Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI R* E*, vertreten durch Dr. Robert Eiter, Rechtsanwalt in Landeck, gegen die beklagten Parteien 1. S* D* und 2. V* GmbH, beide *, beide vertreten durch Dr. Harald Vill et al, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen 5.101,80 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 2.000 EUR), über die Revisionen der klagenden Partei und der erstbeklagten Partei (Revisionsinteresse jeweils 5.101,80 EUR sA) gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 2. Juni 2021, GZ 3 R 54/21v-54, womit infolge Berufungen der klagenden Partei und der zweitbeklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichts Kufstein vom 15. Dezember 2020, GZ 4 C 286/19h-47, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
I. Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der zweitbeklagten Partei die mit 499,39 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten 83,23 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
II. Der Revision der erstbeklagten Partei wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird in der Hauptsache wie folgt abgeändert:
„Das Klagebegehren,
a) die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 5.101,80 EUR samt 4 % Zinsen seit 3. 12. 2018 zu zahlen,
b) es werde festgestellt, dass die beklagten Parteien der klagenden Partei für alle zukünftigen Schäden aus dem Vorfall vom 14. 11. 2018 in * hafteten,
wird abgewiesen.“
Die klagende Partei ist schuldig,
a) den beklagten Parteien die mit 4.188,77 EUR (darin enthalten 697,78 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz,
b) der erstbeklagten Partei die mit 1.992,36 EUR (darin enthalten 762 EUR Barauslagen und 205,06 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens und
c) der zweitbeklagten Partei die mit 1.301,97 EUR (darin enthalten 571 EUR Barauslagen und 121,83 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens
jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger nahm im November 2018 an einer von einem Sozialversicherungsträger genehmigten „Gesundheitswoche“ im von der Zweitbeklagten betriebenen Kurzentrum teil. Am 14. 11. 2018 erlitt er während einer vom Erstbeklagten – einem Angestellten der Zweitbeklagten – geleiteten, im Rahmen des Therapieplans vorgesehenen Therapiestunde „Fitnessboxen (Stress-Abbautraining)“ eine Verletzung im Schulterbereich. Beim „Fitnessboxen“ handelt es sich um ein Konditions- und Stressabbautraining, in dem grundlegende Boxtechniken vermittelt werden. Mehrere Teilnehmer baten den Erstbeklagten, das Abwehren eines Angreifers zu demonstrieren. Der Kläger, der zuvor bereits „Schlagpolster“ gehalten hatte, mit deren Hilfe der Erstbeklagte Schlagtechniken demonstriert hatte, erklärte sich daraufhin bereit, den „Angreifer“ zu „spielen“. Selbstverteidigungstechniken sind kein regulärer Bestandteil des „Fitnessboxens“. Durch das Demonstrieren von Verteidigungstechniken verließ der Erstbeklagte den medizinischen Therapieplan.
[2] Der Erstbeklagte wehrte einen „Angriff“ des Klägers ab, indem er ihn so zu Boden warf, dass der Kläger mit der (vorgeschädigten) linken Schulter am Boden aufschlug. Der Erstbeklagte hielt es dabei nicht für möglich, dass der Kläger eine Verletzung an der Schulter erleiden würde, und war auch nicht gewillt, eine solche hinzunehmen.
[3] Der Kläger begehrt die Zahlung von 5.101,80 EUR sA an Schmerzengeld und verletzungsbedingt entstandenen Nebenspesen sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige Unfallfolgen. Der Erstbeklagte habe gegen Ende der Einheit „Fitnessboxen“ die Abwehr eines Angreifers vorführen wollen, wobei diesen der Kläger spielen habe müssen. Der Erstbeklagte habe damit vom Therapieplan nicht gedeckte Handlungen gesetzt und dabei den Kläger (zumindest bedingt) vorsätzlich verletzt. Das Haftungsprivileg des § 333 ASVG komme nicht zur Anwendung, weil die Handlungen des Erstbeklagten mit der Therapie nichts zu tun gehabt hätten. Eine Fehlbehandlung könne kein Arbeitsunfall sein. Die von der Zweitbeklagten angebotenen Therapien umfassten Techniken der Selbstverteidigung nicht. Der Erstbeklagte habe die Grundsätze der Therapie missachtet, sei von vorgegebenen Therapieplänen bewusst abgewichen und habe vorgegebene Normen nicht eingehalten. Der Versicherungsschutz könne nur Ausübungshandlungen umfassen, die mit der geschützten Tätigkeit in zeitlichem, örtlichem und ursächlichem Zusammenhang stünden, was hier nicht der Fall sei.
