Index
10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §59 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des A A in W, vertreten durch Mag. Ayo-Victor Hübl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Hohenstaufengasse 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 2020, W111 2205800-1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
zu Recht erkannt:
Der angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgeändert wurde, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
II. den Beschluss gefasst:
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Begründung
1 Dem Revisionswerber, einem aus Tschetschenien stammenden russischen Staatsangehörigen, wurde mit Berufungsbescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 29. Juni 2006 Asyl durch Erstreckung gemäß § 11 Abs. 1 Asylgesetz 1997 - abgeleitet von seinem Vater - gewährt.
2 Mit Bescheid vom 17. August 2018 sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass dem - inzwischen mehrfach straffällig gewordenen - Revisionswerber der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aberkannt und festgestellt werde, dass ihm gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Die Behörde erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte weiters fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung - mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides zu lauten habe: „Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Wegfall der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Ausreisebeschränkungen“. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Das BVwG stellte im Rahmen dieses Erkenntnisses unter anderem fest, dass der Revisionswerber und sein Vater (nunmehr) keiner Verfolgung durch die Behörden in der Russischen Föderation aufgrund der Arbeit des Vaters in der Schutztruppe eines Ministers von 1997 bis zu seiner Ausreise aus Tschetschenien ausgesetzt seien. Der Revisionswerber sei nie einer individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen und habe im nunmehrigen Verfahren keine substantiierten Befürchtungen für den Fall seiner Rückkehr geäußert. Es habe keine aktuelle (asylrelevante) Gefährdung des Revisionswerbers in der Russischen Föderation festgestellt werden können.
5 Der Revisionswerber sei mit näher genanntem Urteil wegen des Verbrechens der Brandstiftung nach § 169 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens des schweren Betruges nach §§ 15, 12 3. Fall, 146, 147 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt worden, wobei das BVwG auch die näheren Tatumstände (gemeinschaftliche Herbeiführung einer Feuersbrunst an einem Geschäftslokal, die zu einer massiven Explosion geführt und eine Beitragshandlung zu einem versuchten Versicherungsbetrug dargestellt habe) und die Strafbemessungserwägungen des Strafgerichtes feststellte. Weiters sei der Revisionswerber in einem weiteren Strafverfahren wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Zusatzstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt worden. Ein Wegfall der vom Revisionswerber ausgehenden Gefährdung könne frühestens nach einem Ablauf von zehn Jahren prognostiziert werden.
6 Weiter traf das BVwG Feststellungen zur Integration des Revisionswerbers. Seine (nach islamischen Ritus angetraute) Ehefrau und deren gemeinsame vier Kinder (geboren zwischen 2011 und 2016) seien in Österreich asylberechtigt. Der Revisionswerber habe vor seiner Haft mit diesen Angehörigen in keinem gemeinsamen Haushalt gelebt, jedoch „seinen Angaben zufolge“ eine intensive Beziehung zu seinen Kindern unterhalten. Seit seiner - während des Beschwerdeverfahrens erfolgten - Haftentlassung weise der Revisionswerber eine Meldung an der selben Adresse wie die genannten Angehörigen auf und habe nunmehr erstmals einen gemeinsamen Wohnsitz mit diesen. Darüber hinaus lebten die Eltern, die fünf Brüder und eine Schwester des Revisionswerbers in Österreich.
7 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG zunächst aus, dass die Behörde die Aberkennung des Status des Asylberechtigten zu Recht auf den Tatbestand des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK („Wegfall der Umstände“-Klausel) gestützt habe, weil einerseits die asylrelevante Gefährdung des Vaters des Revisionswerbers weggefallen sei - wobei diese Frage ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren über die Aberkennung des Asylstatus des Familienangehörigen selbstständig zu beurteilen gewesen sei - und der Revisionswerber andererseits auch keiner eigenen asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei. „Ergänzend“ führte das BVwG an, dass aber auch der Aberkennungstatbestand des § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 (Asylausschlussgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen eines besonders schweren Verbrechens) als erfüllt anzusehen sei: Die Brandstiftung, wegen welcher der Revisionswerber rechtskräftig verurteilt worden sei, sei aus näher dargestellten Erwägungen als auch als subjektiv besonders schwerwiegend anzusehen. Weiters liege - auch unter Einbeziehung einer näher ausgeführten Zukunftsprognose - die für eine Asylaberkennung notwendige Gemeingefährlichkeit vor. Schließlich falle auch die Abwägung der öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung gegenüber den Interessen des (anerkannten) Flüchtlings am (Weiter-) Bestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat aus näher dargestellten Gründen nicht zu Gunsten des Revisionswerbers aus.
