TE Vwgh Erkenntnis 2022/2/3 Ra 2020/18/0061

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Veröffentlicht am 03.02.2022
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103010
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
FlKonv Art1 AbschnA Z2
32011L0095 Status-RL Art4 Abs4
32011L0095 Status-RL Art6
32011L0095 Status-RL Art9

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S Q, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, als bestellter Verfahrenshelfer, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Jänner 2020, W279 2189118-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften im Anfechtungsumfang, also im Hinblick auf die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz, aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan aus Kabul, stellte im Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er begründete seine Flucht damit, dass er sich schon in Afghanistan vom Islam, den er mit Krieg, Gewalt und Vergewaltigung verbinde, abgewandt habe. Er habe vor seiner Flucht aus Afghanistan versucht, andere Personen in seinem Alter zu überzeugen, dass sie nicht alles, was im Koran stehe, glauben sollten. Deshalb sei er angefeindet, bedroht und geschlagen worden. Er habe sein Studium abgebrochen und das Heimatland aus Angst ums sein Leben verlassen.

2        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom Februar 2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).

3        Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz als unbegründet ab. Im Übrigen gab es der Beschwerde statt, erklärte die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer für unzulässig und erteilte dem Revisionswerber den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4        Was die Nichtgewährung von Asyl betrifft, stellte das BVwG fest, dass der Revisionswerber aufgrund seines formellen Austritts aus der islamischen Glaubensrichtung nunmehr konfessionslos sei. Es sei jedoch nicht davon auszugehen, dass er dies im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan aktiv nach außen zur Schau tragen würde. Es könne daher nicht festgestellt werden, dass er im Fall der Rückkehr aufgrund seines behaupteten Abfalls vom muslimischen Glauben psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre. Beweiswürdigend hielt das BVwG dazu fest, das pauschale Vorbringen des Revisionswerbers, er sei aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber dem Islam einer persönlichen Gefährdung durch seinen Onkel ausgesetzt gewesen und werde dies auch in Zukunft sein, sei nicht glaubhaft gewesen. Er habe nicht behauptet, jemals persönlich bedroht worden zu sein, sondern habe lediglich vorgebracht, indirekt über seinen Vater von den Drohungen seines Onkels erfahren zu haben. Die Ausführungen des Revisionswerbers in der Verhandlung würden dafür sprechen, dass der Abfall vom islamischen Glauben von keiner inneren Überzeugung getragen sei. Er habe sich selbst nicht etwa als Agnostiker oder Atheist dargestellt, sondern lediglich vorgebracht, dass er an die „Natur“ glaube. Glaubhaft sei zwar, dass der Revisionswerber - wie von seiner als Zeugin einvernommenen Lebensgefährtin bestätigt worden sei - nicht mehr in die Moschee gehe, nicht beten wolle und während des Ramadans nicht faste. Der Umstand, dass der Revisionswerber nach einer Debatte mit Kollegen aus Angst vor Konsequenzen sein Studium abgebrochen habe, lege jedoch nahe, dass sich der Revisionswerber in Afghanistan nicht etwa zum Atheismus bekennen, geschweige denn sich öffentlich dem Islam gegenüber kritisch äußern würde. Dem Revisionswerber würde es hauptsächlich darum gehen, sich nicht an die Regeln des Islam halten zu müssen. Aus einer ACCORD-Anfragebeantwortung vom 1. Juni 2017 ergebe sich, dass zwischen Personen, die vom Islam „abgefallen“ seien oder „Kritik am Islam äußern“, einerseits und Personen, die sich (bloß) „nicht an die Regeln des Islam halten“, andererseits klar unterschieden werde. Personen, die sich lediglich nicht für den Islam interessieren würden und etwa nicht in die Moschee gingen, seien demnach keiner Gefahr ausgesetzt. Erst bei offener Kritik am Islam bzw. erkennbar angenommenem anderen Glauben würden Probleme auftreten.

5        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich nur gegen die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz wendet. Sie macht zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache unter anderem geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, insbesondere vom Erkenntnis VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395, abgewichen, wonach die Religionsfreiheit auch insoweit asylrechtlich geschützt sei, als es darum gehe, den im Herkunftsstaat vorgeschriebenen Glauben nicht leben zu wollen, sondern sich durch das Unterlassen erwarteter religiöser Betätigungen zu seiner Konfessionslosigkeit zu bekennen. Entgegen der Feststellung des BVwG beruhe die Abkehr des Revisionswerbers vom Islam auf einer gefestigten inneren Haltung, die der Revisionswerber auch schon vor seiner Flucht nach außen getragen habe und weiterhin tragen werde, was sich aus seinen über einen langen Zeitraum gleichbleibenden Angaben im Asylverfahren ergebe, mit denen sich das BVwG jedoch in der Beweiswürdigung nicht ausreichend auseinandergesetzt habe.