[4] Der Erstbeklagte habe als in der Krankenanstalt tätiger Physiotherapeut die übliche, auch gegenüber dem Kläger bestehende Sorgfalt vernachlässigt. Er hafte aus Vertrag und Delikt, insbesondere auch wegen Verletzung eines Schutzgesetzes gemäß § 1311 ABGB. Die Zweitbeklagte hafte aus Vertrag, das Verhalten des Erstbeklagten als ihres Erfüllungsgehilfen sei ihr gemäß § 1313a ABGB zuzurechnen.
[5] Die Beklagten wenden ein, dass der Erstbeklagte in Notwehr bzw reflexartig eine Abwehrhandlung gesetzt habe, weil der Kläger nach Abschluss der Demonstration völlig überraschend einen weiteren Schlag gegen ihn geführt habe. Der Erstbeklagte habe Selbstverteidigungstechniken lediglich aufgrund der Nachfrage der Kursteilnehmer demonstriert, der Kläger habe sich freiwillig als „Angreifer“ gemeldet. Der Kläger sei vom Sozialversicherungsträger zur Gesundheitswoche zugewiesen worden und habe einen Arbeitsunfall erlitten, sodass das Dienstgeberhaftungsprivileg zur Anwendung gelange. Aus medizinischer Sicht sei von einem zeitlichen, örtlichen, persönlichen und situativen Zusammenhang zwischen der Therapie „Fitnessboxen“ und der Schulterluxation des Klägers auszugehen. Die Verletzung sei vom Erstbeklagten weder geplant noch für ihn vorhersehbar gewesen. Der Erstbeklagte sei Aufseher im Betrieb gewesen.
[6] Das Erstgericht wies (im zweiten Rechtsgang) das gegen den Erstbeklagten gerichtete Klagebegehren zur Gänze ab. Die Zweitbeklagte verpflichtete es hingegen (unter unangefochten gebliebener Abweisung eines Mehrbegehrens von 2.000 EUR sA) zur Zahlung von 3.101,80 EUR sA und stellte deren Haftung für künftige Unfallschäden fest. Da es zwischen der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme „Fitnessboxen“ und der demonstrierten Selbstverteidigungstechnik an einem ursächlichen Zusammenhang fehle und das Vorliegen eines Arbeitsunfalls damit zu verneinen sei, könne sich die Zweitbeklagte nicht auf das Dienstgeberhaftungsprivileg berufen. Die Zweitbeklagte hafte für das Verschulden des ihr als Erfüllungsgehilfe zuzurechnenden Erstbeklagten. Da der Erstbeklagte kein Schutzgesetz iSd § 1311 ABGB verletzt habe, hafte er nicht.
[7] Das Berufungsgericht gab der gegen die Abweisung des gegen den Erstbeklagten gerichteten Feststellungs- sowie Zahlungsbegehrens im Umfang von 3.101,80 EUR sA gerichteten Berufung des Klägers Folge. Ebenso gab es der Berufung der Zweitbeklagten Folge, die sich gegen die teilweise Stattgebung des gegen sie gerichteten Klagebegehrens wandte. Insgesamt verpflichtete damit das Berufungsgericht den Erstbeklagten zur Zahlung von 3.101,80 EUR sA und stellte dessen Haftung für künftige Unfallschäden fest. Das restliche Klagebegehren wies es ab. Es sprach aus, dass der Entscheidungsgegenstand 5.000 EUR übersteige und ließ die Revision an den Obersten Gerichtshof zu.
