TE Vfgh Beschluss 2021/12/15 V284/2021

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art139 Abs1 Z1
COVID-19-MaßnahmenG §3
COVID-19-MaßnahmenV BGBl II 479/2020 idF BGBl II 528/2020 §5 Abs1 Z1
VfGG §7 Abs2, §57 Abs1

Leitsatz

Zurückweisung des Hauptantrags eines Gerichts auf Aufhebung einer Bestimmung der COVID-19-Maßnahmenverordnung wegen zu engem Anfechtungsumfangs; Zurückweisung des Eventualantrags mangels Darlegung der Präjudizialität und Vorbringens von Bedenken

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Antrag

Gestützt auf Art139 Abs1 Z1 B-VG begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol (im Folgenden auch: antragstellendes Gericht), der Verfassungsgerichtshof möge §5 Abs1 Z1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der besondere Maßnahmen zur Verhinderung einer Notsituation auf Grund von COVID-19 getroffen werden (COVID-19-Notmaßnahmenverordnung – COVID-19-NotMV), BGBl II 479/2020, zuletzt geändert durch BGBl II 528/2020; in eventu §5 COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, zuletzt geändert durch BGBl II 528/2020, zur Gänze aufheben.

II. Rechtslage

1. §5 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung einer Notsituation auf Grund von COVID-19 getroffen werden (COVID-19-Notmaßnahmenverordnung – COVID-19-NotMV), BGBl II 479/2020, idF BGBl II 528/2020 (Abs1, 4 und 5; die mit dem Hauptantrag angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben) lautete:

"Kundenbereiche

§5. (1) Das Betreten und Befahren des Kundenbereichs von

1. Betriebsstätten des Handels zum Zweck des Erwerbs von Waren,

2. Dienstleistungsunternehmen zur Inanspruchnahme von körpernahen Dienstleistungen oder

3. Freizeiteinrichtungen zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen der Freizeiteinrichtungen

ist untersagt. Z1 und 2 gelten nicht zum Zweck zumindest zweiseitig unternehmensbezogener Geschäfte.

(2) Als körpernahe Dienstleistung gemäß Abs1 Z2 gelten insbesondere Dienstleistungen der Friseure und Perückenmacher (Stylisten), Kosmetiker (Schönheitspfleger), hierbei insbesondere das Piercen und Tätowieren, sowie der Masseure und Fußpfleger.

(3) Als Freizeiteinrichtungen gemäß Abs1 Z3 gelten Betriebe und Einrichtungen, die der Unterhaltung, der Belustigung oder der Erholung dienen, wie insbesondere

1. Schaustellerbetriebe, Freizeit- und Vergnügungsparks,

2. Bäder und Einrichtungen gemäß §1 Abs1 Z1 bis 7 des Bäderhygienegesetzes (BHygG), BGBl Nr 254/1976; in Bezug auf Bäder gemäß §1 Abs1 Z6 BHygG (Bäder an Oberflächengewässern) gilt das Verbot gemäß Abs1 nicht, wenn in diesen Bädern ein Badebetrieb nicht stattfindet,

3. Tanzschulen,

4. Wettbüros, Automatenbetriebe, Spielhallen und Casinos,

5. Schaubergwerke,

6. Einrichtungen zur Ausübung der Prostitution,

7. Theater, Konzertsäle und -arenen, Kinos, Varietees und Kabaretts,

8. Indoorspielplätze,

9. Paintballanlagen,

10. Museen,

11. Museumsbahnen,

12. Archive, Bibliotheken und Büchereien,

13. Tierparks und Zoos.

(4) Abs1 gilt nicht für

1. öffentliche Apotheken,

2. Lebensmittelhandel (einschließlich Verkaufsstellen von Lebensmittelproduzenten) und bäuerliche Direktvermarkter,

3. Drogerien und Drogeriemärkte,

4. Verkauf von Medizinprodukten und Sanitärartikeln, Heilbehelfen und Hilfsmitteln,

5. Gesundheits- und Pflegedienstleistungen,

6. Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen, die von den Ländern im Rahmen der Behindertenhilfe-, Sozialhilfe-, Teilhabe- bzw Chancengleichheitsgesetze erbracht werden,

