TE Vfgh Erkenntnis 2021/11/29 E3127/2021

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Veröffentlicht am 29.11.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
BFA-VG §21 Abs7
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung und im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; mangelnde eigenständige Auseinandersetzung mit dem Fluchtvorbringen, bloße Wiedergabe und Verweis auf die verwaltungsbehördlichen Erhebungen sowie Begründungen; mündliche Verhandlung zur Klärung des Sachverhalts notwendig

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans und lebte hauptsächlich in den Provinzen Kabul und Logar. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Am 20. Jänner 2020 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass sein Vater in Afghanistan Richter sei und viele Talibanmitglieder verurteilt habe. Deshalb sei seine Familie ständig von den Taliban und anderen Leuten, die sein Vater verurteilt habe, bedroht worden. Der Beschwerdeführer sei selbst auch angegriffen worden und man habe ihn entführen wollen. Er habe Angst um sein Leben und das seiner Familie gehabt. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 16. Juni 2020 gab er in Bezug auf die Tätigkeit seines Vaters als Richter und die auf Grund dessen gegenüber seiner Familie ausgesprochenen Drohungen im Wesentlichen das Gleiche an. Er ergänzte sein Vorbringen jedoch dahingehend, dass er von der Familie eines befreundeten Mädchens entführt und bedroht worden sei.

2. Mit Bescheid vom 15. Oktober 2020 wies das BFA diesen Antrag gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 im Hinblick auf die Gewährung von Asyl und gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt. Darüber hinaus erließ das BFA gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG und stellte gemäß §52 Abs9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig setzte das BFA gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

3. Die vom Beschwerdeführer gegen den Bescheid des BFA erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 2. Juni 2021 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht stellte in Bezug auf das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers und auf Grund der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat fest, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan auf Grund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung nicht verfolgt würde. Es könne – mangels Glaubhaftmachung – keine Bedrohung durch "die Familie eines befreundeten Mädchens wegen seiner Bekanntschaft mit diesem Mädchen sowie durch die Taliban wegen der Berufstätigkeit seines Vaters als Richter" festgestellt werden. Zudem drohe dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Insbesondere sei in mehreren Landesteilen die Sicherheitslage ausreichend und die Versorgung mit Nahrungsmitteln gewährleistet, zB in den Städten Herat, Kabul und Mazar-e Sharif.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

2.1. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

2.2. Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. In der – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen – angefochtenen Entscheidung stützt sich das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen auf die vom BFA getroffenen Feststellungen sowie dessen Beweiswürdigung.

Die beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichtes beschränken sich lediglich auf folgende Ausführungen:

"Das Bundesverwaltungsgericht folgt bei den maßgeblichen Feststellungen der schlüssigen Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides. Demnach stellt sich das Fluchtvorbringen der beschwerdeführenden Partei als unglaubwürdig dar, weil bei der Erstbefragung ausschließlich eine Bedrohung durch Taliban wegen der Tätigkeit des Vaters als Richter angegeben und die Frage nach anderen Fluchtgründen ausdrücklich verneint wurde, wohingegen bei der Einvernahme dann eine Blutrache mit der Familie eines Mädchens behauptet wurde, mit welchem die beschwerdeführende Partei allerdings lediglich spazieren gegangen sei, und die Bedrohung durch die Taliban relativiert wurde. Die angeblichen Drohbriefe der Taliban sind mehrere Jahre vor der Ausreise der beschwerdeführenden Partei datiert. Zudem hält sich die gesamte Familie der beschwerdeführenden Partei noch unbehelligt in Kabul auf.

Vor allem aber ergibt sich aus den Länderfeststellungen das Vorhandensein einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in mehreren sicheren Provinzen Afghanistans, in denen man einen Kontakt mit Taliban und anderen lokalen Gruppen vermeiden kann. Die Feststellungen zu den Folgen einer Ansiedlung der beschwerdeführenden Partei in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ergeben sich - unter Berücksichtigung der von UNHCR und EASO aufgestellten Kriterien für das Bestehen einer internen Schutzalternative für Afghanistan - aus den oben angeführten Länderberichten und aus den Angaben der beschwerdeführenden Partei. Diesen Feststellungen wurde in der Beschwerde nicht substanziiert entgegengetreten. Insbesondere gibt es kein substanziiertes Vorbringen, auf welche Weise lokale Taliban oder andere Gruppen die beschwerdeführende Partei landesweit verfolgen sollten.

