TE Vwgh Beschluss 2022/1/25 Ra 2020/11/0226

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Veröffentlicht am 25.01.2022
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §38
AVG §69 Abs1 Z3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der L D in S, vertreten durch Dr. Johann Postlmayr, Rechtsanwalt in 5230 Mattighofen, Stadtplatz 6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 3. Dezember 2020, Zl. LVwG-AV-738/001-2020, betreffend Wiederaufnahme iA Entziehung der Lenkberechtigung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Mit Mandatsbescheid vom 29. Oktober 2019 entzog die Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt der Revisionswerberin gemäß §§ 24 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 26 Abs. 2 Führerscheingesetz (FSG), BGBl. I Nr. 120/1997, die Lenkberechtigung für Kraftfahrzeuge der Klassen AM und B bis einschließlich 19. August 2020. Ferner wurden eine innerhalb der festgesetzten Entziehungszeit zu absolvierende Nachschulung sowie die Beibringung eines amtsärztlichen Gutachtens über die gesundheitliche Eignung der Revisionswerberin zum Lenken von Kraftfahrzeugen der in Rede stehenden Klassen und die Beibringung einer verkehrspsychologischen Stellungnahme angeordnet. Begründend stützte die Behörde ihre Entscheidung zusammengefasst darauf, dass die Revisionswerberin am 19. Oktober 2019 um 14:50 Uhr ein Kraftfahrzeug an einem näher genannten Ort auf der A2 in Richtung Wien in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt habe und dabei einen Verkehrsunfall mit Personenschaden verursacht habe. Die Alkoholisierung sei aufgrund eines mit einem Atemalkoholmessgerät durchgeführten Tests erwiesen (Atemluftalkoholwert von 0,96 mg/l).

2        Mit Eingabe vom 7. Juli 2020 beantragte die Revisionswerberin die Wiederaufnahme des mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z 3 AVG und brachte vor, einen Verkehrsunfall verschuldet zu haben, bei dem zwei Personen leicht verletzt worden seien. Mit Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 29. Mai 2020 sei sie nicht wegen des „angeklagten“ Qualifikationsdelikts gemäß § 88 Abs. 1 und 3 2. Fall StGB schuldig gesprochen worden, sondern wegen des Grundstraftatbestandes des § 88 Abs. 1 StGB. Unter Vorlage dieses Urteils sowie unter Hinweis darauf, dass das Strafgericht die Alkoholisierung bei der Strafbemessung als Erschwerungsgrund gewertet habe, habe sie die Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens beantragt. Mit Mitteilung vom 12. Juni 2020 sei sie sodann davon unterrichtet worden, dass das gemäß § 5 Abs. 1 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 lit. a StVO 1960 geführte Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 VStG eingestellt worden sei. Vorliegend bestehe eine Bindung sowohl an das strafgerichtliche Urteil, mit dem die Revisionswerberin lediglich gemäß § 88 Abs. 1 StGB verurteilt worden sei, als auch an die Entscheidung über die Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens. Somit liege weder ein Vergehen gemäß § 88 Abs. 3 StGB noch eine Übertretung des § 99 Abs. 1 lit. a StVO 1960 vor. Folglich bestehe auch keine bestimmte Tatsache im Sinn von § 7 Abs. 3 Z 1 FSG.

3        Mit Bescheid vom 10. Juli 2020 wies die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde den Wiederaufnahmeantrag der Revisionswerberin ab.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich die dagegen erhobene Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für unzulässig.

