, wenn die Umstände, auf die sich der Reisende stützt, bei der Buchung bereits vorgelegen haben und dem Reisenden bekannt waren?
II.2. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Text
Begründung:
A. Sachverhalt
[1] Die Kläger, ein Ehepaar, hatten ursprünglich eine Schiffskreuzfahrt gebucht, die in Singapur gestartet wäre und auch Länder wie Indonesien und Australien umfasst hätte. Diese Reise wurde von der Reiseveranstalterin am 14. 2. 2020 mit der Begründung, dass sich in Ostasien das Covid-19-Virus (Corona-Virus) ausbreite, abgesagt.
[2] Da der Erstkläger aber aufgrund seiner Urlaubsplanung einen Urlaub antreten wollte, suchten die Kläger im Internet nach möglichen Reisedestinationen, die vom Corona-Virus noch nicht betroffen waren. Ihnen war bekannt, dass sich das Corona-Virus vor allem im ostasiatischen Raum ausbreitete. Sie überprüften, wo das Virus noch nicht grassierte, und überlegten, wohin es sich voraussichtlich nicht ausbreiten werde. Nach diesen Überlegungen buchten sie am 15. 2. 2020 bei der Beklagten eine Pauschalreise in den Oman. Die Reise hätte am 6. 3. 2020 mit einem Flug von Wien über Doha nach Mascat beginnen und am 19. 3. 2020 mit einem Flug von Salalah über Doha nach Wien enden sollen. Vorgesehen war eine Bus-Rundreise an der Nord- und Südküste des Oman.
[3] Am 24. 2. 2020 wurden erstmals zwei Covid-19-Fälle im Oman bestätigt. Als die Kläger am 25. 2. 2020 hiervon erfuhren, traten sie noch am selben Tag schriftlich von der Reise zurück, um eine Ansteckung mit dem Corona-Virus auf der geplanten Reise zu vermeiden. Sie hatten die Information zur Viruslage im Oman über das „Zentrum für Impfen und Reisemedizin Hamburg“ im Wege des Internet eingeholt. Ob es eine Reisewarnung vom österreichischen Außenministerium für den Oman gab, hatten sie nicht geprüft; eine solche bestand zu diesem Zeitpunkt nicht. Covid-19 wurde am 11. 3. 2020 (somit noch während der geplanten Reise) von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Pandemie eingestuft und damit als Infektionskrankheit, die nicht örtlich beschränkt ist, sondern global auftritt.
[4] Die Beklagte behielt vom gezahlten Reisepreis einen Teil mit der Begründung ein, den Klägern wäre kein kostenfreier Reiserücktritt möglich.
B. Prozessstandpunkte der Parteien und bisheriges Verfahren:
[5] Die Kläger begehren mir ihrer Klage unter Berufung auf § 10 Abs 2 PRG (Pauschalreisegesetz) die Rückzahlung des einbehaltenen Betrags. Zum Zeitpunkt der Buchung (15. 2. 2020) hätten sie selbst sowie auch die Beklagte davon ausgehen können, dass es sich beim Oman um ein sicheres Reiseziel handle. Es seien damals noch keine Fälle von Covid-19 im Oman bekannt gewesen. Covid-19 habe sich damals auf die Kontinentalmasse des asiatischen Kontinents beschränkt, von der die arabische Halbinsel weitgehend isoliert sei. Erst am 24. oder 25. 2. 2020 seien die ersten Fälle von Covid-19 im Oman bekannt geworden, Anfang März 2020 habe sich die Zahl der Infizierten aber bereits auf 2.300 erhöht gehabt.
[6] Die Beklagte tritt einer Anwendung von § 10 Abs 2 PRG zum einen mit dem Argument entgegen, die Kläger hätten bereits in bewusster Übernahme des Covid-19-Risikos die Reise gebucht, zum anderen mit dem Argument, im Zeitpunkt des Rücktritts hätten keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Pauschalreise vorgelegen.
[7] Die Vorinstanzen wiesen – vom eingangs genannten Sachverhalt ausgehend – die Klage ab. Das tatsächliche Geschehen nach dem Reiserücktritt hielten sie für irrelevant, weshalb sie insofern weitestgehend keine Feststellungen trafen.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Oberste Gerichtshof hat über die Revision der Kläger zu entscheiden, mit der diese die Stattgebung ihrer Klage anstreben.
