Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch Doshi & Partner Rechtsanwälte OG in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva-Maria Bachmann-Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Heimopferrente, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2021, GZ 23 Rs 10/21y-52, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 28. Oktober 2020, GZ 33 Cgs 278/17k-44, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Der am 19. 3. 1954 geborene Kläger wurde als Internatsschüler in den Schuljahren 1968/69 bis 1970/71, während derer er die vierte bis sechste Klasse des Gymnasiums besuchte, mehrfach sexuell missbraucht.
[2] Am 8. 1. 2012 brachte er beim Landesgericht * zu AZ * eine Klage gegen den Heimträger, das römisch-katholische Zisterzienserkloster *, ein, mit der er wegen dieses Missbrauchs insgesamt 200.000 EUR, und zwar 150.000 EUR Schmerzengeld und 50.000 EUR Verdienstentgang begehrte. Aus Anlass des Verfahrens schlossen die dortigen Streitteile einen außergerichtlichen Vergleich, mit dem sich der Heimträger zur Zahlung von 60.000 EUR ohne konkrete Widmung verpflichtete. Seit 1. 7. 2017 bezieht der Kläger eine Eigenpension von der Beklagten.
[3] Gegenstand des Verfahrens ist ausschließlich die Frage, ob die mit Vergleich zuerkannte Leistung der Gewährung einer Rente nach § 1 Abs 2 HOG entgegensteht.
[4] Mit Bescheid vom 17. 11. 2017 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 3. 7. 2017 auf Zuerkennung einer Heimopferrente ab.
[5] Dagegen erhob der Kläger am 4. 12. 2017 die auf Gewährung einer Heimopferrente im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klage. In der mündlichen Streitverhandlung vom 30. 9. 2020 stellte er ein Eventualbegehren auf Gewährung der Heimopferrente in Höhe von monatlich 300 EUR von 1. 7. 2017 bis 31. 12. 2017, von monatlich 306,60 EUR von 1. 1. 2018 bis 31. 12. 2018, von monatlich 314,60 EUR von 1. 1. 2019 bis 31. 12. 2019 und von monatlich 325,90 EUR ab 1. 1. 2020.
[6] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren. Sie zog nicht in Zweifel, dass eine Unterbringung iSd § 1 HOG vorlag. Dem Anspruch hielt sie entgegen, dieser sei nicht aus § 1 Abs 1 HOG ableitbar, weil der Vergleich keine pauschalierte Entschädigungsleistung sei. Er könne auch nicht auf § 1 Abs 2 HOG gestützt werden, weil diese Bestimmung voraussetze, dass das Opfer eine pauschalierte Entschädigung verlangt habe, die in der Folge abgelehnt worden sei, oder geltend machen müsse, dass es einen solchen Antrag nicht stellen habe können, worüber ein Verfahren vor der Rentenkommission der Volksanwaltschaft zu führen sei. Derartige besondere Gründe habe der Kläger nicht geltend gemacht. Aus den Materialien ergebe sich zudem, dass bei einer gerichtlich zuerkannten oder mit Vergleich festgesetzten individuellen Entschädigung durch den Heimträger keine Rentenleistung gebühre.
[7] Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.
[8] Der Kläger stellte mit der Berufung einen Parteiantrag auf Normenkontrolle gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG an den Verfassungsgerichtshof, gerichtet auf Aufhebung von § 1 Abs 1 und 2 HOG in der Stammfassung BGBl I 2017/69, sowie einen Eventualantrag. Er machte geltend, es sei unsachlich, Personen die Heimopferrente zu verwehren, die anstelle des im HOG vorgesehenen Sonderverfahrens den ordentlichen Rechtsweg beschritten hätten. Der Verfassungsgerichtshof wies den Antrag mangels Präjudizialität der angefochtenen Bestimmung ab, weil das Erstgericht § 1 HOG idF BGBl I 2018/49 angewendet hatte (G 96/2019).
