Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
ASVG §500;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten in Wien, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 6. Februar 1996, Zl. MA 15-II-D 5/95, betreffend Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei: P, Israel, vertreten durch Dr. R, Rechtsanwältin in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt hat dem Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) Aufwendungen von S 4.565,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid vom 3. April 1995 lehnte die Beschwerdeführerin in der Pensionsversicherung des Mitbeteiligten die Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG für die Zeit vom 4. März 1933 bis 31. März 1959 ab. Nach der Begründung dieses Bescheides habe der Mitbeteiligte Österreich bereits 1936 verlassen, weshalb seine Auswanderung in keinem Zusammenhang mit einer Verfolgung aus religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung habe stehen können. Eine politische Verfolgung habe nicht glaubhaft gemacht werden können.
In Stattgebung des gegen diesen Bescheid vom Mitbeteiligten erhobenen Einspruches hat die belangte Behörde mit dem nunmehr in Beschwerde gezogenen Bescheid gemäß §§ 413 und 414 in Verbindung mit § 355 ASVG festgestellt, daß für den Mitbeteiligten die Zeit vom 1. August 1940 bis 4. Juli 1941 und vom 22. Juli 1944 bis 6. Mai 1945 aufgrund von § 502 Abs. 1 ASVG, sowie die Zeit vom 15. Juni 1938 bis 31. Juli 1940, vom 5. Juli 1941 bis 21. Juli 1944 und vom 7. Mai 1945 bis 31. März 1959 aufgrund von § 502 Abs. 4 ASVG in der Pensionsversicherung der Angestellten begünstigt anzurechnen sei. Die belangte Behörde nahm als erwiesen an, daß der Beschwerdeführer am 13. März 1938 und auch bis 15. Juni 1938 in Österreich den "Mittelpunkt seiner Lebens- und Verdienstinteressen" (und damit einen ordentlichen Wohnsitz) gehabt habe, und begründete dies damit, daß aus einer Meldebestätigung der Stadt Anderlecht hervorgehe, daß der Mitbeteiligte dort seit 15. Juni 1938 von Wien kommend gemeldet gewesen sei. Laut Meldebestätigung des Zentralmeldeamtes in Wien sei er bis August 1936 in Wien gemeldet gewesen. Dazu sei jedoch darauf hinzuweisen, daß nach dieser Meldebestätigung der Mitbeteiligte in der Zeit von 1928 bis 1. August 1936 jeweils nur kurzfristig an verschiedenen Adressen in Wien gemeldet gewesen und immer wieder abgemeldet worden sei, sodaß einer fehlenden polizeilichen Meldung nach dem 1. August 1936 nach Auffassung der belangten Behörde kein Beweiswert dafür zukommen könne, daß der Genannte schon ab 1936 seinen ordentlichen Wohnsitz nicht mehr in Österreich gehabt habe. Auch im Opferfürsorgeakt finde sich keine Aussage des Mitbeteiligten, wonach er Österreich bereits vor dem 13. März 1938 verlassen habe. Die belangte Behörde sehe keinen Grund an den Angaben des Mitbeteiligten zu zweifeln, wonach er 1936 und 1937 in zwei verschiedenen Geschäften in der L-Straße gearbeitet und in dieser Zeit bei Freunden in Wien gewohnt habe. Auch daraus könne geschlossen werden, daß der Mitbeteiligte zu diesen Zeitpunkten seinen Wohnsitz offensichtlich noch in Österreich gehabt habe. Die belangte Behörde sei aufgrund der Aktenlage somit zu dem Schluß gekommen, daß der Mitbeteiligte erst am 15. Juni 1938 aus Gründen der Abstammung seinen Wohnsitz von Österreich in das Ausland verlegt habe, weshalb für ihn die Zeit der Anhaltung in St. Cyprien, Gurs, Malines und Auschwitz gemäß § 502 Abs. 1 ASVG sowie die Zeit der Auswanderung gemäß § 502 Abs. 4 ASVG in der Pensionsversicherung der Angestellten habe spruchgemäß begünstigt angerechnet werden können.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht das Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen für die begünstigte Anrechnung im Sinne der §§ 500 ff ASVG, sondern beharrt in ihrer Beschwerde darauf, daß der Mitbeteiligte ihrer Auffassung nach Österreich bereits im Jahr 1936 verlassen und daher im Jahre 1938 (im Zeitpunkt des Einsetzens der Verfolgung gegen Personen jüdischer Abstammung) keinen ordentlichen Wohnsitz in Österreich mehr gehabt habe.