[8] Der Kläger habe einen Arbeitsunfall iSd § 175 ASVG erlitten, sodass der Zweitbeklagten das Dienstgeberhaftungsprivileg gemäß §§ 333, 334 iVm 335 Abs 3 ASVG zu Gute komme. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Therapie-Einheit und der demonstrierten Selbstverteidigungstechnik sei zu bejahen, zumal der Kläger annehmen habe müssen, sich in einer Therapiestunde zu befinden, obwohl der Erstbeklagte den Therapieplan verlassen habe. Der Erstbeklagte hafte hingegen deliktisch, weil er die körperliche Unversehrtheit des Klägers verletzt habe. Auf die zur Verletzung bei Sportausübung ergangene Judikatur könne sich der Erstbeklagte nicht berufen, weil ihn eine besondere Sorgfaltspflicht gegenüber dem Kläger getroffen habe.
[9] Die Revision sei zuzulassen, weil aus Gründen der Rechtssicherheit zu klären sei, inwieweit noch von einem „inneren Zusammenhang“ bei Unfällen in einer Rehabilitationseinrichtung ausgegangen werden könne.
[10] Gegen die Abweisung des gegen die Zweitbeklagte gerichteten Feststellungs- sowie Zahlungsbegehrens im Umfang von 3.101,80 EUR sA richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, das Urteil insoweit im klagsstattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[11] Gegen die teilweise Stattgebung des gegen ihn gerichteten Klagebegehrens wendet sich die Revision des Erstbeklagten mit dem Antrag, das Urteil im gänzlich klagsabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[12] In den Revisionsbeantwortungen beantragen der Kläger und die Zweitbeklagte, die Revision der Gegenseite zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] I. Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision des Klägers nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten ist.
[14] I.1. Die behauptete Nichtigkeit liegt nicht vor, weil das Berufungsgericht nicht in die Teilrechtskraft des Urteils des Erstgerichts eingegriffen, sondern nur im Spruch des Berufungsurteils zum Ausdruck gebracht hat, wie die Entscheidung insgesamt „unter Einschluss des in Rechtskraft erwachsenen Teils“ zu lauten hat.
[15] I.2. Ob ein nach der unter Punkt II.1. näher dargestellten Rechtsprechung hinreichender Zusammenhang mit der medizinischen Rehabilitation besteht, lässt sich nur unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls beantworten. Gleiches gilt für die Frage, ob nach den unter Punkt II.1. näher dargestellten Kriterien ein Unfall vorliegt (vgl RS0084229 [T17]). In beiden Punkten hat das Berufungsgericht den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum aus den in Punkt II.1. genannten Gründen im Einzelfall nicht überschritten.
[16] Soweit der Kläger argumentiert, dass der Erstbeklagte zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt habe, entfernt er sich vom festgestellten Sachverhalt.
[17] I.3. Da das Berufungsgericht sohin insgesamt vertretbar davon ausgegangen ist, dass sich die Zweitbeklagte auf das Dienstgeberhaftungsprivileg berufen kann, ist die Revision des Klägers zurückzuweisen.
[18] I.4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 iVm § 50 ZPO. Da die Zweitbeklagte in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, diente ihr Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung. Der verzeichnete Streitgenossenzuschlag steht nicht zu, weil die Revision des Klägers nur das gegen die Zweitbeklagte gerichtete Klagebegehren betraf und daher auch nur Letztere als Revisionsgegnerin anzusehen ist.
[19] II. Die Revision des Erstbeklagten ist zulässig, weil das Berufungsgericht nicht geprüft hat, ob der Erstbeklagte als Aufseher im Betrieb anzusehen ist; sie ist im Sinn der gänzlichen Abweisung des gegen den Erstbeklagten gerichteten Klagebegehrens auch berechtigt.
