TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/4 Ro 2020/14/0005

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Veröffentlicht am 04.02.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 30. Juni 2020 mündlich verkündete und am 9. Juli 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W114 2177898-1/24E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: M D in N, vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin in seinen Spruchpunkten A) II. bis IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 30. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht und nunmehriger Revisionswerber - wies diesen Antrag mit Bescheid vom 13. Oktober 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und setzte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt A) I.), erkannte dem Mitbeteiligten jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt A) II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.). Die weiteren Spruchpunkte des Bescheids des BFA wurden ersatzlos behoben (Spruchpunkt A) IV.). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das BVwG mit Spruchpunkt B) für zulässig.

4        Begründend führte das BVwG unter anderem aus, dass dem Mitbeteiligten allein aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, insbesondere auf Grund der stark eingeschränkten Reisefreiheit sowie pandemiebeschränkter Ausgangsbeschränkungen, keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan zur Verfügung stünde. Die Revision sei zulässig, weil das BVwG aufgrund der aktuellen COVID-19-Pandemie in Afghanistan von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes abgewichen sei.

5        Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen die Spruchpunkte A) II. bis IV. dieses Erkenntnisses und bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit ein Abweichen von zitierter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich der Beurteilung einer drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK und einer dadurch bedingten Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative sowie entsprechende Begründungsmängel des angefochtenen Erkenntnis vor.

6        Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihre Abweisung, sowie Kostenersatz.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7        Die vorliegende Amtsrevision erweist sich aus den in ihr genannten Gründen als zulässig. Sie ist auch begründet:

Voranzustellen ist, dass der Verwaltungsgerichtshof bei der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung jene Sach- und Rechtslage zu Grunde zu legen hat, die im Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts bestand (§ 41 VwGG).

8        Im gegenständlichen Fall ist strittig, ob dem Mitbeteiligten in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif oder Herat eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 im Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung stand, was eine Zuerkennung von subsidiärem Schutz ausschließen würde.

9        Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

10       Im vorliegenden Fall hat das BVwG zwar eine einzelfallbezogene Abwägung der für und gegen das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechenden Gründe vorgenommen, dabei aber wesentliche Umstände außer Acht gelassen bzw. mangelhaft begründet.

11       Das BVwG ging u.a. davon aus, dass dem Mitbeteiligten durch bereits bestehende Ausgangsbeschränkungen in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul sowie durch „mögliche bzw. wahrscheinliche zukünftige Ausgangsbeschränkungen in weiteren Städten oder Orten in Afghanistan“ die Suche nach Arbeit unmöglich sei. Rückkehrhilfe könne er wegen der zahlreichen Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan, wenn überhaupt, nur minimal in Anspruch nehmen.

12       Die Amtsrevision macht zu Recht geltend, dass diese Erwägungen durch keine entsprechenden Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis gedeckt sind. Insbesondere lässt sich der Begründung nicht entnehmen, ob und welche Ausgangsbeschränkungen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG etwa in der afghanischen Stadt Mazar-e Sharif gegeben waren, die einer Arbeitssuche entgegenstünden (so zu einem vergleichbaren Fall bereits VwGH 16.6.2021, Ro 2020/18/0003).

13       Schon wegen dieser Begründungsmängel kann das angefochtene Erkenntnis keinen Bestand haben und war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Wien, am 4. Februar 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RO2020140005.J00

Im RIS seit

04.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

22.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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