[9] Das Berufungsgericht hob das angefochtene Urteil wegen sekundärer Feststellungsmängel und Verfahrensmängel auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zurück. Es überband dem Erstgericht die Rechtsansicht, der Kläger könne sein Begehren auf § 1 Abs 2 HOG stützen, wobei die ihm mit Vergleich zuerkannte Leistung dem Anspruch nicht entgegenstehe.
[10] Im zweiten Rechtsgang gab das Erstgericht dem Eventualklagebegehren – ohne ausdrückliche Abweisung des Hauptbegehrens – statt.
[11] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es ließ die Revision nicht zu, weil das Gesetz selbst eine eindeutige Regelung treffe, sodass keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zu lösen sei.
[12] Rechtlich erörterte es, der Kläger könne seinen Anspruch nicht auf § 1 Abs 1 HOG stützen, da eine Vergleichszahlung keine pauschalierte Entschädigungsleistung sei. Der Anspruch sei aber nach § 1 Abs 2 HOG berechtigt. Daraus, dass eine Person keine pauschalierte Entschädigungsleistung iSd § 1 Abs 1 HOG erhalten habe, folge nur, dass ihr Opferstatus im Verfahren auf Gewährung der Rente zumindest bescheinigt werden müsse, wohingegen er im Fall der Zuerkennung einer pauschalen Entschädigungsleistung nach § 1 Abs 1 HOG nicht mehr gesondert zu prüfen sei. Aus dem Gesetz ergebe sich nicht, dass eine vergleichsweise außergerichtliche Zahlung der Rentengewährung entgegenstehe. Die Erwägungen der Materialien zur Stammfassung des HOG, eine mit Vergleich festgesetzte individuelle Entschädigung erledige die Ansprüche in der Regel umfassend, hätten im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden. Sie seien auch nicht überzeugend, weil ein Vergleich in einem gegenseitigen Nachgeben bestehe.
[13] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie beantragt, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass der Antrag des Klägers auf Zuerkennung einer Heimopferrente abgewiesen werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[14] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die außerordentliche Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[15] Die Revision ist zulässig, weil die Frage, ob die Gewährung einer individuellen Entschädigungsleistung des Trägers einer Einrichtung für die während einer Unterbringung iSd § 1 Abs 1 HOG erlittene Gewalt der Zuerkennung einer Heimopferrente nach § 1 HOG entgegensteht, einer Klarstellung durch höchstgerichtliche Rechtsprechung bedarf. Sie ist aber nicht berechtigt.
[16] 1.1. Mit dem Bundesgesetz BGBl I 2017/69 wurde das Heimopferrentengesetz (HOG) erlassen, das am 1. 7. 2017 in Kraft trat. Dieses normiert in seinem § 1 den Kreis der Personen, die Anspruch auf eine Heimopferrente haben.
[17] 1.2. § 1 des Heimopferrentengesetzes (HOG) in der hier anwendbaren Fassung BGBl I 2018/49 (gemäß § 20 Abs 6 HOG rückwirkend in Kraft getreten mit 1. 7. 2017) lautet auszugsweise:
„§ 1. (1) Personen, die eine pauschalierte Entschädigungsleistung wegen nach dem 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1999 erlittener Gewalt im Rahmen einer Unterbringung in Kinder- oder Jugendheimen, …, in entsprechenden Einrichtungen der Kirchen … von einem … Träger der vergleichbaren Einrichtung beziehungsweise den von diesen mit der Abwicklung der Entschädigung beauftragten Institutionen erhalten haben, haben ab dem Zeitpunkt und für die Dauer der Zuerkennung einer Eigenpension, spätestens aber mit Beginn des Monats, der auf die Erreichung des Regelpensionsalters (§§ 253 und 617 Abs. 11 ASVG) folgt, Anspruch auf eine monatliche Rentenleistung nach diesem Bundesgesetz.