[20] Der Erstbeklagte argumentiert, dass das Berufungsgericht der Zweitbeklagten zwar zu Recht das Dienstgeberhaftungsprivileg zuerkannt, allerdings übersehen habe, dass der Erstbeklagte als Leiter der im Rahmen der Gesundheitswoche abgehaltenen Therapiestunde als Aufseher im Betrieb zu qualifizieren sei. Das Bestehen einer deliktischen Haftung des Erstbeklagten neben dem Dienstgeberhaftungsprivileg sei zu verneinen.
Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:
[21] II.1. Das Berufungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Dienstgeberhaftungsprivilegs zutreffend bejaht.
[22] II.1.1. Der Oberste Gerichtshof hat sich bereits mehrfach mit der Frage des Unfallversicherungsschutzes für jene Personen befasst, die in einer Einrichtung untergebracht sind, die der medizinischen Rehabilitation oder Gesundheitsvorsorge dient (§ 8 Abs 1 Z 3 lit c letzter Fall ASVG; vgl RS0114053). Er hat auch bereits wiederholt zur Frage Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen der Träger der Einrichtung, in der die Rehabilitation oder Gesundheitsvorsorge erfolgt, dem gemäß § 8 Abs 1 Z 3 lit c letzter Fall ASVG in der Unfallversicherung Teilversicherten das Dienstgeberhaftungsprivileg gemäß § 333 ASVG iVm § 335 Abs 3 ASVG entgegen halten kann (2 Ob 218/06g DRdA 2008/24 [Müller]; 2 Ob 213/06x; 1 Ob 247/06i; 2 Ob 45/17s DRdA 2018/49 [krit Müller]). Diese Rechtsprechung lässt sich wie folgt zusammenfassen:
[23] II.1.2. Die Berechtigung der Einwendung des Dienstgeberhaftungsprivilegs hängt davon ab, ob der Schadensfall als von der Unfallversicherung geschützter Arbeitsunfall (iSd § 175 ASVG) zu qualifizieren ist (vgl 2 Ob 45/17g Punkt 3.3.).
[24] Der Unfallversicherungsschutz im Rahmen der Unterbringung in einer medizinischen Rehabilitationsanstalt erstreckt sich damit nur auf Ausübungshandlungen des Versicherten, die mit der geschützten Tätigkeit – also der medizinischen Rehabilitation – im zeitlichen, örtlichen und ursächlichen Zusammenhang stehen (2 Ob 218/06g und 2 Ob 45/17g jeweils unter Hinweis auf 10 ObS 238/00y mwN; vgl § 175 Abs 1 ASVG).
[25] Für die Bejahung eines Arbeitsunfalls entscheidend ist zudem das Vorliegen eines zeitlich begrenzten Ereignisses, das von außen her schädigend auf den Körper einwirkt und damit zu einer Körperschädigung geführt hat (2 Ob 45/17g; vgl RS0084348).
[26] II.1.3. In der Entscheidung 10 ObS 238/00y verneinte der Oberste Gerichtshof das Vorliegen eines Arbeitsunfalls in einem Fall, in dem der Kläger bei einem in der therapiefreien Zeit unternommenen Spaziergang stürzte, weil der Sturz nicht im Rahmen der Teilnahme an einer ärztlich angeordneten therapeutischen Behandlung erfolgt sei. Der Spaziergang sei Teil der Freizeitgestaltung gewesen und damit dem privatwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen. Es habe sich auch keine besondere betriebliche Gefahr verwirklicht.
[27] In der Entscheidung 2 Ob 218/06g verneinte der Senat das Bestehen des Dienstgeberhaftungsprivilegs in einem Fall, in dem eine ärztliche Fehlbehandlung Ursache eines (erst nach Abschluss der Rehabilitation eingetretenen) Herzinfarkts war, weil eine solche ärztliche Behandlung nicht vom gesetzlichen Versicherungsschutz umfasst sei und überdies das Erfordernis fehle, dass auf den Körper plötzlich eingewirkt werden müsse (ähnlich auch 2 Ob 213/06x).
