TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/3 Ra 2021/18/0276

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.02.2022
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §58 Abs2
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §29

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S A, vertreten durch Mag. Dr. Mario Schiavon als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Freyung 6/7/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juni 2021,W131 2179479-1/38E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren war abzuweisen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger (Hazara) aus der Provinz Maidan Wardak, beantragte am 29. November 2015 internationalen Schutz. Zur Begründung brachte er im Laufe des Verfahrens zusammengefasst vor, ihm drohe im Herkunftsstaat die Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Außerdem würde er wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit im Allgemeinen und als Rückkehrer aus dem „westlichen Ausland“ bzw. wegen „westlicher Orientierung“ verfolgt werden.

2        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17. November 2017 zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

3        Begründend erachtete es das BVwG für nicht glaubhaft, dass dem Revisionswerber bei Rückkehr nach Afghanistan eine Zwangsrekrutierung durch die Taliban drohen oder er wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit bzw. wegen seines Aufenthalts in Europa verfolgt werden würde. Er habe auch keine „westliche Lebenseinstellung“ als wesentlichen Bestandteil seiner Identität angenommen, welche im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung in Afghanistan stehe. Asyl sei ihm daher nicht zu gewähren. Zum subsidiären Schutz führte das BVwG aus, der Revisionswerber könne zwar nicht ungefährdet in seine Heimatprovinz zurückkehren, ihm stehe aber eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK vor.

4        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend amtswegige Ermittlungspflichten, konkret insbesondere hinsichtlich der Notwendigkeit der Heranziehung aktueller Länderberichte, abgewichen. Zudem habe das BVwG eine unvertretbare Interessenabwägung im Sinne des § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK vorgenommen. Im Einzelnen führt die Revision u.a. aus, im angefochtenen Erkenntnis würden lediglich Berichte zur Lage in Afghanistan verwertet, die vor dem 1. April 2021 datierten, obwohl sich die Sicherheitslage seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen am 1. Mai 2021 deutlich verschärft habe, worauf der Revisionswerber im Beschwerdeverfahren substantiiert hingewiesen habe. Bei einer entsprechenden Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage hätte das BVwG keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative für den Revisionswerber in Mazar-e Sharif annehmen dürfen. Auch wäre hervorgekommen, dass Hazara einer besonderen Gefahr durch die Taliban ausgesetzt seien und der Abfall vom Islam bei einem Rückkehrer seitens der Taliban nun ebenfalls entsprechend bestraft würde.

5        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

6        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7        Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zu Spruchpunkt I.

8        Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, zeigt sie ihre Zulässigkeit im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht auf.

9        Das BVwG hat mit näherer Begründung ausgeführt, dass dem Revisionswerber allein wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit und wegen seines Aufenthalts in Europa bei Rückkehr nach Afghanistan keine asylrelevante Verfolgung drohe. Es hat auch verneint, dass der Revisionswerber eine (vom Islam abgewandten) Lebensweise angenommen und verinnerlicht habe, deren Fortsetzung ihn in Afghanistan einer Verfolgung aussetzen könnte. Die Revision bestreitet dies lediglich unter Hinweis auf die Lageänderung in Afghanistan bis zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses, zeigt aber nicht auf, welche konkreten Berichte das BVwG verwerten hätte sollen, um zu der Einschätzung zu gelangen, dem Revisionswerber drohe bei Rückkehr asylrelevante Verfolgung.

10       In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten war die Revision daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig zurückzuweisen.

Zu Spruchpunkt II.

11       Zulässig und begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wendet.

12       Das BVwG legte seiner Beurteilung, dem Revisionswerber stehe in der Stadt Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 1. April 2021) zu Grunde.

13       Zu Recht macht die Revision geltend, dass der Revisionswerber im Beschwerdeverfahren nach Übermittlung des genannten Länderinformationsblattes eine umfangreiche Stellungnahme (vom 14. Mai 2021) erstattet hatte, in der er auf den seit 1. Mai 2021 stattfindenden Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan hingewiesen und unter Anführung zahlreicher Berichtsquellen die Eskalation des Konfliktes (samt Auswirkungen auf die als innerstaatliche Fluchtalternative herangezogene Region) beschrieben hatte. Das BVwG setzte sich in der angefochtenen Entscheidung mit diesem Vorbringen und den angebotenen Beweisen nicht auseinander. Die Begründung der Entscheidung, die substantiierte Einwände des Revisionswerbers gegen das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative einfach überging, entspricht daher den Anforderungen an die Begründungspflicht von verwaltungsgerichtlichen Erkenntnissen nicht.

14       Das angefochtene Erkenntnis war deshalb in Bezug auf die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15       Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.

16       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. Februar 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180276.L00

Im RIS seit

02.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten