TE Vfgh Erkenntnis 2021/12/15 E3248/2020

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art83 Abs2
AsylG 2005 §3, §20
Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts für das Geschäftsjahr 2020 §6

Leitsatz

Entzug des gesetzlichen Richters durch Entscheidung eines (männlichen) Richters des BVwG durch die Abweisung des Status der Asylberechtigten bei vorgebrachtem (bereits erfolgten) Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung betreffend eine weibliche Staatsangehörige Algeriens

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist eine am 10. Jänner 1985 geborene algerische Staatsangehörige, die der Volksgruppe der Amazigh angehört und christlichen Glaubens ist. Sie stellte am 3. Jänner 2016 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 17. Juli 2017, wo die Beschwerdeführerin nach ihrem Wunsch von einem männlichen Organwalter befragt wurde, gab sie an, sie sei zum Christentum konvertiert, wovon ihre muslimische Familie nichts wisse und welche sie bei Kenntnis davon umbringen würde. Ihr Vater habe sich von ihrer Mutter scheiden lassen, sei nicht mehr für den Lebensunterhalt der Familie aufgekommen und habe das gemeinsame Haus verlassen. Die Mutter habe Männer mit nach Hause gebracht, einer davon habe die Beschwerdeführerin vergewaltigt. Der von der Mutter verursachte Skandal sei schließlich der Beschwerdeführerin zur Last gelegt worden, weshalb der Vater dann das Haus bekommen habe und die Beschwerdeführerin und ihre Mutter zum Onkel übersiedeln hätten müssen. Dieser habe die Beschwerdeführerin als Hure bezeichnet und erniedrigt, sie geschlagen und auch ihre Mutter sehr schlecht behandelt. Die Beschwerdeführerin habe bei keinem anderen Familienmitglied leben können. Weder ihr Vater noch ihr Bruder habe sie aufnehmen wollen. Wenn sie von zu Hause weggelaufen sei, habe sie stets die Polizei wieder zurückgebracht. Sie sei dann in den Irak ausgewandert und habe dort in einem Hotel gearbeitet. Im Irak sei sie ungefähr drei Jahre vor ihrer Taufe im Dezember 2015 zum Christentum konvertiert.

2. Mit Bescheid vom 18. Juli 2017 wies das BFA den Antrag gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Algerien ab. Es erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 und §55 AsylG 2005, erließ gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG, stellte gemäß §52 Abs9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Algerien gemäß §46 FPG zulässig ist, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

3. Das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde von einem (Einzel-)Richter männlichen Geschlechts geführt. Die Beschwerdeführerin brachte auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, dass sie Opfer sexueller Gewalt gewesen sei. Sie gab an, dass die Vergewaltigung im Jahr 2008 vorgefallen sei. Sie sei aber auch bereits im Jahr 2001 vergewaltigt worden. Die Polizei habe ihr nicht geholfen.

Der Richter fragte nach diesem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung nach, ob ein Verlangen der Beschwerdeführerin auf Einvernahme durch einen männlichen Richter vorliegt. Nach dem Protokoll bat die Beschwerdeführerin zu Beginn der mündlichen Verhandlung darum, die Öffentlichkeit auszuschließen. Der Richter wies darauf hin, dass neben ihm und der Beschwerdeführerin lediglich der Rechtsvertreter, der Dolmetscher, die Kanzleikraft und – auf Wunsch der Beschwerdeführerin – ihr Freund anwesend seien, und fragte die Beschwerdeführerin, ob ihr Wunsch auf Ausschluss der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der bereits vor dem BFA vorgebrachten Vergewaltigung stehe, was die Beschwerdeführerin bejahte. Danach fragte der Richter nach dem Zeitpunkt der Vergewaltigung und dem Zusammenhang zwischen den Vergewaltigungen und dem Fluchtgrund. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass sie dies nicht vor ihrem Freund besprechen wolle, woraufhin der Freund gebeten wurde, den Saal zu verlassen. Sohin wies der Richter auf §20 AsylG 2005 hin und erklärte, dass er sich als unzuständig erklärt hätte, wenn er nicht ihre Aussage vor dem BFA gelesen hätte. Er fragte, ob die Verhandlung durch seine Person fortgesetzt werden solle. Die Beschwerdeführerin antwortete: "Diese Frage wurde mir vor dem BFA gestellt und ich habe zugestimmt, dass ein männlicher Organwalter die Einvernahme durchführt. Ich bin etwas nervös geworden, weil mein Freund im Verhandlungssaal war, aber ich stimme zu, dass die Verhandlung fortgesetzt werden kann. Sie können die Verhandlung weitermachen. Dies ist mein ausdrücklicher Wunsch." Daraufhin gab der Richter zu Protokoll, dass er bereits im Vorfeld der Verhandlung mit der Beschwerdeführerin gesprochen und sie gemeint habe, dass es keinen Unterschied mache, ob die einvernehmende Person männlichen oder weiblichen Geschlechts sei.

4. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab. Es führte begründend insbesondere aus, dass der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Gewalt ihres Onkels eine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe und diese zumutbar sei.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, Gegenschrift hat es keine erstattet.

II. Rechtslage

1. §20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 68/2013, lautet:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(Anm: Abs3 aufgehoben durch BGBl I Nr 87/2012)

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."

2. §6 der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes für das Geschäftsverteilungsjahr vom 1. Februar 2020 bis 31. Jänner 2021 (im Folgenden: GV 2020) lautet auszugsweise:

"1. TEIL:

ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN

[…]

2. Abschnitt:

Richterinnen und Richter des Bundesverwaltungsgerichtes

[…]

§6. Unzuständigkeit

Eine Richterin oder ein Richter ist im Sinne dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn

1. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache auf Grund gesetzlicher Bestimmungen nicht zugewiesen hätte werden dürfen;

2. sie oder er als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender in der betreffenden Rechtssache nach §6 VwGVG iVm. §7 AVG befangen ist; in diesem Fall hat sich die Richterin oder der Richter unter Anzeige an den Präsidenten und bei Richterinnen und Richtern einer Außenstelle (§§16 bis 18) bei gleichzeitiger Mitteilung an die Leiterin oder den Leiter der Außenstelle in der betreffenden Rechtssache der weiteren Ausübung des Amtes zu enthalten (§27);

3. ihr/ihm zwei oder mehrere Rechtssachen zwar ursprünglich zu Recht zugewiesen worden sind, sich nachträglich aber durch die Zuweisung einer weiteren Rechtssache ergibt, dass sie im Sinne des §34 Abs4 AsylG 2005 mit dieser weiteren Rechtssache unter einem zu führen sind;

4. sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist;

5. der zugehörigen Gerichtsabteilung die Rechtssache nach den Bestimmungen der jeweils bei der Zuweisung geltenden Geschäftsverteilung nicht zugewiesen hätte werden dürfen (zB wegen Annexität).

(2) Ist eine Richterin oder ein Richter als Einzelrichter/-in oder als Vorsitzende/Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 unzuständig und wird aus diesem Grund diese Rechtssache erneut zugewiesen, so verliert sie oder er damit gleichzeitig auch die Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex sind oder zu denen diese Rechtssache annex ist.

(3) Die Wahrnehmung der Unzuständigkeit der Richterinnen und Richter und das weitere Verfahren richten sich nach den diesbezüglichen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Bundesverwaltungsgerichtes."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002). Gleiches gilt sinngemäß für die funktionelle Zuständigkeit des einzelnen Organwalters (Richters).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Behörde 1. Instanz die Einvernahme durch einen Organwalter des anderen Geschlechts und spätestens zum Zeitpunkt der Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht die Führung der Verhandlung durch Richter des anderen Geschlechts (vgl VfSlg 20.260/2018; vgl auch bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012 ua).

3.2. Die Beschwerdeführerin hatte bereits in ihrer Einvernahme vor dem BFA konkrete Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des §20 Abs2 AsylG 2005 geschildert. Es ist aus den Akten nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführerin spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde die Vernehmung durch einen männlichen Richter gemäß §20 Abs2 iVm Abs1 AsylG 2005 verlangt hätte. Daraus ergibt sich, dass in dieser Sache eine weibliche Richterin hätte verhandeln müssen (§20 Abs2 AsylG 2005; vgl VfSlg 19.739/2013).

3.3. Daran ändert nichts, dass die Beschwerdeführerin "in der Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht mit §20 Abs1 AsylG 2005 konfrontiert wurde, es aber jeweils ausdrücklicher Wunsch der [Beschwerdeführerin] war, mit einem männlichen Einvernahmeleiter bzw einem männlichen Richter und einem männlichen Dolmetscher fortzufahren."

3.4. Die Beschwerdeführerin wurde daher in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Gericht Zusammensetzung, Bundesverwaltungsgericht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3248.2020

Zuletzt aktualisiert am

08.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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