[28] In der Entscheidung 1 Ob 247/06i verneinte der Oberste Gerichtshof das Vorliegen eines Arbeitsunfalls in einem Fall, in dem die Klägerin nach dem Duschen auf einem Duschvorleger ausgerutscht war, weil das Duschbad weder einen Teil der verordneten Therapie dargestellt habe noch damit in einem inneren Zusammenhang gestanden sei.
[29] In der Entscheidung 2 Ob 45/17g bejahte der Senat das Vorliegen eines Arbeitsunfalls in einem Fall, in dem der Kläger im Rahmen eines ihm verordneten Kohlensäurebads auf Anweisung der Therapeutin in eine zu heiße Edelstahlwanne stieg und dabei Verbrennungen erlitt. Auch ein therapeutischer Fehler, der den Arbeitsunfall verursache, könne zur Anwendung des Dienstgeberhaftungsprivilegs führen, sofern ein ursächlicher Zusammenhang mit einer Maßnahme zur Rehabilitation oder Gesundheitsvorsorge bestehe und keine Krankenbehandlung vorliege.
[30] In der Entscheidung 10 ObS 77/18y erachtete der Oberste Gerichtshof die Rechtsansicht als vertretbar, einen während eines von der Rehabilitationsanstalt organisierten, freiwilligen Ausflugs erlittenen Unfall nicht als Arbeitsunfall zu qualifizieren.
II.1.4. Auf Grundlage dieser Rechtsprechung liegt aus folgenden Erwägungen ein Arbeitsunfall vor:
[31] Der Sturz des Klägers ist als zeitlich begrenztes Ereignis in Form einer Einwirkung von außen anzusehen (zum Sturz als Unfall jüngst 10 ObS 80/20t mwN). Entgegen den Ausführungen des Klägers kann im Verhalten des Erstbeklagten keine „ärztliche Fehlbehandlung“ erblickt werden; vielmehr ist ein Unfall zu beurteilen, der sich bei einer therapieinduzierten Tätigkeit des Patienten ereignet hat (Müller, DRdA 2008/24 [EAnm zu 2 Ob 218/06g], 316 [318]). Die Beteiligung eines Dritten am Unfall steht einer Qualifikation als Arbeitsunfall nicht grundsätzlich entgegen (vgl RS0084198 zu bei einer tätlichen Auseinandersetzung erlittenen Unfällen).
[32] Den geforderten zeitlichen, örtlichen und ursächlichen Zusammenhang zwischen der Ausübungshandlung des Versicherten (hier: Teilnahme an der Demonstration der Selbstverteidigungstechniken) und der medizinischen Rehabilitation hat das Berufungsgericht – wie der Kläger in der Revision zugesteht – zutreffend bejaht. Dem festgestellten Verlassen des medizinischen Therapieplans durch den Erstbeklagten kommt schon deswegen keine entscheidende Bedeutung zu, weil nur die Tätigkeit des verletzten Patienten, nicht aber die Handlungsweise des Schädigers für die Annahme eines Arbeitsunfalls entscheidend ist (vgl RS0084246). Außerdem ist zu beachten, dass die Verletzung des Klägers im Rahmen einer ärztlich verordneten Therapieeinheit erfolgte und zwischen „Fitnessboxen“ und Selbstverteidigungstechniken ein zumindest loser thematischer Zusammenhang besteht.
[33] II.2. Der Erstbeklagte ist als Aufseher im Betrieb zu qualifizieren.