7. veterinärmedizinische Dienstleistungen,

8. Verkauf von Tierfutter,

9. Verkauf und Wartung von Sicherheits- und Notfallprodukten, das sind insbesondere Feuerlöscher, Schutzausrüstung, Leuchtmittel, Brennstoffe, Sicherungen, Salzstreumittel, nicht aber Waffen und Waffenzubehör, sofern deren Erwerb nicht zu beruflichen Zwecken aus gesetzlichen Gründen zwingend unaufschiebbar erforderlich ist,

10. Agrarhandel einschließlich Tierversteigerungen sowie der Gartenbaubetrieb und der Landesproduktenhandel mit Saatgut, Futter und Düngemittel,

11. Tankstellen und Stromtankstellen sowie Waschanlagen,

12. Postdiensteanbieter einschließlich deren Postpartner, soweit diese Postpartner unter die Ausnahmen des §5 Abs4 fallen sowie Postgeschäftsstellen iSd §3 Z7 PMG, welche von einer Gemeinde betrieben werden oder in Gemeinden liegen, in denen die Versorgung durch keine andere unter §5 Abs4 fallende Postgeschäftsstelle erfolgen kann, jedoch ausschließlich für die Erbringung von Postdienstleistungen und die unter §5 Abs4 erlaubten Tätigkeiten, und Anbieter von Telekommunikation,

13. Tabakfachgeschäfte und Zeitungskioske und

14. KFZ- und Fahrradwerkstätten.

(5) Das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten ist unter folgenden Voraussetzungen und Auflagen zulässig:

1. Der Kundenbereich der Betriebsstätten gemäß Abs4 Z2 bis 4, 8 bis 10 und 12 bis 14 darf nur in der Zeit zwischen 06.00 und 19.00 Uhr betreten werden. Dies gilt nicht für die Warenabgabe aus Automaten. Restriktivere Öffnungszeitenregeln aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.

2. Es dürfen nur Waren angeboten werden, die dem typischen Warensortiment der in Abs4 genannten Betriebsstätten des Handels entsprechen.

3. Gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ist ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.

4. Kunden haben eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende und eng anliegende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen.

5. Der Betreiber hat sicherzustellen, dass er und seine Mitarbeiter bei Kundenkontakt eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende und eng anliegende mechanische Schutzvorrichtung tragen, sofern zwischen den Personen keine sonstige geeignete Schutzvorrichtung zur räumlichen Trennung vorhanden ist, die das gleiche Schutzniveau gewährleistet.

6. Der Betreiber hat durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass sich maximal so viele Kunden gleichzeitig im Kundenbereich aufhalten, dass pro Kunde 10 m2 zur Verfügung stehen; ist der Kundenbereich kleiner als 10 m2, so darf jeweils nur ein Kunde den Kundenbereich der Betriebsstätte betreten. Bei Betriebsstätten ohne Personal ist auf geeignete Weise auf diese Voraussetzung hinzuweisen.

7. Für baulich verbundene Betriebsstätten (z. B. Einkaufszentren, Markthallen) gilt Z6 mit der Maßgabe, dass die Flächen der Kundenbereiche der Betriebsstätten und des Verbindungsbauwerks zusammenzuzählen sind und dass sich sowohl auf der so ermittelten Fläche als auch im Kundenbereich der jeweiligen Betriebsstätten maximal so viele Kunden gleichzeitig aufhalten dürfen, dass pro Kunde 10 m² der so ermittelten Fläche bzw des Kundenbereichs der Betriebsstätte zur Verfügung stehen.

8. Dienstleistungen zu Aus- und Fortbildungszwecken dürfen jeweils nur gegenüber einer Person oder Personen aus demselben Haushalt erbracht werden. Für Dienstleistungen zu unbedingt erforderlichen beruflichen Aus- und Fortbildungszwecken gilt §12 Abs1 Z9.

(6) Kann auf Grund der Eigenart der Dienstleistung

1. der Mindestabstand von einem Meter zwischen Kunden und Dienstleister und/oder

2. vom Kunden das Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden und eng anliegenden mechanischen Schutzvorrichtung nicht eingehalten werden,

ist diese nur zulässig, wenn durch sonstige geeignete Schutzmaßnahmen das Infektionsrisiko minimiert werden kann.