Die Beschwerdeführerin zieht - wie ihre Hinweise auf Rechtsätze der Rechtsprechung zu der hier strittigen Frage zeigen - nicht in Zweifel, daß unter Zugrundelegung der Tatsachenfeststellung der belangten Behörde, wonach der Mitbeteiligte am 13. März 1938 in Österreich einen ordentlichen Wohnsitz gehabt habe, der angefochtene Bescheid nicht zu beanstanden wäre. Sie bekämpft allerdings die genannte Tatsachenfeststellung insoweit, als sie die Schlüssigkeit der Beweiswürdigung der belangten Behörde in Zweifel zieht: Es sei zwar im Prinzip der belangten Behörde darin zu folgen, daß einer "fehlenden polizeilichen Meldung nach dem 1. August 1936 kein Beweiswert dafür" zukomme, daß der Mitbeteiligte seinen ordentlichen Wohnsitz nicht mehr in Österreich gehabt habe, es sei jedoch im vorliegenden Fall zu beachten, daß die letzten polizeilichen Meldungen des Mitbeteiligten im wesentlichen an den Anschriften "W, H und L" erfolgt seien. In diesem Zusammenhang sei von wesentlicher Bedeutung, daß der Mitbeteiligte am 16. Mai 1936 wegen der Übertretung der Veruntreuung gemäß §§ 461/183 StG zu einer Haftstrafe verurteilt worden sei. Ob die dargelegten Lebensumstände deutlich machten, daß für den Mitbeteiligten der Mittelpunkt der Lebensinteressen bis über den März 1938 hinaus in Österreich gelegen gewesen sei, könne aufgrund der persönlichen Seite, nach dem Familiensitz und nach der Haushaltsführung sowie auch nach dem Verdienstinteresse bezweifelt werden. Bei Würdigung dieser Fakten sei nicht erkennbar, weshalb die belangte Behörde dem nunmehrigen Vorbringen des Mitbeteiligten mehr Glauben geschenkt habe als seinen ursprünglichen Angaben:
In einem im Jahr 1965 durchgeführten Entschädigungsverfahren gemäß § 14 Abs. 2 lit. a Opferfürsorgegesetz habe der Mitbeteiligte angegeben, Österreich im Jahre 1936 verlassen zu haben. Aufgrund dieser Angaben sei der (damals) gegenständliche Antrag mit Bescheid vom 30. August 1965 abgelehnt worden. Die Nichteinbringung eines Rechtsmittels gegen diese Ablehnung könne nur so gedeutet werden, daß der Mitbeteiligte die Richtigkeit der Entscheidung, basierend auf den Angaben, Österreich bereits im Jahr 1936 verlassen zu haben, anerkannt habe.