Die Feststellung zu der Prognose, dass sich die beschwerdeführende Partei in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen kann, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aus den Länderinformationen ist ersichtlich, dass diese Städte als relativ sicher gelten und unter der Kontrolle der Regierung stehen. Diese sind auch sicher erreichbar. Die Versorgung der Bevölkerung ist in diesen Städten grundlegend gesichert. Die beschwerdeführende Partei wurde mit der afghanischen Kultur und den afghanischen Gepflogenheiten sozialisiert. Er kann sich daher in diesen Städten zurechtfinden. Die beschwerdeführende Partei ist im erwerbsfähigen Alter, volljährig und arbeitsfähig und verfügt bereits über Berufserfahrung. Die beschwerdeführende Partei hat keine Sorgepflichten und kann von seiner Familie und seinen Freunden finanziell unterstützt werden. Er kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen."

Auch in der rechtlichen Beurteilung beschränken sich die auf die behauptete Verfolgung des Beschwerdeführers konkret bezogenen Ausführungen (zum Spruchpunkt Asyl) auf folgende Formulierungen:

"Im vorliegenden Fall ist auf Grund der Sachverhaltsfeststellungen davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Partei eine drohende Verfolgung im Sinn der wiedergegebenen Gesetzesbestimmungen nicht glaubhaft machen konnte."

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht hat den in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes statuierten Anforderungen an eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung nicht entsprochen. Da sich die Begründung der angefochtenen Entscheidung in der Wiedergabe und dem Verweis auf die verwaltungsbehördlichen Erhebungen und Begründungen erschöpft und eine eigenständige Auseinandersetzung des Bundesverwaltungsgerichtes mit den entscheidungsrelevanten Umständen sowohl im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung wie mit der rechtlichen Beurteilung fehlt, wird den grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung von Entscheidungen eines (insoweit erstinstanzlich entscheidenden) Gerichtes nicht entsprochen (vgl VfSlg 18.614/2008, 20.141/2017; VfGH 9.6.2017, E3235/2016; 26.11.2018, E2786/2018; 26.6.2019, E967/2019; 24.9.2019, E2738/2019). Da das Bundesverwaltungsgericht die gebotene eigene Auseinandersetzung mit dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers vermissen lässt, ist seine Entscheidung mit Willkür belastet (vgl VfSlg 18.861/2009 mwN).

4. Für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht regelt §21 Abs7 BFA-VG den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art47 Abs2 GRC, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (vgl VfSlg 19.632/2012).

Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung, wenn diese zur Gewährleistung einer den Anforderungen des Art47 Abs2 GRC an ein faires Verfahren entsprechenden Entscheidung des erkennenden Gerichtes geboten ist, stellt aber eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art47 Abs2 GRC dar (VfGH 13.3.2013, U1175/12 ua; 26.6.2013, U1257/2012; 22.9.2014, U2529/2013; 26.11.2018, E4221/2017; 21.9.2020, E4498/2019).

5. Eine solche Verletzung von Art47 Abs2 GRC liegt aus folgenden Gründen vor:

5.1. Hinsichtlich der Beurteilung der mangelnden Glaubhaftmachung des Flucht-vorbringens stützt sich das Bundesverwaltungsgericht ausschließlich auf die Feststellungen bzw Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides. Eine mündliche Verhandlung zur Prüfung der Angaben des Beschwerdeführers hat das Bundesverwaltungsgericht nicht durchgeführt. Dies wäre aber insbesondere angesichts der Begründung der mangelnden Glaubhaftmachung des Fluchtvorbringens im angefochtenen Bescheid geboten gewesen, die im Wesentlichen auf Widersprüche zwischen Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem BFA abstellt (vgl VfGH 10.6.2016, E2108/2015; 26.11.2018, E4221/2017; 24.2.2020, E3429/2019; 21.9.2020, E4498/2019).

5.2. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung des Sachverhaltes im vorliegenden Fall erwarten ließe. Das Bundesverwaltungsgericht hätte nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden (vgl VfGH 23.2.2015, E155/2014; 10.6.2016, E2108/2015; 24.11.2016, E1079/2016; 23.9.2019, E1494/2019; 24.2.2020, E3429/2019; 21.9.2020, E4498/2019).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) und im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Verhandlung mündliche, EU-Recht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3127.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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