C. Relevante Normen:
C.1. Art 12 Abs 2 der (neuen) Pauschalreise-Richtlinie (2015/2302/EU) lautet:
„Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise
Art. 12 (1) […]
(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.“
C.2. § 10 (österreichisches) Pauschalreisegesetz (PRG, BGBl I 2017/50) lautet auszugsweise:
„Rücktritt vom Pauschalreisevertrag vor Beginn der Pauschalreise
§ 10 (1) […]
(2) Unbeschadet des Rücktrittsrechts nach Abs. 1 kann der Reisende vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Entschädigung vom Pauschalreisevertrag zurücktreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Tritt der Reisende nach diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so hat er Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, nicht aber auf eine zusätzliche Entschädigung.“
D. Begründung der Vorlage
[9] Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt maßgeblich von der Auslegung von Art 12 Abs 2 der Richtlinie ab, an der sich ihrerseits die Auslegung von § 10 Abs 2 PRG zu orientieren hat. Nach Einschätzung des Obersten Gerichtshofs besteht hinsichtlich der eingangs gestellten Fragen kein acte clair.
[10] Zu den Fragen [1a] und [1b] wird angemerkt, dass der Wortlaut von Art 12 Abs 2 der Richtlinie das Auftreten von Umständen verlangt, „die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“. Da es sich um einen „Rücktritt vor Reisebeginn“ handelt, ist die Beeinträchtigung der Durchführung notwendiger Weise von einer Prognose abhängig. Dabei können die Umstände, die den Kunden zum Rücktritt veranlassen, schon zu diesem Zeitpunkt eine Beeinträchtigung als sicher vorhersehen lassen (etwa eine Naturkatastrophe am Zielort, der Ausbruch eines Bürgerkriegs) oder aber nur eine Entwicklung erwarten lassen, die den reibungslosen Ablauf der Reise beeinträchtigen wird (etwa politische Entwicklungen, die Unruhen erwarten lassen; Unwetterwarnungen).
[11] Es läge die Ansicht nahe, dass die Berechtigung eines Rücktritts stets nur nach der Sachlage zum Zeitpunkt seiner Erklärung zu beurteilen ist (Prognose ex ante). Hierfür spräche der Gedanke, dass der Rücktritt bei seiner Erklärung entweder berechtigt oder unberechtigt ist und theoretisch das Gericht sofort nach der Rücktrittserklärung sein Urteil über die Berechtigung des Rücktritts fällt.
[12] Stellte man bei der Prognose allein auf den Zeitpunkt des Rücktritts ab, so würde dies zu einer Ungleichbehandlung von Reisenden führen, je nachdem wann sie zurückgetreten sind und ob zu diesem Zeitpunkt für eine erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Reise (oder der Beförderung von Personen an den Bestimmungsort) hinreichend sprechende Umstände vorlagen. Dass der Rücktritt eines „vorschnell“ (ohne das Vorliegen hinreichender Umstände) zurückgetretenen Reisenden nicht zur Rückforderung des gesamten Reisepreises berechtigt, obgleich zwar nach seinem Rücktritt, aber noch vor Reisebeginn Umstände eingetreten sind, die zu diesem Zeitpunkt sehr wohl den Rücktritt gerechtfertigt hätten, könnte als unbillig erscheinen. Um dies zu vermeiden, könnte die Ansicht vertreten werden, dass ein Rücktritt dann berechtigt ist, wenn entweder bei seiner Erklärung oder danach bis zum Beginn der Pauschalreise Umstände aufgetreten sind, „die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“.
[13] Dazu sei angemerkt, dass ein frühzeitiger Rücktritt des Reisenden für den Reiseveranstalter insofern von Vorteil sein kann, als dieser damit länger Zeit hat, für den zurückgetretenen Reisenden Ersatz zu finden. Das allgemeine Interesse des Reiseveranstalters an einem eher früheren als späteren Rücktritt geht auch daraus hervor, dass gewöhnlich die „Stornogebühr“ für einen „unberechtigten Rücktritt“ umso höher ist, je später dieser erklärt wird. Dadurch wird auf Reisende Druck ausgeübt, eher früher als später zurückzutreten. Je früher der Rücktritt erfolgt, desto schwieriger ist aber für den Reisenden die Einschätzung, ob einer problemlosen Durchführung der Reise Umstände entgegenstehen werden. Andererseits könnte in Erwägung gezogen werden, dass es dem Reisenden, wenn ihm schon ein kostenfreier Rücktritt bei Eintritt unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände gestattet wird, zumutbar sei, erst dann zurückzutreten, wenn sich diese Umstände bereits hinreichend verdichtet haben.