5        Gegenstand der Entscheidung des Bezirksgerichts Baden - so das Verwaltungsgericht in seiner Begründung - sei nicht die Frage gewesen, ob die Revisionswerberin zum Tatzeitpunkt im Sinn des § 5 Abs. 1 StVO 1960 beeinträchtigt gewesen sei, sondern ob der Tatbestand des § 88 Abs. 3 2. Fall StGB (§ 81 Abs. 2 StGB) erfüllt sei. Im bezirksgerichtlichen Verfahren sei die Frage zu prüfen gewesen, ob sich die Revisionswerberin, wenn auch nur fahrlässig, durch Genuss von Alkohol in einen die Zurechnungsfähigkeit nicht ausschließenden Rauschzustand versetzt habe, obwohl sie vorhergesehen habe oder vorhersehen hätte können, dass ihr eine Tätigkeit bevorstehe, deren Vornahme in diesem Zustand eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit eines anderen herbeizuführen oder zu vergrößern geeignet sei. Diese Frage habe das Bezirksgericht Baden verneint, weil dies nicht mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit habe festgestellt werden können. Die Revisionswerberin sei lediglich gemäß § 88 Abs. 1 StGB verurteilt worden. Allerdings sei bei der Strafbemessung die Alkoholisierung erschwerend gewertet worden. Das Verwaltungsstrafverfahren sei aufgrund der gegenständlichen strafgerichtlichen Verurteilung der Revisionswerberin „im Zusammenhang mit dem Erschwerungsgrund der Alkoholisierung“ eingestellt worden. Unabhängig davon, ob das Verwaltungsstrafverfahren zu Recht oder zu Unrecht eingestellt worden sei, sei unstrittig, dass die Revisionswerberin zur Tatzeit am Tatort ein Kraftfahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand (Atemluftalkoholgehalt von 0,96 mg/l) gelenkt habe. Für das Vorliegen einer bestimmten Tatsache im Sinn von § 7 Abs. 3 Z 1 FSG komme es auf die Begehung der Übertretung und nicht auf eine rechtskräftige Bestrafung an.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

7        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8        Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

9        Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof ausschließlich im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen (VwGH 27.4.2020, Ra 2019/11/0045, mwN).

10       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter einer Vorfrage im Sinn der §§ 38 und 69 Abs. 1 Z 3 AVG eine für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde präjudizielle Rechtsfrage zu verstehen, über die als Hauptfrage von anderen Verwaltungsbehörden oder Gerichten oder auch von derselben Behörde, jedoch in einem anderen Verfahren, zu entscheiden ist (vgl. jüngst etwa VwGH 4.10.2021, Ra 2018/04/0166, mwN).

11       Eine Vorfrage liegt dann vor, wenn der relevante Tatbestand ein (explizit angeführtes oder durch Auslegung zu ermittelndes) Element enthält, das für sich allein Gegenstand der bindenden Entscheidung einer anderen Behörde bzw. eines Gerichts (oder allenfalls derselben Behörde in einem anderen Verfahren) sein kann. Präjudiziell und damit Vorfragenentscheidung im verfahrensrechtlich relevanten Sinn ist nur eine Entscheidung, die erstens eine Rechtsfrage betrifft, deren Beantwortung für die Hauptfragenentscheidung unabdingbar (das heißt eine notwendige Grundlage) ist und zweitens die diese in einer die Verwaltungsbehörde bindenden Weise regelt (vgl. VwGH 25.5.2021, Ra 2020/22/0137, mwN).

12       Zunächst ist, soweit die Zulässigkeitsbegründung zum Grund für die Einstellung des in Rede stehenden Verwaltungsstrafverfahrens weitere amtswegige Ermittlungsschritte durch das Verwaltungsgericht vermisst, Folgendes festzuhalten: In ihrem Wiederaufnahmeantrag führte die Revisionswerberin selbst aus, die Einstellung des gemäß § 5 Abs. 1 und § 99 Abs. 1 lit. a StVO 1960 geführten Verfahrens sei im Hinblick auf das Urteil des Bezirksgerichts Baden, in dem ihre Alkoholisierung erschwerend gewertet worden sei, erfolgt. Das in ihrer Beschwerde erstattete Vorbringen beruhte ebenso auf der Auffassung, dass die Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens auf den soeben genannten Grund zurückzuführen sei. Der vom Verwaltungsgericht angenommene Konnex zwischen der Entscheidung über die Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens und dem strafgerichtlichen Urteil wird zudem durch einen Aktenvermerk der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde vom 9. Juli 2021 betreffend eine Rücksprache mit der für das Verwaltungsstrafverfahren zuständigen Sachbearbeiterin bestätigt (§ 99 Abs. 6 lit. c StVO 1960). Eine grundlegende Verkennung verwaltungsgerichtlicher Ermittlungspflichten zeigt die Zulässigkeitsbegründung vor diesem Hintergrund nicht auf (zur Verpflichtung im Wiederaufnahmeantrag eigeninitiativ, konkretisiert und schlüssig den Grund, auf den sich das Wiederaufnahmebegehren stützt, darzulegen, siehe im Übrigen VwGH 22.10.2020, Ra 2018/11/0126).