[34] II.2.1. Ein Aufseher im Betrieb ist nach § 333 Abs 4 ASVG einem Dienstgeber gleichgestellt und kann sich daher ebenfalls auf die Haftungsbegünstigung des § 333 Abs 1 und 2 ASVG berufen. Da nach § 335 Abs 3 ASVG der Träger der Einrichtung, in der die Rehabilitation oder Gesundheitsvorsorge erfolgt, „für die Anwendung der §§ 333 und 334“ dem Dienstgeber gleichsteht, ist für den Verfahrensausgang (mit-)entscheidend, ob der Erstbeklagte – wie von ihm bereits in erster Instanz ausdrücklich eingewendet – als Aufseher im Betrieb anzusehen ist. Das Berufungsgericht hat diese Frage ungeprüft gelassen. Unter Bedachtnahme auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ist der Erstbeklagte aus folgenden Erwägungen als Aufseher im Betrieb zu qualifizieren:
[35] II.2.2. Der Aufseher im Betrieb muss nach der Rechtsprechung eine mit einem gewissen Pflichtenkreis und Selbständigkeit verbundene Stellung innehaben. Entscheidend ist, ob jemand bezüglich einer bestimmten, ihm aufgetragenen Arbeit entscheidungsbefugt ist, also die Verantwortung für das Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte trägt (RS0088337 [insb auch T15]; vgl auch RS0085519). Mit anderen Worten muss der Aufseher im Betrieb andere Betriebsangehörige, einen Teil des Betriebs oder zumindest einen Betriebsvorgang in eigener Verantwortung überwachen (RS0085510; RS0085418). Der Geschädigte muss also dem Aufseher im Betrieb wie einem Dienstvorgesetzten, dem Weisungsrechte zustehen, untergeordnet sein (RS0085661).
[36] Auf Grundlage dieser Judikatur ist der Erstbeklagte als Aufseher im Betrieb zu qualifizieren, weil er die Therapiestunde leitete und damit in eigener Verantwortung deren Ablauf bestimmte. Der Kläger als Teilnehmer an der Therapiestunde war dem Erstbeklagten insoweit untergeordnet.
[37] II.3. Da sich der Erstbeklagte mit Erfolg auf die Haftungsbeschränkung des § 333 ASVG berufen kann und diese Regelung alle anderen Haftungsgründe ausschließt (RS0028584; RS0085236), erübrigt sich ein Eingehen auf die Frage, ob ihm auf Basis der Feststellungen überhaupt ein rechtswidriges Verhalten anzulasten ist.
[38] II.4. Das angefochtene Urteil ist damit im Sinn einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.
[39] II.5. Diese Abänderung macht eine Neufassung der Entscheidung über die Verfahrenskosten der Vorinstanzen erforderlich.
[40] Der Kläger hat den als Solidarschuldner in Anspruch genommenen Beklagten deren Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens gemäß § 41 ZPO zu ersetzen. Die Einwendungen des Klägers gemäß § 54 Abs 1a ZPO sind nicht berechtigt:
[41] Die von den Beklagten erstatteten Äußerungen zu den Sachverständigengutachten waren zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung erforderlich; eine Verbindung der Äußerungen wäre nicht möglich gewesen, weil eine davon das Ergänzungsgutachten betraf.
[42] Die Beklagten haben schon deswegen zu Recht den doppelten Einheitssatz verzeichnet, weil sie ihren (Wohn-)Sitz nicht am Sitz des Erstgerichts haben und daher ohne für sie nachteilige Kostenfolgen einen Anwalt an einem beliebigen Ort außerhalb des Gerichtsorts beauftragen durften (RS0036203 [T1]).
[43] Im Berufungsverfahren hat der Kläger der Zweitbeklagten die Kosten von deren Berufung und dem Erstbeklagten die Kosten von dessen Berufungsbeantwortung zu ersetzen.
[44] II.6. Der Kläger hat dem Erstbeklagten gemäß § 41 iVm § 50 ZPO die Kosten der erfolgreichen Revision zu ersetzen. Der verzeichnete Streitgenossenzuschlag steht nicht zu, weil die Revision des Erstbeklagten nur das gegen ihn gerichtete Klagebegehren betraf.
Textnummer
E133991European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00185.21A.1214.000Im RIS seit
04.03.2022Zuletzt aktualisiert am
04.03.2022