(2) Personen, die eine Eigenpension beziehen oder das Regelpensionsalter erreicht haben, aber kein Ansuchen auf eine Entschädigung beim Heim- oder Jugendwohlfahrtsträger oder bei den von diesen mit der Abwicklung der Entschädigung beauftragten Institutionen gestellt haben, oder deren Ansuchen nicht entsprochen wurde, erhalten die Rentenleistung unter den sonstigen Voraussetzungen des Abs. 1, wenn sie wahrscheinlich machen, dass sie nach dem 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1999 in einem der genannten Heime oder in Pflegefamilien Opfer eines vorsätzlichen Gewaltdeliktes im Sinne des Strafgesetzbuches – StGB, BGBl. Nr. 60/1974, in der geltenden Fassung, wurden.
[...]“
[18] 1.3. Gegenüber der Stammfassung des HOG (BGBl I 2017/69) wurde mit der HOG-Novelle BGBl I 2018/49 der Kreis der erfassten Einrichtungen in § 1 Abs 1 HOG in einer für den vorliegenden Fall nicht relevanten Weise erweitert. § 1 Abs 2 HOG wurde mit der Novelle insofern großzügiger ausgestaltet, als für jene Personen, die kein Ansuchen auf Entschädigung gestellt haben, das in der Stammfassung vorgesehene Erfordernis entfiel, darzutun, dass sie „aus besonderen Gründen“ kein Ansuchen um pauschalierte Entschädigungsleistung „einbringen konnten“. Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass viele Betroffene Hemmungen haben, sich an jene Heimträger zu wenden, unter deren Obhut sie Gewalt erlebten; das Erfordernis des „besonderen Grundes“ sollte daher entfallen und den Betroffenen die uneingeschränkte Möglichkeit gegeben werden, sich um eine pauschalierte Entschädigungsleistung an die bei der Volksanwaltschaft eingerichtete Rentenkommission (§ 15 HOG) zu wenden (AB 229 BlgNR 26. GP 1).
[19] 1.4. § 1 HOG unterscheidet also – in der geltenden ebenso wie in seiner Stammfassung – zwei Gruppen von Anspruchsberechtigten (vgl Greifeneder, Heimopfer-Rente, ÖZPR 2018, 55). Die erste Gruppe umfasst jene Personen, denen von einem Heim- oder Jugendwohlfahrtsträger oder den von diesen mit der Abwicklung der Entschädigung beauftragten Institutionen (Kommissionen) bereits eine pauschalierte Entschädigungsleistung zuerkannt wurde. Die zweite Gruppe umfasst die Personen, bei denen dies nicht der Fall ist, sei es, weil ihr Ansuchen auf Entschädigungsleistung abgelehnt wurde, sei es, weil sie ein solches gar nicht gestellt haben.
[20] 1.5. Die Zuerkennung einer pauschalierten Entschädigungsleistung hat (nur) zur Folge, dass der Opferstatus (die erlittene Gewalt), nicht mehr gesondert zu prüfen ist. Die Intention ist, jene Opfer, welche eine pauschalierte Entschädigungsleistung erhalten haben, nicht neuerlich mit dieser Gewalttat zu konfrontieren (Madlener, Heimopferrentengesetz [HOG], im Innsbrucker Jahrbuch zum Arbeitsrecht und Sozialrecht 2018, 215 [237]). Die Personen, denen keine pauschalierte Entschädigungsleistung zuerkannt wurde, müssen ihren Opferstatus – die erlittene Gewalt – hingegen im Verfahren „wahrscheinlich machen“.
[21] 1.6. Nach § 2 Abs 1 Satz 2 HOG ist auf die Rentenleistung ein nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) wegen einer Schädigung in einem Heim, in Pflegefamilien oder in einer Krankenanstalt oder vergleichbaren Einrichtung erbrachter Ersatz des Verdienstentgangs samt einer einkommensabhängigen Zusatzleistung anzurechnen. Korrespondierend ordnet § 15k VOG (idF BGBl I 2017/69) an, dass Personen, die im Rahmen einer Unterbringung in Kinder- oder Jugendheimen des Bundes, der Länder und der Kirchen oder in Pflegefamilien bis zum 31. Dezember 1999 Gewalt erlitten haben, nach dem 30. Juni 2017 – also dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des HOG – einen Ersatz des Verdienstentgangs nicht mehr geltend machen können; diesbezügliche ab dem 1. Juli 2017 eingebrachte Anträge gelten als Anträge nach dem HOG.
