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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §11Betreff
IM NAMEN DER REPUBLIK
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Jänner 2021, I419 2144525-1/26E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: H S [H] H, vertreten durch MMag. Dr. Franz Stefan Pechmann, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Prinz-Eugen-Straße 70/2/1.1), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) 1., 2. und 4. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Kurden, stellte am 20. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 16. Dezember 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Mitbeteiligten hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt III.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich des Spruchpunktes I. als unbegründet ab (Spruchpunkt A) 3.), gab der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak zu (Spruchpunkt A) 1.), erteilte dem Mitbeteiligten eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (Spruchpunkt A) 2.), behob die Spruchpunkte II., III. und IV. des Bescheides des BFA vom 16. Dezember 2016 (Spruchpunkt A) 4.), und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B)).
4 Das BVwG stellte - soweit hier maßgeblich - fest, der Mitbeteiligte sei Sunnit, habe sein erstes Lebensjahr in Erbil verbracht und dann mit seiner Familie in Bagdad gelebt. Für eine Rückkehr des Mitbeteiligten komme angesichts seiner mehrjährigen Abwesenheit und seines früheren langjährigen Wohnsitzes primär Bagdad in Frage. Da sich auch nur dort Angehörige mit festgestelltem Wohnsitz im Irak befänden, sei eine Alternative in einem anderen Landesteil des Irak, wo es dem Mitbeteiligten möglich sein würde, sich niederzulassen, nicht feststellbar. Bagdad sei für den Mitbeteiligten, wie auch für andere kurdische Sunniten, erreichbar. Aufgrund der Feststellungen zur Situation im Irak sei allerdings von einer derzeit neuerlich sehr instabilen Sicherheitslage in Bagdad und verstärkten Aktivitäten des Daesh, vor allem aber auch schiitischer Milizen auszugehen, die den Mitbeteiligten im Konfrontationsfall als nicht ihrer Konfession zugehörig zuordnen könnten, und vor denen hinreichender staatlicher Schutz aktuell nicht bestehe, sodass dort aus diesem Grund in Summe eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Mitbeteiligten vorliege, unabhängig von seiner Haltung gegenüber den Milizen und dem Daesh in deren innerstaatlichen Konflikt.
5 Rechtlich folgerte das BVwG - zum Teil disloziert in der Beweiswürdigung - mit Blick auf das Maß und die Zunahme der Gewalt und Gesetzlosigkeit, also die schlechte Sicherheitslage, deren Entwicklung nicht absehbar sei, würde eine gegenwärtig bestehende reale Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Mitbeteiligten für den Fall der Rückkehr nach Bagdad festgestellt, der der Mitbeteiligte nicht durch eine innerstaatliche Ortswahl entgehen könne. Im Ergebnis sei den Feststellungen zur momentanen Lage soweit Rechnung zu tragen, als die beiden Risikofaktoren - allgemeine Sicherheitslage in Bagdad und konfessionelle Zuordenbarkeit des Mitbeteiligten im Konfliktfall - zusammengenommen stichhaltige Gründe für die Annahme bilden würden, dass der Mitbeteiligte im Fall seiner Rückkehr Gefahr laufen würde, durch das beschriebene volatile und gefährlicher gewordene Umfeld in seiner körperlichen Unversehrtheit ernstlich beeinträchtigt zu werden. Da der Mitbeteiligte in den anderen Landesteilen des Irak über keine festgestellten Anknüpfungspunkte verfüge, stehe ihm auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Folglich sei dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuzuerkennen.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision des BFA nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Amtsrevision richtet sich ausdrücklich nur gegen die Spruchpunkte A) 1., 2. und 4. des angefochtenen Erkenntnisses und bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ab, indem es diese nur damit begründe, dass der Mitbeteiligte in anderen Landesteilen des Irak, insbesondere der Kurdenregion, über keine festgestellten Anknüpfungspunkte verfüge. Von der „EASO Country Guidance Iraq“ vom Juni 2019 werde die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative unter anderem in der Stadt Erbil, die in der autonomen Region Kurdistans liege, für alleinstehende, arbeitsfähige Männer mit entsprechendem ethnischen und religiösen Hintergrund grundsätzlich auch ohne ein unterstützendes Netzwerk als zumutbar erachtet.
8 Die Revision ist aus den vorgebrachten Gründen zulässig und berechtigt.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG festgehalten, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in der Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 14.4.2021, Ra 2020/19/0449, mwN).
10 Das BVwG ist bei der Prüfung, ob dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative offen stehe, von diesen Grundsätzen abgewichen.
11 Hinsichtlich der bei Bejahung einer Verfolgung in der Heimatregion anzustellenden Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist zunächst die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative in Aussicht genommenen Gebiet des Herkunftsstaates zu prüfen. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet (vgl. VwGH 25.5.2020, Ra 2019/19/0192, mwN).
12 Es reicht aber auch nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0459, mwN).
13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zudem den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Auch den von EASO herausgegebenen Informationen ist bei der Prüfung, ob die Rückführung eines Asylwerbers in sein Heimatland zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen kann sowie, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, Beachtung zu schenken (vgl. VwGH 8.6.2021, Ra 2019/19/0190, mwN).
14 Das BVwG setzte sich weder mit der Sicherheit, noch mit den persönlichen Umständen des Mitbeteiligten und den allgemeinen Gegebenheiten in anderen Landesteilen des Irak als Bagdad auseinander, sondern führte lediglich aus, da der Mitbeteiligte in anderen Landesteilen des Irak als Bagdad über keine persönlichen Anknüpfungspunkte verfüge, stehe ihm keine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Ausgehend von dieser Beurteilung traf das BVwG auch keine Feststellungen zu der zu erwartenden Lage des Mitbeteiligten in anderen Landesteilen des Irak, sowie zu deren sicherer und legaler Erreichbarkeit.
15 Das BVwG ließ dabei insbesondere - wie die Revision zutreffend aufzeigt - auch die „EASO Country Guidance Iraq“ vom Juni 2019 unberücksichtigt, in der die Inanspruchnahme einer innerstaatliche Fluchtalternative u.a. in Erbil für alleinstehende, arbeitsfähige Männer mit entsprechendem ethnischen und religiösen Hintergrund grundsätzlich auch ohne ein sie unterstützendes Netzwerk als zumutbar erachtet werde (vgl. EASO Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 138; vgl. dazu etwa VwGH 14.7.2021, Ra 2021/14/0066).
16 Das BVwG ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative von den Kriterien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen und hat infolgedessen für die Entscheidung wesentliche Feststellungen nicht getroffen.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG in Bezug auf die Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
18 Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG mit den aktuellen „EASO Country Guidance Iraq“ auseinanderzusetzen und die für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative erforderlichen Feststellungen zu treffen haben.
19 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten kein Ersatz seiner Aufwendungen für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen, weil gemäß § 47 Abs. 3 VwGG Mitbeteiligte einen Anspruch auf Aufwandersatz nur im Fall der Abweisung der Revision haben.
Wien, am 1. Februar 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190056.L00Im RIS seit
24.02.2022Zuletzt aktualisiert am
01.03.2022