2. Damit bekämpft die Beschwerdeführerin im wesentlichen die Beweiswürdigung der belangten Behörde.
2.1. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedeutet der in § 45 Abs. 2 AVG zum Ausdruck kommende Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, daß der in der Begründung des Bescheides niederzulegende Denkvorgang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. Diese Bestimmung hat nur zur Folge, daß - sofern in den besonderen Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist - die Würdigung der Beweise keinen anderen, insbesondere auch nicht gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber keineswegs eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle in der Richtung aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind. Der Verwaltungsgerichtshof ist an den von der belangten Behörde angenommenen Sachverhalt insoweit nicht gebunden, als dieser in einem wesentlichen Punkt aktenwidrig angenommen wurde, einer Ergänzung bedarf oder bei seiner Ermittlung Verfahrensvorschriften außer acht gelassen wurden, bei deren Einhaltung die Behörde zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Schließlich unterliegt die Beweiswürdigung der Behörde auch der Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes in der Richtung, ob alle zum Beweis oder zur Widerlegung strittiger Tatsachen nach der Aktenlage objektiv geeigneten Umstände berücksichtigt wurden und die Behörde bei der Würdigung dieser Umstände (bzw. bei Gewinnung ihrer Schlußfolgerungen) deren Gewicht (im Verhältnis zueinander) nicht verkannt hat. Prüfungsmaßstab des Verwaltungsgerichtshofes für die Beurteilung der Frage, ob Umstände in diesem Sinn objektiv geeignet (und daher zu berücksichtigen) sind und ob ihr Gewicht (an sich oder im Verhältnis zu anderen Sachverhaltselementen) verkannt wurde, sind die Gesetze der Logik und des allgemeinen menschlichen Erfahrungsgutes.
Wenn es hingegen nachvollziehbare, mit den Denkgesetzen übereinstimmende Gründe für jede von mehreren in Betracht kommenden Sachverhaltsvarianten gibt, so hat die belangte Behörde nach freier Überzeugung auch zu entscheiden, welchen dieser Sachverhaltsvarianten sie den Vorzug gibt und dies nachvollziehbar zu begründen, ohne daß ihr der Verwaltungsgerichtshof darin entgegentreten könnte (vgl. dazu aus jüngerer Zeit das Erkenntnis vom 20. Februar 1996, Zl. 95/08/0222, mit Hinweisen auf die Vorjudikatur).
2.2. Der von der belangten Behörde hinsichtlich des ordentlichen Wohnsitzes des Mitbeteiligten festgestellte Sachverhalt und die dabei angestellten Erwägungen halten vor diesem rechtlichen Hintergrund einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle aus folgenden Gründen stand:
2.2.1. Zunächst ist der belangten Behörde insoweit nicht entgegenzutreten, als sie einer amtlichen Bestätigung, aus der hervorgeht, daß der Mitbeteiligte am 15. Juni 1938 von Wien kommend in Belgien eingewandert ist (mit den Worten der Urkunde: in das Ausländerverzeichnis eingetragen wurde), mehr Gewicht beigemessen hat als dem Umstand, daß polizeiliche Meldungen für den Mitbeteiligten im Zeitraum von 1936 bis 1938 beim Wiener Zentralmeldeamt fehlen. Aus der letzten Meldung beim Zentralmeldeamt ergibt sich nämlich nicht, daß der Mitbeteiligte im Zeitpunkt seiner letzten Abmeldung am 1. August 1936 ins Ausland abgemeldet worden wäre. Aus der Meldebestätigung ist lediglich ersichtlich, daß der Ort, wohin der Mitbeteiligte umgemeldet wurde, unbekannt ist. Sie deutet daher insbesondere nicht darauf hin, daß der Mitbeteiligte am 1. August 1936 Österreich verlassen hat. Die Meldebestätigung der Bundespolizeidirektion Wien steht daher mit dem Beweismittel, auf welches sich die belangte Behörde hauptsächlich gestützt hat, nicht in direktem Widerspruch.
