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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des G H in W, vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Juni 2020, L519 2143116-1/38E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
II. den Beschluss gefasst:
Im Übrigen wird die Revision als gegenstandslos geworden erklärt und das Verfahren eingestellt.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist irakischer Staatsangehöriger und gehört der Religionsgemeinschaft der Kaka'i an. Er stellte am 1. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) und brachte diesbezüglich im Wesentlichen vor, dass er vor dem Islamischen Staat (IS) geflüchtet sei. Als Kaka'i habe er Angst, wie die Jesiden vom IS getötet zu werden. In der Nähe seines Heimatdorfes hätten Kämpfe zwischen dem IS und den Peshmerga (kurdischen Streitkräften) stattgefunden. Das Dorf sei auch beschossen worden, weshalb sich der Revisionswerber und seine Familie mehrmals aus dem Dorf in Sicherheit hätten bringen müssen.
2 Mit Bescheid vom 29. November 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak (autonome Kurdenzone des Nordirak) zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers im zweiten Rechtsgang nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit einer hier nicht weiter relevanten Maßgabe - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte es zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen aus, dass der Revisionswerber zwar der Religionsgemeinschaft der Kaka'i angehöre, eine individuelle Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zu den Kaka'i allerdings nicht habe glaubhaft machen können. Insbesondere habe der Revisionswerber selbst betont, dass er bislang persönlich nicht verfolgt worden sei. Zudem spreche der Umstand, dass im Heimatdorf des Revisionswerbers seinen eigenen Angaben zufolge in etwa eintausend Kaka'i-Familien leben würden - darunter auch seine Tanten - gegen eine Verfolgung der Kaka'i in der Region. Dem Revisionswerber sei darin zuzustimmen, dass es zur Zeit des IS sehr wohl zu Entführungen, Hinrichtungen und Vertreibungen von Kaka'i gekommen sei; jedoch sei die Herkunftsregion mittlerweile aus den Fängen des IS befreit worden. Im Hinblick darauf, dass der Revisionswerber keiner individuellen Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt gewesen sei oder im Fall der Rückkehr wäre, sei ihm internationaler Schutz nicht zu gewähren. Auf Basis dieses Ergebnisses befasste sich das BVwG auch nicht mit der Frage, ob dem Revisionswerber allenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof sowie eine außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.
6 Der Verfassungsgerichtshof hob die angefochtene Entscheidung mit Erkenntnis vom 15. Dezember 2021, E 2434/2020-20, soweit sie die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Irak unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise betraf, wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden auf.
7 Im Übrigen - sohin hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten - lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab.
8 Nach Einleitung des Vorverfahrens über die vorliegende außerordentliche Revision durch den Verwaltungsgerichtshof wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigen
9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Erforderlichkeit der Heranziehung aktueller Länderberichte abgewichen. Hätte sich das BVwG auf aktuelle Berichte gestützt, wäre es u.a. zum Ergebnis gekommen, dass der IS in der Herkunftsregion des Revisionswerbers mittlerweile sehr aktiv sei.
10 Im Hinblick auf dieses Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und auch begründet.
11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat die Asylbehörde bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. etwa VwGH 24.2.2021, Ra 2021/19/0017; 12.5.2021, Ra 2020/18/0275, jeweils mwN).
12 Das BVwG stützte seine Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat, insbesondere zum entscheidungswesentlichen Umstand, dass die Herkunftsregion des Revisionswerbers mittlerweile aus den Fängen des IS befreit worden sei, auf Informationen der Staatendokumentation, und zwar - soweit nachvollziehbar - auf das Länderinformationsblatt vom 20. November 2018, letzte Kurzinformation vom 30. Oktober 2019.
13 Der angefochtenen Entscheidung ist nicht unmissverständlich zu entnehmen, von welchem Herkunftsort des Revisionswerbers das BVwG ausgeht: So stellt es fest, der Revisionswerber stamme aus „Safiya, Al Guweyr, Provinz Mosul“, gemeint ist dabei wohl die Provinz Ninawa (alias Ninewa), deren Hauptstadt Mosul ist. Aus der zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG bereits veröffentlichten Aktualisierung des Länderinformationsblattes vom 17. März 2020 ergibt sich, dass der IS unter anderem in der Provinz Ninawa erneut seine Aktivitäten als Untergrundorganisation aufgenommen habe und daher dies gerade für den Revisionswerber als Zugehörigen einer durch den IS verfolgten Minderheit eine Bedrohung darstelle (so bereits VfGH 15.12.2021, E 2434/2020, Rn 16 f):
So unterhalte der IS ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrierten, führe in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern durch und stelle trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar. Er sei nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din.
Ihre besondere religiöse Identität habe die Kaka‘i zu einem Ziel des IS gemacht, der dutzende Kaka’i-Dörfer zerstört habe. Berichten zufolge seien vormals in Mossul und der Ninewa-Ebene ansässige Kaka‘i in die Kurdenregion Irak geflüchtet. Der IS sei systematisch gegen die Kaka‘i vorgegangen. Auch nach der territorialen Niederlage des IS würden Angehörige der Kaka‘i durch den IS bedroht, besonders im Gouvernement Kirkuk. Es werde von regelmäßigen Sprengfallen am Straßenrand, Entführungen, Morden und Erpressungen, sowie in Brandsetzung von Anbauflächen berichtet. Die Sicherheitskräfte, al-Hashd al-Sha‘bi und die Bundespolizei führten keine Nachforschungen zu diesen Vorfällen durch. Kaka‘i würden aufgrund ihrer schlecht verstandenen religiösen Identität weiterhin diskriminiert, sowie zum Opfer von Drohungen, Entführungen, Attentaten und Boykotten ihrer Unternehmen.
14 Es ist daher nicht auszuschließen, dass das BVwG bei Heranziehung aktueller Länderberichte und damit Vermeidung des aufgezeigten Verfahrensmangels im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Zur teilweisen Einstellung des Verfahrens
17 Gemäß § 33 Abs. 1 erster Satz VwGG ist, wenn in irgendeiner Lage des Verfahrens offenbar wird, dass der Revisionswerber klaglos gestellt wurde, nach seiner Anhörung die Revision mit Beschluss als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen.
18 Ein solcher Fall der formellen Klaglosstellung liegt u.a. dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung - wie hier zum Teil - durch den Verfassungsgerichtshof aus dem Rechtsbestand beseitigt wurde (vgl. VwGH 14.9.2021, Ra 2021/14/0041, mwN). Auf Anfrage des Verwaltungsgerichtshofes brachte der Revisionswerber lediglich vor, dass noch ein rechtliches Interesse an einer Entscheidung über die Revision hinsichtlich der Nichtzuerkennung der Status des Asylberechtigten bestehe.
19 Die Revision war daher im übrigen Umfang, in welchem das angefochtene Erkenntnis bereits durch den Verfassungsgerichtshof aufgehoben worden war, als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren insoweit einzustellen.
Wien, am 15. Februar 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020140336.L00Im RIS seit
02.03.2022Zuletzt aktualisiert am
22.03.2022