(7) Alle zulässigen Dienstleistungen sind tunlichst im elektronischen Wege anzubieten.

(8) Abs5 Z1 bis 5 gilt sinngemäß für

1. Märkte im Freien und

2. Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte bei Parteienverkehr.

(9) Abs5 Z3 bis 5 gilt sinngemäß für geschlossene Räume von Einrichtungen zur Religionsausübung."

2. §3 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz – COVID-19-MG), BGBl I 12/2020, idF BGBl I 104/2020 lautete wie folgt:

"Betreten und Befahren von Betriebsstätten und Arbeitsorten sowie Benutzen von Verkehrsmitteln

§3. (1) Beim Auftreten von COVID-19 kann durch Verordnung

1. das Betreten und das Befahren von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen,

2. das Betreten und das Befahren von Arbeitsorten oder nur bestimmten Arbeitsorten gemäß §2 Abs3 des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes und

3. das Benutzen von Verkehrsmitteln oder nur bestimmten Verkehrsmitteln

geregelt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist.

(2) In einer Verordnung gemäß Abs1 kann entsprechend der epidemiologischen Situation festgelegt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit oder unter welchen Voraussetzungen und Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten und befahren oder Verkehrsmittel benutzt werden dürfen. Weiters kann das Betreten und Befahren von Betriebsstätten oder Arbeitsorten sowie das Benutzen von Verkehrsmitteln untersagt werden, sofern gelindere Maßnahmen nicht ausreichen."

III. Anlassverfahren und Antragsvorbringen

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.1. Mit Straferkenntnissen der Bezirkshauptmannschaft Schwaz vom 25. März 2021 und der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 21. Juli 2021 wurde dem Beschwerdeführer zweier Verfahren vor dem antragstellenden Gericht (M.B.) jeweils zur Last gelegt, er habe als verantwortlicher Beauftragter für zwei konkret bezeichnete Filialen des Unternehmens L GmbH, welche Betriebsstätten der Betriebsart Lebensmittelhandel darstellten, nicht dafür Sorge getragen, dass für Kunden im Kundenbereich der Betriebsstätten im Zeitraum von 17. November 2020 bis 6. Dezember 2020 gemäß der COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, nur Waren angeboten würden, die dem typischen Warensortiment der in Abs4 genannten Betriebsstätten des Handels entsprächen. Es sei festgestellt bzw angezeigt worden, dass in den Filialen auch Non-Food-Artikel wie Spielzeug und Elektrogeräte angeboten worden seien. Über den Beschwerdeführer wurden daher wegen Verletzung von §§8 Abs4 und 3 Abs1 COVID-19-MG iVm §5 Abs1 und 4 iVm §5 [Abs5] Z2 COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, zuletzt geändert durch BGBl II 528/2020, Geldstrafen verhängt.

1.2. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 21. Juli 2021 wurde dem Beschwerdeführer eines weiteren Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht (S.H.) zur Last gelegt, er habe als verantwortlicher Beauftragter gemäß §9 VStG für eine konkret bezeichnete Filiale des Unternehmens I GmbH, die eine Betriebsstätte der Betriebsart Lebensmittelhandel darstelle, nicht dafür Sorge getragen, dass für Kunden im Kundenbereich der Betriebsstätte im Zeitraum von 17. November 2020 bis 6. Dezember 2020 gemäß der COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, nur Waren angeboten würden, die dem typischen Warensortiment der in Abs4 genannten Betriebsstätten des Handels entsprächen. Es sei angezeigt worden, dass in der Filiale auch Non-Food-Artikel wie Spielzeug und Elektrogeräte verkauft worden seien. Über den Beschwerdeführer wurde daher wegen Verletzung von §§8 Abs4 und 3 Abs1 COVID-19-MG iVm §5 Abs1 und 4 iVm §5 Abs5 Z2 COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, zuletzt geändert durch BGBl II 528/2020, eine Geldstrafe verhängt.

1.3. Gegen diese Straferkenntnisse erhoben die Beschwerdeführer der Verfahren vor dem antragstellenden Gericht jeweils Beschwerde.

