TE Vwgh Erkenntnis 1996/9/12 95/20/0246

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Veröffentlicht am 12.09.1996
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
AVG §37;
AVG §45 Abs3;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §41 Abs1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde der N in W, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 15. März 1995, Zl. 4.345.811/1-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.770,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug gemäß § 66 Abs. 4 AVG ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 15. März 1995 wurde die Berufung der Beschwerdeführerin, einer Staatsangehörigen von Afghanistan, die am 23. Jänner 1995 in das Bundesgebiet eingereist ist und am 24. Jänner 1995 den Asylantrag gestellt hat, gegen den den Asylantrag abweisenden Bescheid des Bundesasylamtes vom 26. Jänner 1995 abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hatte bei ihrer niederschriftlichen Befragung am 25. Jänner 1995 angegeben: Sie sei afghanische Staatsangehörige und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken an. Sie sei moslemisch-schiitischen Religionsbekenntnisses. Sie sei verheiratet. Sie sei von 1984 bis etwa Mitte 1992 im Ministerium für Industrie in Kabul als Büroangestellte beschäftigt gewesen, seit dieser Zeit sei sie ohne Beschäftigung. Ihr Gatte sei von 1978 bis ebenfalls Mitte 1992 Polizeioffizier in Kabul gewesen. Er sei Mitglied der Partei "Khad" (Demokratische Volkspartei) gewesen. Etwa Mitte Mai 1992 habe er von den islamisch dominierten staatlichen Stellen eine schriftliche Aufforderung zugestellt erhalten, bei diesen Stellen zu erscheinen. Über einen Informanten sei er gewarnt worden, dieser Aufforderung Folge zu leisten, da er dort hingerichtet würde. In der Folge sei die Familie nach Djalalabad gezogen. Nach etwa einem Jahr sei der Gatte nach Kabul gereist, um den Besitz zu veräußern und mit dem Erlös zurückzukehren, er sei allerdings nicht zurückgekehrt, sein Schicksal sei unbekannt. Die Beschwerdeführerin habe sich weiter mit ihren beiden Kindern, ihrer Mutter und ihrem Bruder in Djalalabad aufgehalten. Mitte 1994 sei ihr seitens einer pashtunisch-islamisch-sunnitischen Bewegung mitgeteilt worden, einen Betrag von 2.000 bis 3.000 Dollar an diese Bewegung zu bezahlen, ansonsten die beiden Kinder entführt würden. Sie habe mitgeteilt, über den Betrag nicht zu verfügen, worauf ihr seitens Angehöriger dieser Bewegung mitgeteilt worden sei, daß ihre Kinder umgebracht würden, da sie den Geldbetrag nicht bezahlt habe, ihre Kinder einem "kommunistischen" Vater entstammten und deshalb "kommunistischen Blutes" seien. Die Beschwerdeführerin habe in Djalalabad bei einem Freund ihres Gatten gewohnt, der der pashtunischen Volksgruppe angehöre. Aufgrund der Freundschaft seien sie trotz verschiedener Volksgruppenzugehörigkeit unter dessen Schutz gestanden. Er habe sich vor etwa fünf Monaten (Anm.: das ist ca. August/September 1994) für den Zeitraum von ungefähr einem Monat nach Kabul begeben. Innerhalb dieses Monats seien Angehörige einer pashtunisch-islamischen Bewegung wiederholt vor dem Haus erschienen, hätten an die Türe geklopft und das Hausdach bestiegen. Sie hätten der Familie der Beschwerdeführerin zugerufen, Djalalabad sofort zu verlassen, da sie Tadschiken, Shiiten und Kommunisten seien. Nach der Rückkehr des Hausbesitzers seien diese Männer nicht mehr so häufig erschienen. Der Unterkunftgeber habe sodann bekanntgegeben, er könne nicht mehr für die Sicherheit der Familie garantieren, und er habe ihnen den weiteren Aufenthalt in seinem Haus nicht mehr gestattet, er würde sich selbst in Gefahr begeben. Die Beschwerdeführerin sei vor etwa einem Monat (Anm.: das ist Dezember 1994) mit ihren Kindern, ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Pakistan geflohen.

Anläßlich der niederschriftlichen Einvernahme über den Fluchtweg am 24. Jänner 1995 hatte die Beschwerdeführerin darüber hinaus angegeben, daß sie und ihre Familienangehörigen bei einer Rückkehr von einer der islamischen Gruppen umgebracht würden, da sowohl ihr verschollener Ehegatte als auch sie Bedienstete des früheren kommunistischen Regimes gewesen seien.

