TE Vwgh Beschluss 2022/1/18 Ra 2019/22/0051

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Veröffentlicht am 18.01.2022
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AVG §68 Abs1
AVG §69 Abs1 Z1
AVG §69 Abs3
B-VG Art133 Abs4
NAG 2005 §24
NAG 2005 §30 Abs1
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §17
VwRallg

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2019/22/0052
Ra 2019/22/0053

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache 1. des B M, 2. des N M, und 3. der N M, alle vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 3. Dezember 2018, VGW-151/064/11407/2018-10, VGW-151/064/11408/2018-10 und VGW-151/064/11409/2018-10, betreffend Wiederaufnahme von Verfahren nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1.1. Der Erstrevisionswerber ist der Vater des Zweitrevisionswerbers und der Drittrevisionswerberin, alle drei sind serbische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber übte seit Juni 2012 unstrittig die alleinige Obsorge über den Zweitrevisionswerber und die Drittrevisionswerberin aus.

1.2. Dem Erstrevisionswerber wurde aufgrund seines Erstantrags vom 22. März 2012 ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) erteilt. Er berief sich dabei auf seine im Jänner 2012 geschlossene Ehe mit M I, einer österreichischen Staatsbürgerin. Aufgrund seiner Verlängerungsanträge vom 5. Dezember 2013, 18. Dezember 2014 und 17. Dezember 2015 wurde dem Erstrevisionswerber jeweils die Verlängerung des Aufenthaltstitels (zuletzt bis zum 27. Dezember 2016) bewilligt. Nach seiner Ehescheidung von M I am 4. April 2016 wurde dem Erstrevisionswerber aufgrund seines Zweckänderungsantrags vom 13. Dezember 2016 ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ (zunächst bis zum 28. Dezember 2017) erteilt. Aufgrund seines Antrags vom 12. Dezember 2017 wurde ihm die Verlängerung des Aufenthaltstitels (bis zum 29. Dezember 2020) bewilligt.

1.3. Dem Zweitrevisionswerber und der Drittrevisionswerberin wurde aufgrund ihrer Erstanträge vom 2. September 2014 im Hinblick auf die Ehe des Erstrevisionswerbers mit M I ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG erteilt. Aufgrund ihrer Anträge vom 15. September 2015 wurde ihnen jeweils die Verlängerung des Aufenthaltstitels (bis zum 23. September 2016) bewilligt. Infolge der Ehescheidung des Erstrevisionswerbers von M I wurde dem Zweitrevisionswerber und der Drittrevisionswerberin aufgrund ihrer Zweckänderungsanträge vom 20. September 2016 jeweils ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ (mit Gültigkeit bis zum 24. September 2019) erteilt.

2.1. Mit Bescheiden vom 26. Juli 2018 sprach die belangte Behörde - aufgrund des nachträglichen Hervorkommens einer Aufenthaltsehe zwischen dem Erstrevisionswerber und M I - die amtswegige Wiederaufnahme sämtlicher (oben angeführter) rechtskräftig abgeschlossener Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit § 69 Abs. 3 AVG aus und wies unter einem den Erstantrag des Erstrevisionswerbers gemäß § 30 Abs. 1 NAG und die Verlängerungsanträge bzw. den Zweckänderungsantrag mangels Vorliegen eines gültigen Aufenthaltstitels gemäß § 24 NAG sowie weiters die Erstanträge des Zweitrevisionswerbers und der Drittrevisionswerberin mangels Vorliegen der Familienangehörigeneigenschaft gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 NAG sowie die Verlängerungs- und Zweckänderungsanträge mangels Vorliegen eines gültigen Aufenthaltstitels gemäß § 24 NAG ab.

2.2. Gegen diese Bescheide erhoben die Revisionswerber Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, die Beweisergebnisse rechtfertigten nicht die Annahme einer Aufenthaltsehe.

3.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 3. Dezember 2018 wies das Verwaltungsgericht Wien diese Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.

Das Verwaltungsgericht führte - soweit hier von Bedeutung - begründend aus, bei der zwischen dem Erstrevisionswerber und M I im Jänner 2012 geschlossenen und im April 2016 wieder geschiedenen Ehe habe es sich um eine Aufenthaltsehe gehandelt. Die Ehe sei nur deshalb geschlossen worden, um dem Erstrevisionswerber und seinen Kindern Aufenthaltstitel in Österreich zu verschaffen; ein gemeinsames Ehe- und Familienleben sei vom Erstrevisionswerber und von M I nie beabsichtigt und auch nie geführt worden. Vielmehr habe M I weiterhin eine Lebensgemeinschaft mit I S unterhalten, der auch der Vater ihrer Kinder sei und in dessen Haus sie durchgehend gewohnt habe; der Erstrevisionswerber habe „höchstwahrscheinlich“ ebenso seine Beziehung mit M P, einer serbischen Staatsangehörigen, aufrecht erhalten, die auch die Mutter des Zweitrevisionswerbers und der Drittrevisionswerberin sei und die er letztlich im Februar 2018 geheiratet habe.

Der Erstrevisionswerber habe daher für sich und seine minderjährigen Kinder (als deren Obsorgeberechtigter) die Aufenthaltstitel unter Berufung auf seine (vorgebliche) Ehe mit M I erschlichen und nach der Scheidung die Verlängerung bzw. Zweckänderung der Aufenthaltstitel unter Berufung auf ein aus der Ehe abgeleitetes eigenständiges Niederlassungsrecht erwirkt. Im Hinblick darauf seien jedoch die Voraussetzungen für die amtswegige Wiederaufnahme der Verfahren erfüllt. In den wiederaufgenommenen Verfahren seien sämtliche Anträge auf Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels als unbegründet abzuweisen gewesen.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die - Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende - außerordentliche Revision, die nicht zulässig ist.

5. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

6.1. Die Revisionswerber machen - unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs - zunächst geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass auch die nach der Ehescheidung geführten Aufenthaltstitelverfahren wiederaufzunehmen seien, obwohl sich der Erstrevisionswerber in jenen Verfahren nicht mehr auf seine Ehe mit M I berufen habe, sodass ein Erschleichen nicht mehr vorliege und eine Wiederaufnahme nicht in Betracht komme.

6.2. Dem ist jedoch Folgendes entgegenzuhalten:

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung VwGH 28.5.2019, Ra 2019/22/0105, Rn. 8 f, unter anderem ausgeführt:

„Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Vorlage einer falschen Urkunde bereits festgehalten, diese führe - auch wenn die Vorlage nur im Verfahren über die erstmalige Aufenthaltstitelerteilung erfolgt sei - (auch) zur Wiederaufnahme der Verfahren über die nachfolgenden Verlängerungsanträge (siehe VwGH 19.1.2012, 2010/22/0031; 23.2.2012, 2009/22/0138). Da die durch die Urkundenvorlage herbeigeführte positive Erledigung des Erstantrags Voraussetzung für die Beurteilung der nachfolgenden Anträge als Verlängerungsanträge und für deren Erfolg war, wurde durch die Urkundenvorlage im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG bewirkt, dass die Behörde die Verlängerungsanträge bewilligt hat. Diese mittelbare Wirkung der Vorlage einer falschen Urkunde für die Verlängerungsverfahren besteht auch dann, wenn das Verfahren über die Erstbewilligung nicht wieder aufgenommen wurde (vgl. zu allem erneut VwGH 2010/22/0031).

Nichts Anderes gilt für ein Erschleichen eines ersten Aufenthaltstitels durch das Berufen auf eine Aufenthaltsehe. Im gegenständlichen Fall war das Berufen auf die Aufenthaltsehe in den ersten beiden Verfahren und die dadurch herbeigeführte positive Erledigung dieser Anträge Voraussetzung für die Titelerteilung im Zweckänderungsverfahren und hat diese Titelerteilung somit - mittelbar - bewirkt [...]“

Diese Rechtsprechung wurde vom Verwaltungsgerichtshof zuletzt zu VwGH 14.7.2021, Ra 2018/22/0017, Pkt. 7., wie folgt fortgeschrieben:

„Die - unter Berufung auf die vorgebliche Ehe des Revisionswerbers [...] herbeigeführte - Erteilung eines Aufenthaltstitels in den vorangehenden Verfahren war Voraussetzung (vgl. näher § 27 Abs. 1 NAG) für die positive Erledigung des Verlängerungs- und Zweckänderungsantrags nach erfolgter Ehescheidung. Die Wiederaufnahme der vorangehenden Verfahren (betreffend die Titelerteilung im Juni 2012 und im Juni 2013) führt mittelbar auch zur Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend die Titelerteilung im Juni 2014 (vgl. VwGH 20.5.2021, Ra 2020/22/0234, 0235).“