[22] 1.7. Eine Regelung der Auswirkungen einer individuellen Schadenersatzleistung des Trägers der Einrichtung, in der die Gewalt zugefügt wurde, enthält das HOG weder in seiner Stammfassung noch in der Fassung der Novelle BGBl I 2018/49.
[23] Eine Aussage dazu findet sich lediglich in den Materialien zur Stammfassung des HOG. Dort ist ausgeführt (BegründIA 2155/A BlgNR 25. GP 7; wortgleich AB 1645 BlgNR 25. GP 2):
„Die pauschalierte Entschädigungsleistung der Heimträger (mit Schmerzengeldcharakter), die Voraussetzung für die zwölfmal jährlich zu erbringende Rentenleistung ist, wurde von den Heimträgern ohne gesetzliche Regelung auf privatwirtschaftlicher Basis für vorsätzliche Gewalttaten in Heimen geschaffen. Bei einer gerichtlich zuerkannten oder mit Vergleich festgesetzten individuellen Entschädigung durch die Heimträger (welche in der Regel die Ansprüche endgültig und umfassend regelte und die Höhe der pauschalierten Entschädigungsleistung überstieg) soll keine Zuerkennung einer Rentenleistung ermöglicht werden.“
[24] 1.8. In der Literatur wird die Aussage der Materialien, eine individuelle Entschädigung stehe einem Rentenanspruch entgegen, von manchen Autoren ohne weitere Erörterung wiedergegeben (Greifeneder, Heimopfer-Rente, ÖZPR 2018, 55; Madlener, HOG 237 [der dazu auf den „Gesetzeswortlaut“ verweist]; Czellary-Ulrich/Eminger in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG [69. Lfg Dezember 2019] HOG Rz 10). Hingegen weist Wimberger (in Gappmayer, Handbuch Opferrechte [2020] Rz 11.28) darauf hin, dass das HOG individuelle Entschädigungen nicht regle, und vertritt den Standpunkt, dass eine individuell bemessene Entschädigung der Zuerkennung einer Heimopferrente jedenfalls nur dann entgegenstehen könne, wenn sie die Rentenleistung übersteige. Pinggera/Körner (Das Heimopferrentengesetz – Überblick und Ausblick, im Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2019, 171 [180]) halten eine Unterscheidung zwischen pauschalierten und individuellen Entschädigungen für nicht nachvollziehbar, weil es dazu kommen könne, dass die gerichtlich zuerkannte oder mit Vergleich vereinbarte individuelle Entschädigung eine etwaige pauschale Entschädigung unterschreite, sodass Betroffene, die ihren Anspruch gerichtlich durchgesetzt haben, schlechter gestellt wären als Betroffene, die ihren Anspruch nicht gerichtlich durchsetzten.
[25] 2. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass der Kläger Opfer von Gewalt iSd § 1 Abs 1 HOG wurde. Die beklagte Partei zieht auch nicht in Zweifel, dass eine Unterbringung iSd § 1 Abs 1 HOG vorlag (zur Einbeziehung von Internaten in § 1 Abs 1 HOG vgl 10 ObS 148/20t DRdA-infas 2021/119, 231 [Hansemann], Rz 20; 10 ObS 121/21y, beide mit Darstellung des Meinungsstands).
[26] 3. Zur Leistung von Schadenersatz durch den Heimträger aufgrund eines Vergleichs hat der Senat erwogen:
[27] 3.1. Die in § 1 HOG geregelten Voraussetzungen eines Anspruchs auf Heimopferrente nehmen auf den Erhalt einer individuellen Schadenersatzleistung vom Täter oder Heimträger nicht Bezug. Aus dem Gesetzeswortlaut kann die in den Materialien angesprochene negative Anspruchsvoraussetzung einer individuellen Entschädigung daher nicht abgeleitet werden. Das gilt sowohl für titulierte als auch für vom Opfer (noch) gar nicht geltend gemachte, rechtlich aber bestehende Schadenersatzansprüche.