2. Aus Anlass dieser Beschwerdeverfahren stellt das antragstellende Gericht den vorliegenden Antrag, den es zusammengefasst wie folgt begründet:

2.1. Zu den Prozessvoraussetzungen führt das antragstellende Gericht zusammengefasst aus, das in §1 Abs2 VStG normierte Günstigkeitsprinzip sei nicht anzuwenden. Es gelte nicht für "Zeitgesetze", dh für Gesetze, die von vornherein nur für einen bestimmten Zeitraum gegolten hätten und der Wegfall der Regelung somit nicht auf einem geänderten Unwerturteil des Normgebers basiere. Die Geltungsdauer der COVID-19-NotMV sei in deren §19 mit Ablauf des 6. Dezember 2020 befristet gewesen. Sie umfasse den Zeitraum, in welchem zur Verhinderung eines drohenden Zusammenbruchs des Gesundheitssystems auf Grund der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus weitere Maßnahmen erforderlich gewesen seien. Die Befristung der Verordnung sei somit eindeutig auf eine Änderung der für die Anordnung relevanten Sachlage zurückzuführen. Da der Verkauf der Non-Food-Artikel in den in den Straferkenntnissen angeführten Filialen unter die zu den jeweiligen Tatzeitpunkten geltende COVID-19-NotMV idF "BGBl II Nr 478/2020 und/oder BGBl II Nr 528/2020" zu subsumieren sei und die behördlichen Strafvorwürfe auch in Übereinstimmung mit dieser Rechtsgrundlage gesetzt worden seien, seien die "§§4 und 5 dieser Verordnung" anzuwenden. Gegen diese Verordnung bestünden Bedenken ob ihrer Verfassungsmäßigkeit.

2.2. In der Sache zitiert das antragstellende Gericht eingangs Judikatur des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes sowie Literatur zum Bestimmtheitsgebot (Art18 B-VG) und den zur Ermittlung des Inhaltes von Gesetzesbegriffen heranzuziehenden Interpretationsmethoden.

2.2.1. Zu §5 Abs1 und Abs4 Z2 COVID-19-NotMV bringt das antragstellende Gericht im Wesentlichen vor, gemäß §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV sei das Betreten und Befahren des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels zum Zweck des Erwerbs von Waren untersagt. Eine Ausnahme hievon sei zum Zeitpunkt der Verwaltungsübertretungen gemäß §5 Abs4 Z2 für den Bereich "Lebensmittelhandel (einschließlich Verkaufsstellen von Lebensmittelproduzenten) und bäuerliche Direktvermarkter" vorgesehen gewesen. Diese Ausnahme werde durch §5 Abs5 Z2 COVID-19-NotMV insoweit eingeschränkt, als nur Waren angeboten hätten werden dürfen, die dem "typischen Warensortiment" des jeweiligen Lebensmittelhändlers entsprächen. Weder im COVID-19-MG noch in der COVID-19-NotMV werde der Begriff Lebensmittelhandel näher definiert. Auch in der rechtlichen Begründung zur COVID-19-NotMV fänden sich keine näheren Ausführungen zum Verständnis des weiten Begriffes Lebensmittelhandel. In der Rechtsordnung unterliege der Begriff Lebensmittelhandel keinem einheitlichen allgemein bekannten und einheitlich verwendeten Begriffsverständnis. Beginnend mit einer Auslegung des Begriffes Lebensmittelhandel durch Vornahme einer Wortinterpretation habe das antragstellende Gericht zunächst eine Gesamtrechtsabfrage vorgenommen, um zu erheben, wie der Begriff Lebensmittelhandel in den diversen Materiengesetzen verstanden werde. Eine Herleitung aus anderen einfachgesetzlichen Materien scheitere jedoch [wie im Antrag näher dargetan] an zu engen bzw ausschließlich für das jeweilige Materiengesetz passenden Definitionen. Es zeige sich sohin, dass der Begriff "Lebensmittelhandel" einer Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten unterliege, folglich kein allgemeines Begriffsverständnis vorliege und auch nicht im Wege der Auslegung ermittelt werden könne. Da es sich beim Begriff "Lebensmittelhandel" somit um einen unbestimmten Gesetzesbegriff handle, wäre entweder im COVID-19-MG oder in der COVID-19-NotMV eine Definition vorzunehmen gewesen. Das Unterbleiben einer Definition stehe daher im Widerspruch zum Legalitätsprinzip des Art18 B-VG.