7.1 Die Revisionswerber relevieren weiters, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu der Frage, ob eine Wiederaufnahme auch gegenüber einem Minderjährigen zulässig sei, wenn der Wiederaufnahmetatbestand ausschließlich vom gesetzlichen Vertreter verwirklicht worden sei. Insbesondere müsse sich ein Minderjähriger, der (wie hier der Zweitrevisionswerber) im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bereits volljährig sei, das Verhalten seines vormaligen Vertreters „wohl [...] nicht mehr zurechnen lassen“.

7.2 Dem ist zu erwidern, dass der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VwGH 20.5.2021, Ra 2020/22/0234, 0235, Rn. 10 f, unter anderem Folgendes ausgeführt hat:

„Im vorliegenden Fall einer Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG geht es aber nicht darum, den mitbeteiligten Parteien das Eingehen der Aufenthaltsehe durch ihre Mutter anzulasten, sondern darum, ob ihnen ein Erschleichen des Bescheides durch ihre Mutter (im Wege des Berufens auf ihre Ehe und des Verschweigens des Umstandes der Aufenthaltsehe) zugerechnet werden kann. [...]

Von einem (sonstigen) Erschleichen eines Bescheides im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 letzter Fall AVG kann - im Gegensatz zu einem Herbeiführen durch eine gerichtlich strafbare Handlung - nur dann gesprochen werden, wenn der Bescheid seitens der Partei oder ihres Vertreters durch eine vorsätzliche (also schuldhafte) verpönte Einflussnahme auf die Entscheidungsgrundlagen veranlasst wird. Eine Irreführungsabsicht setzt voraus, dass die Partei (bzw. ihr Vertreter) wider besseres Wissen gehandelt hat (vgl. dazu VwGH 22.3.2011, 2008/21/0428, mwN). Ein ‚Erschleichen‘ kann nur von einer Partei oder ihrem Vertreter vorgenommen werden (vgl. VwGH 19.2.1992, 91/12/0296; siehe auch § 12 AVG).

Da die Mutter der mitbeteiligten Parteien in den Verfahren über deren Anträge als gesetzliche Vertreterin aufgetreten ist, ist es dem Grunde nach nicht unzulässig, ein Verschweigen der Aufenthaltsehe durch die Mutter in diesen Verfahren als Erschleichen im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG zu werten.“

8. Im Hinblick darauf steht jedoch die hier erfolgte Wiederaufnahme aller Titelverfahren mit der soeben aufgezeigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs im Einklang. Warum die eingetretene Volljährigkeit des Zweitrevisionswerbers in Bezug auf seine Anträge zu einem anderen Ergebnis führen sollte, ist nicht zu sehen.

9. Gegen die Abweisung der Titelanträge in den wiederaufgenommenen Verfahren machen die Revisionswerber im Rahmen der Ausführungen zur Zulässigkeit der Revision nur geltend, das Verwaltungsgericht habe sich verfehlt auf den Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG gestützt. Das trifft jedoch nicht zu, weil den Antragsabweisungen durch das Verwaltungsgericht andere Überlegungen zugrunde liegen, und zwar insbesondere die Verwirklichung des Tatbestands des § 11 Abs. 2 Z 1 in Verbindung mit Abs. 4 Z 1 NAG (Erstrevisionswerber) bzw. das Fehlen der Eigenschaft als „Familienangehörige“ (Zweitrevisionswerber und Drittrevisionswerberin), wogegen keine grundsätzlichen Bedenken bestehen (vgl. etwa VwGH 17.6.2019, Ra 2019/22/0096, Rn. 9 f).

10. Insgesamt wird daher - in der für die Beurteilung der Zulässigkeit der Revision maßgeblichen gesonderten Zulässigkeitsbegründung (vgl. etwa VwGH 21.3.2017, Ra 2015/22/0147, Pkt. 3.2.) - keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

Wien, am 18. Jänner 2022

Schlagworte

Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2019220051.L00

Im RIS seit

28.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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