6        Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis vom 13. Dezember 2018, Ra 2018/18/0395, eingehend mit den Voraussetzungen eines Asylanspruches eines Asylwerbers (ebenfalls eines afghanischen Staatsangehörigen), der vorgebracht hatte, ihm drohe bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat wegen seiner Konfessionslosigkeit Verfolgung, beschäftigt. Demnach bedarf es zunächst einer näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Revisionswerber seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch im Herkunftsstaat leben wird. Sollte diese Auseinandersetzung zum Ergebnis führen, dass sich der Asylwerber bei Rückkehr in den Herkunftsstaat zu seiner Konfessionslosigkeit im zuvor genannten Sinne bekennen wird, ist näher zu prüfen, ob ihm in diesem Fall tatsächlich Verfolgung drohen wird. Neben einer strafrechtlichen Verfolgung durch die staatlichen Behörden kämen dabei auch andere Verfolgungshandlungen nach Art. 9 der Statusrichtlinie durch Akteure im Sinne von Art. 6 der Statusrichtlinie in Betracht, vor denen ihn die Sicherheitsbehörden des Herkunftsstaates nicht schützen können oder wollen.

10       Im vorliegenden Fall hat das BVwG die Frage, ob die Konfessionslosigkeit des Revisionswerbers von einer inneren Überzeugung getragen sei und ob er sich nach einer Rückkehr nach Afghanistan dazu bekennen werde, zwar geprüft (und verneint), die Beweiswürdigung jedoch in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise (zum diesbezüglichen Maßstab für das Vorliegen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vgl. etwa VwGH 11.3.2021, Ra 2021/18/0059) vorgenommen:

11       Die Revision macht zu Recht geltend, dass der Revisionswerber „das gesamte Verfahren hindurch vor[gebracht habe], aufgrund seiner Ablehnung des Islam bei einer Rückkehr asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt zu sein“. Schon bei der Erstbefragung gab er diesen Fluchtgrund an und führte aus, er habe versucht, junge Männer in seinem Alter, insbesondere einen Cousin, aufzuklären, dass sie nicht alles, was im Koran stehe, glauben sollten. Deshalb sei er von den Familien der Betroffenen, auch von seinem Onkel (dem Vater des Cousins), bedroht worden. Das bekräftigte er - in ausführlicherer Art und Weise - bei seiner Einvernahme durch das BFA und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG. Die Annahme des BVwG, der Revisionswerber habe nicht vorgebracht, jemals persönlich bedroht worden zu sein, sondern lediglich behauptet, indirekt über seinen Vater von den Drohungen seines Onkels erfahren zu haben, ist vom Akteninhalt nicht gedeckt. Vielmehr hat der Revisionswerber bereits in der Erstbefragung vorgebracht, der Onkel habe ihn mit dem Erhängen bedroht. Bei der Einvernahme durch das BFA präzisierte er, dass diese Drohung während eines Telefonats mit dem Onkel erfolgt sei. Außerdem hat er vor dem BFA ausgesagt, die Studienkollegen an der Universität in Kabul, die ihm nach einer religiösen Debatte gedroht hätten, dem Professor seine islamkritischen Überzeugungen zu offenbaren, hätten ihn auch beschimpft und geschlagen.

Die Beweiswürdigung des BVwG, mit der die vom Revisionswerber ausgesagten Übergriffe gegen seine Person wegen seiner islamkritischen Haltung in der Vergangenheit nicht geglaubt wurden, ist daher nicht schlüssig begründet. Eine mögliche „Vorverfolgung“ des Revisionswerbers vor seiner Flucht nach Österreich wäre aber als ernsthafter Hinweis für die Begründetheit der Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 Statusrichtlinie und damit als Indiz für eine mögliche Verfolgung bei Rückkehr, auf die es letztlich entscheidend ankommt, anzusehen (vgl. etwa VwGH 23.2.2021, Ra 2020/18/0500, mwN).

12       Insgesamt ist aufgrund der beweiswürdigenden Ausführungen des BVwG nicht nachzuvollziehen, warum es ungeachtet der festgestellten Konfessionslosigkeit davon ausgeht, dass der Revisionswerber diese Konfessionslosigkeit nach einer Rückkehr nach Afghanistan nicht weiter erkennbar leben werde. Keine Überzeugungskraft kommt aus der Sicht des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere dem diesbezüglichen (Haupt-)Argument des BVwG zu, der Umstand, dass der Revisionswerber nach der Debatte mit den Studienkollegen aus Angst vor Konsequenzen sein Studium abgebrochen habe, lege nahe, dass sich der Revisionswerber in Afghanistan nicht etwa zum Atheismus bekennen, geschweige denn sich öffentlich dem Islam gegenüber kritisch äußern würde. Wenn der Revisionswerber nämlich tatsächlich, wie von ihm behauptet, das Studium wegen massiver Drohungen und Tätlichkeiten abgebrochen hat, kann darin wohl keine freiwillige Anpassung an die Lebensverhältnisse in seinem Herkunftsstaat erblickt werden, die Rückschlüsse auf seine innere Überzeugung zuließe.

13       Das BVwG wird sich daher im fortgesetzten Verfahren erneut mit der Frage beschäftigen müssen, ob sich der Revisionswerber bei Rückkehr in den Herkunftsstaat zu seiner Konfessionslosigkeit im oben geschilderten Sinne bekennen wird, und in diesem Fall näher zu prüfen haben, ob ihm deshalb tatsächlich Verfolgung drohen wird.

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher im Anfechtungsumfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

15       Das Absehen von der beantragten mündlichen Verhandlung gründet sich auf § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG.

16       Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. Februar 2022

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180061.L00

Im RIS seit

02.03.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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