2.2.2. Zur Bestimmung des §5 Abs5 Z2 COVID-19-NotMV führt das antragstellende Gericht zusammengefasst aus, ausgehend von deren Gesetzeswortlaut sei das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten unter der Auflage zulässig, dass nur Waren angeboten würden, die dem typischen Warensortiment der in §5 Abs4 COVID-19-NotMV genannten Betriebsstätten des Handels entsprächen. Im Bereich Lebensmittelhandel bestünden unterschiedlichste Betriebstypen (vom kleinen Sozialmarkt bis hin zum Superstore oder Hypermarkt), welche über unterschiedlichste Sortimentsbreiten verfügten. Große Supermärkte führten seit Jahren ein umfangreiches Non-Food-Sortiment, darunter auch Elektrogeräte, Bekleidung, Spielgeräte bis hin zu Möbelstücken. Die Ausführungen in den erläuternden Bemerkungen zur COVID-19-NotMV, wonach nur Waren im Sinne des Abs4, sohin beispielsweise Lebensmittel (§5 Abs4 Z2), Medizinprodukte und Sanitärbehelfe (§5 Abs4 Z4) oder Tierfutter (§5 Abs4 Z8) vom Verkaufsverbot ausgenommen seien, stünden im unmittelbaren Widerspruch zu §5 Abs5 Z2, der normiere, dass das Verkaufsverbot nur hinsichtlich jener Waren gelte, die nicht dem typischen Warensortiment der Betriebsstätte entsprächen. Jedenfalls könne durch den Verweis des §5 Abs5 Z2 auf §5 Abs4 COVID-19-NotMV für eine Auslegung des Begriffes Lebensmittelhandel nichts gewonnen werden; der Begriff bleibe weiterhin unbestimmt.

2.2.3. Das antragstellende Gericht hege schließlich auch Bedenken, ob die Einschränkung auf ein bestimmtes Warensortiment überhaupt von der Verordnungsermächtigung umfasst sei, da das COVID-19-MG an die Betriebsstätte als solche anknüpfe und sich die Ermächtigung nur auf eine Regelung betreffend das Betreten/Befahren der Betriebsräume erstrecke, nicht auch auf eine Regulierung der angebotenen Waren. Das Vorliegen einer Auflage werde als nicht gegeben erachtet, da der Sortimentseinschränkung offenbar vordergründig wettbewerbsrechtliche Überlegungen und nicht epidemiologische Erfordernisse zugrunde lägen. §5 Abs5 Z2 sei sohin ohne gesetzliche Ermächtigung erlassen worden.

2.2.4. Zusammengefasst bestehe sowohl für den Begriff "Lebensmittelhandel" als auch für den Begriff "typisches Sortiment" ein sehr weiter Auslegungsspielraum, welcher mangels genauer Determinierung zu Rechtsunsicherheit führe. Die beim antragstellenden Gericht mit Beschwerde bekämpften Straferkenntnisse der belangten Behörden wären somit insgesamt nach Bestimmungen einer Verordnung zu beurteilen, hinsichtlich deren verfassungsrechtlicher Zulässigkeit Bedenken bestünden, da der der COVID-19-NotMV zugrunde liegende maßgebliche Begriff "Lebensmittelhandel" nicht hinreichend genau bestimmt sei und somit die Anforderungen des Art18 B-VG nicht erfüllt seien.

2.3. Das antragstellende Gericht stellt daher den Antrag, §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, zuletzt geändert durch BGBl II 528/2020, aufzuheben; in eventu §5 COVID-19-NotMV, BGBl II 479/2020, zuletzt geändert durch BGBl II 528/2020, zur Gänze aufzuheben.

3. Mit Schreiben vom 22. November 2021 teilte das antragstellende Gericht mit, dass einer der Beschwerdeführer der Verfahren vor dem antragstellenden Gericht (S.H.) die von ihm erhobene Beschwerde zurückgezogen habe. Da der Antrag allerdings auch andere Anlassfälle betreffe, bleibe der Antrag aufrecht.

IV. Zulässigkeit

1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001, 16.927/2003 und 20.171/2017).

2. Ein von Amts wegen oder auf Antrag eines Gerichtes eingeleitetes Verordnungsprüfungsverfahren dient der Herstellung einer verfassungsrechtlich einwandfreien Rechtsgrundlage für das Anlassverfahren (vgl zu Gesetzesprüfungsverfahren VfSlg 11.506/1987, 13.701/1994; vgl weiters VfGH 4.3.2021, V541/2020; 28.9.2021, V148/2021 mwN).

3. Der Antrag, eine Verordnung als gesetzwidrig aufzuheben, muss begehren, dass entweder die Verordnung ihrem ganzen Inhalt nach oder dass bestimmte Stellen der Verordnung als gesetzwidrig aufgehoben werden (§57 Abs1 erster Satz VfGG). Um das Erfordernis des §57 Abs1 erster Satz zu erfüllen, müssen die bekämpften Verordnungen bzw Verordnungsstellen genau und eindeutig bezeichnet sein (siehe zB VfSlg 13.230/1992, 13.451/1993, 13.473/1993, 16.710/2002, 17.403/2004, 17.679/2005, 19.027/2010); der Antrag muss die vom Antragsteller bekämpfte Verordnungsstelle mit Sicherheit erkennen lassen (VfSlg 14.675/1996). Der Verfassungsgerichtshof ist nicht befugt, Verordnungsbestimmungen auf Grund bloßer Vermutungen darüber, welche Normen(teile) der Antragsteller ins Auge gefasst haben könnte, in Prüfung zu ziehen (VfSlg 14.587/1996; vgl auch VfSlg 15.492/1999, 16.533/2002, 19.198/2010, 19.231/2010, 19.250/2010; VfGH 10.3.2021, V95-96/2019).

4. Was den erforderlichen Anfechtungsumfang anlangt, ist dieser durch folgende Überlegungen zu bestimmen: Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu prüfenden Verordnungsbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Normenprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Verordnungsteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Verordnungsstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.

4.1. Dieser Grundposition folgend hat der Gerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Normenprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl zB VfSlg 8155/1977, 12.235/1989, 13.915/1994, 14.131/1995, 14.498/1996, 14.890/1997, 16.212/2001). Das antragstellende Gericht hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des antragstellenden Gerichtes teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014).

4.2. Eine zu weite Fassung des Antrages macht diesen nicht in jedem Fall unzulässig. Soweit alle vom Antrag erfassten Bestimmungen präjudiziell sind oder der Antrag mit solchen untrennbar zusammenhängende Bestimmungen erfasst, führt dies – ist der Antrag in der Sache begründet – im Fall der Aufhebung nur eines Teiles der angefochtenen Bestimmungen im Übrigen zu seiner teilweisen Abweisung (vgl VfSlg 19.746/2013, 19.905/2014). Umfasst der Antrag auch Bestimmungen, die im Verfahren vor dem antragstellenden Gericht nicht präjudiziell sind, führt dies – wenn die angefochtenen Bestimmungen insoweit trennbar sind – im Hinblick auf diese Bestimmungen zur partiellen Zurückweisung des Antrages (siehe VfSlg 18.486/2008, 18.298/2007; soweit diese Voraussetzungen vorliegen, führen zu weit gefasste Anträge also nicht mehr – vgl noch VfSlg 14.342/1995, 15.664/1999, 15.928/2000, 16.304/2001, 16.532/2002, 18.235/2007 – zur Zurückweisung des gesamten Antrages).