Mit dem Bescheid vom 26. Jänner 1995 wies das Bundesasylamt den Asylantrag ab. Es wertete die Angaben der Beschwerdeführerin mit Ausnahme jener über ihre Identität als glaubwürdig und führte die politische Entwicklung Afghanistans seit dem 16. April 1992 (Rücktritt des kommunistischen Präsidenten Najibullah) aus. Es gebe nunmehr 16 rivalisierende bewaffnete Fraktionen, die einander bekämpften und willkürlich Menschen verhafteten, folterten und töteten, weil man sie für Sympathisanten einer der anderen Streitparteien halte. Zudem gebe es lokale, einer oder mehreren der Mujahedin-Parteien zugehörige, aber in den täglichen Geschäften in ihrem Gebiet selbständige und keiner Regierung gegenüber verantwortliche "Warlords". Das Bundesasylamt führte weiters aus, daß die behauptete Furcht der Beschwerdeführerin vor Verfolgung durch Behörden ihres Heimatstaates wegen ihrer und der seinerzeitigen Berufstätigkeit ihres verschollenen Ehegatten zur Zeit des kommunistischen Regimes unbegründet sei. Die nunmehrige vermutete Lebensgefahr gehe von Angehörigen einer von mehreren rivalisierenden Gruppen aus, sei Auswirkung der bürgerkriegsähnlichen Situation und stelle deshalb keine individuelle Verfolgung im Konventionssinne dar. Die Auswirkungen solch bürgerkriegsähnlicher Ereignisse beträfen nahezu alle Bürger des Heimatstaates in ähnlichem Ausmaß, sodaß Benachteiligungen, Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und Übergriffe Angehöriger islamischer Bewegungen in solchen Ausnahmesituationen keine zielgerichteten staatlichen Maßnahmen gegen die Beschwerdeführerin als Person im Konventionssinn darstellten. Des weiteren ging das Bundesasylamt davon aus, daß die Beschwerdeführerin aufgrund ihres mehrwöchigen Aufenthaltes in Pakistan Sicherheit vor Verfolgung erlangt habe.

In ihrer Berufung faßte die Beschwerdeführerin im wesentlichen ihr Vorbringen anläßlich der Erstvernehmung zusammen und rügte die Entscheidung der ersten Instanz in rechtlicher Hinsicht.

Daraufhin erließ die belangte Behörde den nunmehr angefochtenen Bescheid, der ausdrücklich vollinhaltlich sowohl die Feststellungen als auch die rechtliche Beurteilung der ersten Instanz hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft übernahm. Darüber hinaus führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin sei von einer pashtunisch-islamisch-sunnitischen Bewegung bedroht worden, wobei es sich um eine von einer lokalen Gruppierung ausgehende Beeinträchtigung handle, die nicht dem Staat zurechenbar sei. Dieser Bedrohung hätte sie sich durch Verlassen des Wirkungsbereiches dieser Gruppe und Umzug in einen anderen Landesteil entziehen können. Somit liege Verfolgung bzw. die Furcht davor nicht im gesamten Gebiet des Heimatstaates vor.

Die Ausführungen zur Sicherheit vor Verfolgung in Pakistan wurden von der belangten Behörde nicht übernommen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Zentraler Aspekt des von § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 aus Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention übernommenen Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Zurechnungssubjekt der Verfolgungsgefahr ist grundsätzlich der Heimatstaat. Geht die Verfolgungsgefahr nicht von staatlichen Stellen aus, so ist sie dem Heimatstaat dann zuzurechnen, wenn die Behörden des Heimatstaates nicht in der Lage oder nicht willens sind, den Asylwerber vor einer Verfolgung, ausgehend von anderen Stellen, zu schützen (mittelbare staatliche Verfolgung).

Die Beschwerdeführerin hat ausgeführt, daß sie in Djalalabad von Mitgliedern der dortigen pashtunisch-islamisch-sunnitischen Bewegung nicht nur zum Verlassen Djalalabads aufgefordert worden sei, weil sie selbst und ihr Ehegatte Tadschiken, Schiiten und Kommunisten seien, sondern darüber hinaus, daß die Kinder umgebracht würden, weil die Beschwerdeführerin einen geforderten Geldbetrag nicht habe bezahlen können und die Kinder einem "kommunistischen" Vater entstammten. Damit behauptet die Beschwerdeführerin drohende Verfolgung in erster Linie aufgrund der politischen Gesinnung, in zweiter Linie aufgrund Zugehörigkeit zur tadschikisch-schiitischen Volksgruppe. Die Bedrohung der 1985 und 1988 geborenen Kinder der Beschwerdeführerin mit dem Umbringen ist eine Verfolgungshandlung, welche sich in Wahrheit (auch) gegen die Eltern, im konkreten Fall gegen die Beschwerdeführerin, richtet und welche auch von der Intensität her geeignet ist, aus objektiver Sicht Furcht vor Verfolgung auszulösen.