[28] 3.2. Der Systematik des HOG ist vielmehr zu entnehmen, dass der Erhalt einer Entschädigung den Rentenanspruch weder mindern noch ihm entgegenstehen soll. Zu berücksichtigen ist vielmehr, dass der Bezug der Heimopferrente vom Erhalt einer Entschädigung seitens des Heimträgers (oder des Trägers einer der sonstigen erfassten Einrichtungen) unabhängig ist. Personen, die Opfer von Gewalt iSd § 1 Abs 1 HOG wurden, steht es frei, eine pauschalierte Entschädigungsleistung zu beantragen oder nicht. Wird ihnen eine solche zuerkannt, haben sie dennoch Anspruch auf Heimopferrente in ungekürzter Höhe. Gründe dafür, eine aus dem Titel des Schadenersatzes erbrachte individuelle Entschädigungsleistung anders zu behandeln, sind nicht ersichtlich.
[29] 3.3. Die Beklagte steht auf dem Standpunkt, dass zwischen den von den Trägern der Einrichtungen erbrachten pauschalierten Entschädigungsleistungen und den individuellen Leistungen deshalb unterschieden werden müsse, weil individuelle Schadenersatzansprüche typischerweise den Gesamtschaden bereinigten. Dieses Argument rechtfertigt die angestrebte Differenzierung jedoch nicht, weil der Zweck der Heimopferrente nicht im Ausgleich eines konkret erlittenen Schadens, auch nicht eines immateriellen Schadens, liegt (vgl VfGH G 189/2018, VfSlg 20.278). Die Heimopferrente ist vielmehr eine pauschale, zusätzliche Rente für eine vom Gesetzgeber als besonders schutzwürdig erachtete Personengruppe im Regelpensionsalter oder in der Eigenpension, wobei die Heimopferrente den gemäß § 1 Abs 1 HOG anspruchsberechtigten Personen unabhängig von der Beurteilung der tatsächlichen Höhe des entstandenen Schadens gewährt wird (VfGH G 189/2018).
[30] 3.4. Auch aus der Anrechnungsbestimmung des § 2 Abs 1 Satz 2 HOG ist für den Rechtsstandpunkt der Beklagten nichts zu gewinnen. Nach dieser Bestimmung ist nur der nach dem VOG erbrachte Ersatz des Verdienstentgangs samt einer einkommensabhängigen Zusatzleistung nach dem VOG auf die Rentenleistung anzurechnen. Eine darüber hinausgehende Anrechnung von Leistungen, die nicht seitens der öffentlichen Hand, sondern vom schadenersatzrechtlich verantwortlichen Schädiger selbst erbracht wurden, kann daraus nicht abgeleitet werden.
[31] 4. Der Revision der Beklagten ist daher nicht Folge zu geben.
[32] Zusammengefasst gilt: Hat eine Person aufgrund von im Rahmen einer Unterbringung iSd § 1 Abs 1 HOG erlittener Gewalt Anspruch auf Schadenersatz gegen den Schädiger, so steht dies dem Anspruch auf Heimopferrente nach § 1 HOG nicht entgegen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Person den Schadenersatzanspruch gegen den Schädiger geltend gemacht hat und ob sie aus dem Titel des Schadenersatzes Leistungen erhalten hat oder nicht.
[33] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Die Bemessungsgrundlage beträgt 3.600 EUR (§ 77 Abs 2 ASGG), weil es sich bei der Heimopferrente um eine wiederkehrende Leistung iSd § 77 Abs 2 ASGG handelt.
Textnummer
E134067European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00103.21A.0125.000Im RIS seit
11.03.2022Zuletzt aktualisiert am
11.03.2022