TE Vfgh Erkenntnis 2021/12/15 E3632/2021

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AVG §68 Abs1
AsylG 2005 §8, §57
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung eines Antrags betreffend den Status eines subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache; Verkennung der spätestens seit 20.07.2021 erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache und gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§57 AsylG 2005) abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. August 1998 geborener Staatsangehöriger von Afghanistan, der der Volksgruppe der Tadschiken angehört. Er stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 8. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 10. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab, erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Ferner wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 3. März 2016 verloren habe (Spruchpunkt IV.), über den Beschwerdeführer ein unbefristetes Einreiseverbot verhängt (Spruchpunkt V.), keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.) und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. Juni 2017 als unbegründet abgewiesen.

3. Am 15. Juli 2020 stellte der Beschwerdeführer aus dem Stande der aufrechten Strafhaft einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 1. September 2020 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.).

4. Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. August 2021 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht begründet seine Entscheidung zunächst damit, dass der Beschwerdeführer sich zur individuellen Begründung seines Folgeantrages auf internationalen Schutz nicht auf einen nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Rechtsganges neu entstandenen Sachverhalt, sondern ausschließlich auf Umstände, die keinen glaubhaften Kern aufweisen würden (behauptete Konversion zum Christentum), bezogen habe. Zu der Frage, ob auch in Bezug auf den Folgeantrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus keine entscheidungswesentliche Änderung des Sachverhaltes eingetreten sei, hält das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung Folgendes fest:

"Angesichts der vom Bundesamt zum Entscheidungszeitpunkt herangezogenen Länderberichte liegen auch keine Hinweise vor, wonach seit dem rechtskräftigen Abschluss der ersten Asylverfahren im Hinblick auf den BF eine derartige erhebliche Lageänderung im vorliegenden Herkunftsland eingetreten wäre, wonach ihm nach Verlassen des Herkunftslandes und Asylantragstellungen im Ausland im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan im gesamten Staatsgebiet Gefahr für Leib und Leben in einem Maße drohen würde, dass die Ausweisung im Lichte des Art3 EMRK unzulässig wäre.

Vor dem Hintergrund der vom Bundesamt getroffenen Feststellungen zu den Verhältnissen im Herkunftsstaat kann auch nicht angenommen werden, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten wären, wonach der BF nach einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre […].

Da sohin keine Anhaltspunkte für eine entscheidungswesentliche Änderung des Sachverhalts im Hinblick auf das individuelle Vorbringen bzw Umstände des BF oder allgemein bekannte Tatsachen, die vom Bundesamt von Amts wegen zu berücksichtigen gewesen wären, vorliegen, und auch die Rechtslage sich in der Zwischenzeit nicht entscheidungswesentlich geändert hat, steht der Behandlung der gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Sache nach §68 Abs1 AVG entgegen.

Das Bundesamt konnte diesbezüglich sohin zurecht nur von einer entschiedenen Sache im Sinne von §68 AVG ausgehen.

Da sich, wie […] bereits im Detail ausgeführt, der […] vom Bundesverwaltungsgericht zu überprüfende Sachverhalt auf den Entscheidungszeitpunkt der belangten Behörde zu beziehen hat, bleiben jene seither zwischenzeitlich eingetretenen Lageänderungen im Herkunftsland, insbesondere die unlängst erfolgte Machtübernahme durch die Taliban, ohne Belang und ist selbige nicht Gegenstand der Überprüfung."

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Der Beschwerdeführer bringt unter anderem vor, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan derart verschlechtert habe, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan dem realen Risiko einer Verletzung seiner durch Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG und der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen richtet, begründet.

1.1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationa-len Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivor-bringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

1.2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

1.2.1. Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, dass auf Grundlage des Länderinformationsblattes vom 11. Juni 2021 sowie der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 (und der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab 20. Juli 2021 – daher bereits auch zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes – von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war (VfGH 30.9.2021, E3445/2021), sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK aussetzt (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).

1.2.2. Indem das Bundesverwaltungsgericht von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers in Afghanistan ausgegangen ist, ohne dass es sich mit der oben genannten – zum Zeitpunkt seiner Entscheidung relevanten – Berichtslage auseinandergesetzt hat, hat es sein Erkenntnis, soweit es sich auf die Zurückweisung des Antrages hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache und gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§57 AsylG 2005) bezieht, mit Willkür belastet.

2. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §68 Abs1 AVG wegen entschiedener Sache und gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen abgewiesen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht, res iudicata, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3632.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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