2.2.2. Das Fehlen einer polizeilichen Meldung von 1936 bis 1938 erhält aber auch dadurch nicht mehr Gewicht (im Sinne eines Widerspruches zum sonstigen Beweisergebnis), daß der Mitbeteiligte am 16. Mai 1936 wegen der Übertretung der Veruntreuung gemäß § 461/183 StG zu einer Haftstrafe verurteilt worden ist; im Gegenteil: aus dieser Verurteilung könnte wohl ein Interesse des Mitbeteiligten abgeleitet werden, sich der Strafverfolgung zu entziehen, ohne daß aber wegen einer - wie aktenkundig ist - Haftstrafe von fünf Tagen strengen Arrests schon die Annahme einer Flucht ins Ausland näherläge als etwa die Annahme, er habe bloß in Österreich "untertauchen" wollen.
2.2.3. Die belangte Behörde hat sich aber auch in schlüssiger Weise mit dem von der Pensionsversicherungsanstalt des weiteren ins Treffen geführten Beweismittel auseinandergesetzt, nämlich einem Bescheid der Magistratsabteilung 12 vom 30. August 1965, nach dessen Begründung der Mitbeteiligte auch "selbst angegeben" habe, Österreich bereits im Jahre 1936 verlassen zu haben. In Übereinstimmung mit dem Akteninhalt des Opferfürsorgeaktes führt die belangte Behörde dazu aus, daß eine solche Angabe des Mitbeteiligten in diesem Akt nicht ersichtlich sei. Aus dem Umstand allein, daß der Mitbeteiligte diesen Bescheid nicht mit Berufung bekämpft hat - worauf die Beschwerdeführerin hinweist -, ergibt sich nicht die Unschlüssigkeit dieser Erwägung der belangten Behörde: Die Nichtbekämpfung eines Bescheides, mit welchem dem Mitbeteiligten - nach Zuerkennung von Haftentschädigungen für Haftzeiten von 1940 bis 1941 bzw. 1944 bis 1945 - eine Entschädigung für Internierung für den Zeitraum vom 1. Juni bis 31. Juni 1940 (also für nur zwei Monate) nicht zuerkannt wurde, kann mehrere Ursachen haben:
Neben der von der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt genannten Ursache, daß der Mitbeteiligte die Tatsachenfeststellung, Österreich bereits im Jahre 1936 verlassen zu haben, "anerkannt habe", käme in gleicher Weise sowohl Desinteresse an der Weiterverfolgung eines relativ geringfügigen Anspruches als auch der Umstand in Betracht, daß der Mitbeteiligte damals möglicherweise noch nicht über das nunmehr vorliegende Beweismittel (nämlich die Bestätigung der Stadt Anderlecht vom 27. September 1966) verfügte. Der Schluß der Beschwerdeführerin, der Mitbeteiligte habe damit die Feststellung der Behörde anerkannt, er habe bereits im Jahr 1936 seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, ist daher nur eine von mehreren gleich wahrscheinlichen Annahmen und nicht in dem Sinne zwingend, daß die belangte Behörde diese Überlegungen in ihre Beweiswürdigung im Sinne des Schlusses der Beschwerdeführerin hätte einbeziehen müssen.
2.3. Die Beschwerdeführerin vermag somit insgesamt keinen vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Umstand aufzuzeigen, aus dem sich die Beweiswürdigung der belangten Behörde als unschlüssig oder unvollständig erwiese. Ob die belangte Behörde bei gegebener Aktenlage auch die von der Beschwerdeführerin gewünschten Schlußfolgerungen mit ebenso schlüssiger Begründung hätte ziehen können, muß nicht untersucht werden, da selbst bejahendenfalls der Verwaltungsgerichtshof nach der dargelegten Rechtsprechung nicht berechtigt wäre, der Beweiswürdigung der belangten Behörde entgegenzutreten.
2.4. Da die Beschwerdeführerin im übrigen nicht behauptet, daß der angefochtene Bescheid - unter Zugrundelegung der Tatsachenfeststellungen der belangten Behörde - rechtswidrig sei, und auch der Verwaltungsgerichtshof eine solche Rechtswidrigkeit nicht zu erkennen vermag, war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Schlagworte
freie BeweiswürdigungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1996:1996080073.X00Im RIS seit
20.11.2000