[14] Die Präjudizalität der Fragen [1a] und [1b] ergibt sich daraus, dass im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden könnte, dass im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung noch keine Umstände vorlagen, die die Annahme rechtfertigten, die Durchführung der Reise werde erheblich beeinträchtigt sein. Sollte sich aber die Behauptung der Kläger bewahrheiten, dass Anfang März und damit bis zum Tag des vorgesehenen Reisebeginns die Zahl der Infizierten bereits auf 2.300 gestiegen war, und ginge man von der Sachlage zu diesem Zeitpunkt aus, so erschiene der Rücktritt als berechtigt.
[15] Zur Frage [1aa] wird angemerkt, dass der Wortlaut von Art 12 Abs 2 der Richtlinie nicht verlangt, dass der Reisende im Zeitpunkt, in dem er seine Rücktrittserklärung abgibt, von den unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen weiß, sondern dass es nach dem Wortlaut hinreicht, dass solche Umstände vorliegen.
[16] Die Präjudizalität der Frage [1aa] ergibt sich daraus, dass die Parteien und die Vorinstanzen im Verfahren erkennbar davon ausgingen, es komme nur auf das aktuelle Wissen der Kläger im Zeitpunkt ihres Rücktritts an. Eine andere Beurteilung könnte sich ergeben, sollte die Richtlinie dahin auszulegen sein, dass es nicht allein auf das aktuelle Wissen des Reisenden am Tag seines Rücktritts ankommt, sondern dass der Reisende auch Umstände ins Treffen führen kann, die sich am Tag des Rücktritts bereits verwirklicht hatten, ihm aber noch nicht bekannt waren.
[17] Zur Frage [2] wird angemerkt, dass der Wortlaut der Richtlinie nur darauf abstellt, ob die Umstände „unvermeidbar“ und „außergewöhnlich“ sind. Dass der Reisende sein Rücktrittsrecht verliert, wenn er etwas vorausgesehen hat oder voraussehen hätte können, besagt zumindest der Wortlaut der Richtlinie nicht.
[18] In der Buchung einer Reise in Kenntnis gewisser Umstände könnte aber eine Inkaufnahme dieser vom Reisenden offenbar nicht als „unvermeidbar, außergewöhnlich“ angesehenen Umstände liegen. Dies könnte nach dem allgemeinen Grundsatz „pacta sunt servanda“ dazu führen, dem Reisenden einen Rücktritt wegen dieser Umstände zu verweigern.
[19] Die Präjudizalität der Frage [2] ergibt sich daraus, dass im Falle, dass bereits das Wissen der Kläger über die Existenz von Covid-19 im Zeitpunkt der Buchung ihrem Rücktrittsrecht entgegenstehen sollte, ihre Klage abzuweisen wäre. Denkbar wäre aber auch, mit den Klägern darauf abzustellen, dass sie Covid-19 nicht in Kauf genommen haben, entschlossen sie sich doch für eine Reise in ein Land, von dem sie (wenngleich irrig) annahmen, dieses werde von der – damals neuen – Infektionskrankheit nicht betroffen sein. Bei einer solchen Betrachtung wäre nicht Covid-19 an sich der „Umstand“ iSv Art 12 Abs 2 der Richtlinie, als „Umstand“ iSv Art 12 Abs 2 wäre vielmehr die mögliche Betroffenheit des Reisezieles von dieser Infektionskrankheit anzusehen.
[20] Die Beantwortung der Fragen lässt sich aus den aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ableitbaren Rechtssätzen zur Auslegung des Unionsrechts nicht eindeutig beantworten. Es geht hier nicht bloß um eine den Gerichten der Mitgliedstaaten vorbehaltene bloße Rechtsanwendung (vgl auch Punkt 11 der Empfehlungen des EuGH 2016/C-439/01), sondern um eine Auslegungsfrage des Unionsrechts, bei der die Gefahr abweichender Gerichtsentscheidungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten (EuGH 9. 9. 2015 [Ferreira da Silva e Brito ua] C-160/14, EU:C:2015:565 Rn 39) besteht. Die Gefahr unterschiedlicher Schutzstandards in den Mitgliedstaaten kann durch den EuGH durch allgemeine Rechtssätze zur Auslegung des Unionsrechts vermieden werden.
[21] E. Bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens ist das Verfahren über die Revision nach § 90a Abs 1 Gerichtsorganisationsgesetz auszusetzen.
Textnummer
E134077European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:0080OB00130.21G.0125.000Im RIS seit
11.03.2022Zuletzt aktualisiert am
11.03.2022