13       Dass im Revisionsfall infolge der Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens das Entziehungsverfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 3 AVG wiederaufzunehmen wäre, wird in Bezug auf den für die Beurteilung dieser Frage entscheidenden Mandatsbescheid vom 29. Oktober 2019 von der - wie oben dargestellt - allein maßgeblichen Zulässigkeitsbegründung nicht aufgezeigt. In der Zulässigkeitsbegründung, die sich auf eine Abweichung von der hg. Rechtsprechung beruft, weil es sich bei der gegenständlichen Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens nicht um eine bloße Formalerledigung handle, finden sich keinerlei Ausführungen zu einer konkreten Rechtsfrage, die durch die Entziehungsbehörde als Vorfrage beurteilt worden sei. Sohin fehlt es auch an einer schlüssigen und nachvollziehbaren Darstellung, worin die Zulässigkeitsbegründung konkret, d.h. bezogen auf eine bestimmte, dem rechtskräftigen Bescheid zugrundeliegende Vorfrage, eine abweichende Hauptfragenentscheidung sieht.

14       In Anbetracht des Mandatsbescheides vom 29. Oktober 2019 sei ferner angemerkt, dass aus der Einstellung des gegenständlichen Verwaltungsstrafverfahrens jedenfalls nicht folgt, dass die Revisionswerberin das betreffende Kraftfahrzeug nicht in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt habe (vgl. die teils auch von der Revisionswerberin zitierte hg. Judikatur VwGH VS 16.10.1987, 87/11/0008, VwSlg. 12.555, unter Hinweis auf VwGH 20.2.1987, 87/11/0012; ferner VwGH 17.1.1989, 88/11/0261; 7.10.1997, 96/11/0096).

15       Sofern sich die Revisionswerberin im Wiederaufnahmeverfahren auf das strafgerichtliche Urteil des Bezirksgerichts Baden berief, zeigt die Zulässigkeitsbegründung ebenfalls nicht auf, dass damit ein Wiederaufnahmegrund im Sinn von § 69 Abs. 1 Z 3 AVG dargetan worden wäre (dazu auch VwGH 27.5.1999, 99/11/0133). Das Bezirksgericht Baden hat weder bindend über die Frage entschieden, ob die Revisionswerberin eine Verwaltungsübertretung gemäß § 99 Abs. 1 lit. a StVO 1960 begangen habe, noch darüber abgesprochen, ob eine bestimmte Tatsache im Sinn von § 7 Abs. 3 Z 1 oder 2 FSG vorliege. Abgesehen davon - so auch das Vorbringen der Revisionswerberin - ging das Bezirksgericht Baden in seiner Entscheidung offensichtlich davon aus, dass die Revisionswerberin das Fahrzeug in alkoholisiertem Zustand gelenkt habe, und bewertete aus diesem Grund die Alkoholisierung bei der Strafbemessung als erschwerend.

16       Es gelingt der Zulässigkeitsbegründung auch nicht aufzuzeigen, dass vorliegend die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung in Widerspruch zu den Leitlinien der hg. Judikatur stünde (vgl. zB VwGH 17.10.2019, Ra 2016/08/0010). Dass im Revisionsfall besonders komplexe Rechtsfragen einer Erörterung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bedurft hätten, wird nicht dargelegt. Ein Verhandlungsantrag war von der anwaltlich vertretenen Revisionswerberin in ihrer Beschwerde auch nicht gestellt worden.

17       Eine grundlegende Verkennung der Begründungspflicht des Verwaltungsgerichts zeigt die Zulässigkeitsbegründung nicht auf. Ein Verstoß gegen das Überraschungsverbot ist nicht ersichtlich. Bereits in dem vor dem Verwaltungsgericht bekämpften Bescheid vom 10. Juli 2020 wurde unmissverständlich die Ansicht zum Ausdruck gebracht, dass die in Rede stehende Verfahrenseinstellung aufgrund des Bestehens einer strafgerichtlichen Zuständigkeit erfolgt sei.

18       Aus den dargelegten Erwägungen gelingt es der Revision nicht, eine Rechtsfrage im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG darzulegen. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 25. Jänner 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020110226.L00

Im RIS seit

24.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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