Die Beschwerdeführerin war zunächst gegen diese Gefahr der Verfolgung durch das Gastrecht des Freundes ihres Ehegatten geschützt, welcher der gleichen Volksgruppe wie die Verfolger angehört. Aktuell wurde die Furcht vor Verfolgung jedoch durch den Umstand, daß dieser Gastgeber nach einer Rückkehr von einer im August/September unternommenen einmonatigen Reise nach Kabul der Familie der Beschwerdeführerin den weiteren Aufenthalt in seinem Haus nicht mehr gestatten wollte. Zwar blieb in der niederschriftlichen Einvernahme der Beschwerdeführerin der Zeitpunkt ungenannt, an welchem die Aufkündigung des Gastrechtes erfolgte, was angesichts des bis Dezember 1994 dauernden Aufenthaltes der Beschwerdeführerin in Djalalabad aus Gründen der Beurteilung der Aktualität der Verfolgung relevant gewesen wäre, doch kann der Beschwerdeführerin diesbezüglich kein Vorwurf gemacht werden, da die vernehmende Behörde keinen Versuch unternommen hat, durch geeignete Nachfragen die näheren Umstände der Aufkündigung des Gastrechtes und des weiteren Aufenthaltes der Beschwerdeführerin in Djalalabad bis zur Ausreise zu klären. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß die Aufkündigung des Gastrechtes erst so kurz vor der Ausreise erfolgte, daß die Furcht der Beschwerdeführerin vor der von der pashtunisch-sunnitischen Bewegung drohenden Verfolgung zum Zeitpunkt ihrer Flucht aktuell war.

Die belangte Behörde geht - durch Übernahme der erstinstanzlichen Ausführungen zur Flüchtlingseigenschaft - davon aus, daß in Afghanistan eine gesetzlose Situation herrscht, in welcher die "staatliche" Gewalt von lokalen "Warlords" und rivalisierenden Mujahedin-Gruppen ausgeübt wird, jedoch nicht von einer Zentralregierung, nimmt daher selbst ein sogenanntes "Machtvolumen" an.

Aufgrund dieser behördlichen Feststellungen waren die staatlichen Behörden des Heimatlandes der Beschwerdeführerin nicht in der Lage, Schutz vor von anderen Stellen ausgehenden Übergriffen zu gewähren. In diesem Fall erlangte die von der pashtunisch-sunnitischen Bewegung ausgehende Gefahr der Verfolgung asylrechtliche Relevanz, denn sie geht von einer das Wohngebiet der Beschwerdeführerin beherrschenden Bewegung aus, gegen die die staatlichen Behörden keinen Schutz zu bieten in der Lage sind.

Da die belangte Behörde die Lage der Beschwerdeführerin ausschließlich aus der Sicht der bürgerkriegsähnlichen Situation in ihrer Heimat betrachtete, und die im Falle ALLGEMEINER GEFAHREN AUS EINEM BÜRGERKRIEG fehlende asylrechtliche Relevanz solcher Gefahren auf den gegenständlichen Fall bezog, ohne auf die der Beschwerdeführerin drohende individuelle Verfolgung Bedacht zu nehmen, und sie weiters außer acht gelassen hat, daß bei fehlender staatlicher Zentralgewalt die von anderen Stellen ausgehende Verfolgung asylrechtliche Relevanz erlangen kann, hat sie die Rechtslage verkannt und den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet.

Zwar hat die belangte Behörde in diesem Zusammenhang ausgeführt, es hätte sich eine innerstaatliche Fluchtalternative durch Verlassen des Wirkungsbereiches der lokalen Gruppierung durch Umzug in einen anderen Landesteil geboten, doch hat die Behörde diese Feststellung ohne Gewährung des Parteiengehörs erstmalig im angefochtenen Bescheid getroffen und überdies nicht konkret ausgeführt, in welchem anderen Landesteil eine solche Fluchtalternative bestanden hätte. Die Beschwerdeführerin zeigt in der Beschwerde die Relevanz dieses Verfahrensmangels durch das (dem im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bestehenden Neuerungsverbot nicht unterliegende) Vorbringen auf, sie hätte bei Darlegung durch die belangte Behörde, wo die innerstaatliche Fluchtalternative gelegen wäre, widerlegen und beweisen können, daß für sie die innerstaatliche Fluchtalternative gerade im Hinblick auf die Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei und ihrer Tätigkeit in einem Ministerium nicht bestanden habe. Damit belastete die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid auch mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Da eine Aufhebung wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit einer Aufhebung wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften vorgeht, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Parteiengehör Verletzung des Parteiengehörs Verfahrensmangel Sachverhalt Neuerungsverbot Allgemein (siehe auch Angenommener Sachverhalt)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1995200246.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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