4.3. Umfasst der Antrag auch Bestimmungen, die für das antragstellende Gericht offenkundig keine Voraussetzung seiner Entscheidung im Anlassfall bilden und die somit nicht präjudiziell sind (insofern ist der Antrag zu weit gefasst), die mit den präjudiziellen (und nach Auffassung des antragstellenden Gerichtes den Sitz der Verfassungswidrigkeit bildenden) Bestimmungen aber vor dem Hintergrund der Bedenken in einem Regelungszusammenhang stehen, so ist zu differenzieren: Sind diese Bestimmungen von den den Sitz der verfassungsrechtlichen Bedenken des antragstellenden Gerichtes bildenden präjudiziellen Bestimmungen offensichtlich trennbar, so führt dies zur teilweisen Zurückweisung des Antrages. Umfasst der Antrag auch Bestimmungen, die mit den präjudiziellen, den Sitz der verfassungsrechtlichen Bedenken des antragstellenden Gerichtes bildenden Bestimmungen in einem so konkreten Regelungszusammenhang stehen, dass es nicht von vornherein auszuschließen ist, dass ihre Aufhebung im Fall des Zutreffens der Bedenken erforderlich sein könnte (sind diese Bestimmungen also nicht offensichtlich trennbar), so ist der Antrag insgesamt zulässig (VfSlg 20.111/2016). Dies gilt nach dem vorhin Gesagten aber keinesfalls dann, wenn Bestimmungen mitangefochten werden (etwa alle eines ganzen Gesetzes), gegen die gar keine konkreten Bedenken vorgebracht werden und zu denen auch kein konkreter Regelungszusammenhang dargelegt wird (VfSlg 19.894/2014; VfGH 29.9.2015, G324/2015; 15.10.2016, G183/2016 ua; 27.6.2018, G204/2017 ua).

5. Der Hauptantrag auf Aufhebung des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV ist unzulässig:

Das antragstellende Gericht hegt ausschließlich Bedenken gegen die Regelung in §5 Abs5 Z2 COVID-19-NotMV bzw die darin enthaltene Wortfolge "typische[s] Warensortiment" sowie gegen den Begriff "Lebensmittelhandel" in §5 Abs4 Z2 COVID-19-NotMV, unterlässt es aber, diese Bestimmungen bzw Wortfolgen anzufechten. Der Hauptantrag auf Aufhebung des §5 Abs1 Z1 COVID-19-NotMV ist daher als unzulässig zurückzuweisen, zumal mit dessen Aufhebung die vom antragstellenden Gericht behauptete Gesetzwidrigkeit keinesfalls beseitigt würde.

6. Aber auch der Eventualantrag auf Aufhebung des §5 COVID-19-NotMV zur Gänze erweist sich als unzulässig:

6.1. §5 COVID-19-NotMV ordnete weitreichende Betretungs- und Befahrungsverbote für Betriebsstätten des Handels, bestimmte Dienstleistungsunternehmen und Freizeiteinrichtungen an. §5 enthielt weiters (unter anderem) Begriffsdefinitionen, legte Ausnahmen von den Betretungsverboten fest und bestimmte, unter welchen Voraussetzungen und Auflagen Betriebsstätten zulässigerweise betreten und Dienstleistungen angeboten werden durften.

6.2. Das antragstellende Gericht legt weder dar, inwiefern es sämtliche Bestimmungen des §5 COVID-19-NotMV in den bei ihm anhängigen Verfahren anzuwenden hat, noch bringt es vor, dass diese miteinander in einem untrennbaren Zusammenhang stünden. Das antragstellende Gericht hegt auch keine Bedenken gegen §5 COVID-19-NotMV in seiner Gesamtheit.

6.3. Ausgehend vom Antragsvorbringen, wonach den Anlassverfahren vor dem antragstellenden Gericht Übertretungen der in §5 Abs5 Z2 COVID-19-NotMV normierten Warensortimentsbeschränkung in mehreren Betriebsstätten des Lebensmittelhandels zugrunde liegen, ist es denkunmöglich, dass das antragstellende Gericht sämtliche Bestimmungen des §5 COVID-19-NotMV anzuwenden hat. §5 COVID-19-NotMV steht für sich genommen auch nicht in einem untrennbaren Zusammenhang (vgl zu dieser Bestimmung bereits VfGH 24.6.2021, V592/2020, sowie zum im Wesentlichen gleichlautenden §5 2. COVID-19-NotMV, BGBl II 598/2020, VfGH 24.6.2021, V2/2021).

7. Der Antrag erweist sich daher schon aus den genannten Gründen als unzulässig.

V. Ergebnis

1. Der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Tirol ist als unzulässig zurückzuweisen.

2. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

COVID (Corona), VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Gerichtsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V284.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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