8 In weiterer Folge begründete das BVwG die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Zur Rückkehrentscheidung führte es eine Interessenabwägung nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) im Hinblick auf den Eingriff in das bestehende Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK durch, wobei es zum Ergebnis kam, dass - auch unter Bedachtnahme auf die bisherige Aufenthaltsdauer und die Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf das Kindeswohl - vor allem im Hinblick auf die strafrechtlichen Verurteilungen die öffentlichen Interessen überwögen.
9 Zur Abänderung der Festlegung der Frist für die freiwillige Ausreise nach § 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) führte das BVwG aus, dass es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu den unionsrechtlichen Vorgaben in Widerspruch stünde, wenn ein Drittstaatsangehöriger nie in den Genuss der freiwilligen Ausreise käme. Im gegenständlichen Fall habe der Revisionswerber „aufgrund der aktuell durch die COVID-19-Pandemie bestehenden Ausreisebeschränkungen“ keine Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise. Es sei nicht absehbar, wie lange die Beschränkungen andauern würden, sodass auch im Falle der Verlängerung der Frist die Gefahr bestehe, dass der Revisionswerber die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise nicht wahrnehmen könne. Es sei daher der Beginn der Frist für die freiwillige Ausreise mit dem Wegfall des der freiwilligen Ausreise entgegenstehenden Hindernisses - nämlich der „durch die COVID-19-Pandemie bedingten aktuellen Ausreisebeschränkungen“ - festzulegen und Spruchpunkt IV. des Bescheides entsprechend anzupassen.
10 Schließlich begründete das BVwG das Einreiseverbot und dessen Dauer, das Unterbleiben der beantragten mündlichen Verhandlung und den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision.
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vorbringt, die vom BVwG festgelegte Ausreisefrist weiche auf Grund ihrer Unbestimmtheit von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ab, die Beweiswürdigung zur politischen Verfolgung im Herkunftsstaat sei unzureichend, die Beurteilung der Gemeingefährlichkeit des Revisionswerbers hätte nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfolgen dürfen, das Ermittlungsverfahren zur Klärung des „Vorrangs der Familieneinheit“ sei unvollständig geblieben und das Recht auf Wahrung des Kindeswohl sei verletzt worden.
12 Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Revisionsbeantwortung eingebracht, in der es den Argumenten der Revision entgegen tritt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
13 Die Revision ist teilweise, nämlich soweit sie sich gegen die Festlegung der Ausreisefrist wendet, zulässig und in diesem Umfang auch begründet (vgl. zur Trennbarkeit der Aussprüche etwa VwGH 8.3.2021, Ra 2020/14/0291, mwN).
1. Zur Festlegung der Frist zur freiwilligen Ausreise
14 § 55 Abs. 1 FPG sieht vor, dass mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt wird. Gemäß § 55 Abs. 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer von der Behörde vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Nach § 55 Abs. 3 FPG kann bei Überwiegen besonderer Umstände die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben.
15 Das BVwG hat im bekämpften Erkenntnis eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen „ab Wegfall der durch die COVID-19-Pandemie bedingten Ausreisebeschränkungen“ festgelegt.
16 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass die Festlegung dieser Frist mit einem Fristbeginn, der auf „Ausreisebeschränkungen“ auf Grund der COVID-19-Pandemie abstellt, dem aus § 59 Abs. 1 AVG iVm § 17 VwGVG abzuleitenden Gebot der hinreichenden Bestimmtheit einer Entscheidung widerspricht, zumal bislang im Zuge der COVID-19-Pandemie zwar die Einreise nach Österreich Beschränkungen unterworfen, allgemeine „Ausreisebeschränkungen“ aber nicht erlassen wurden (vgl. VwGH 25.11.2020, Ra 2020/19/0251, mwN). Unabhängig von der Frage, ob überhaupt die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 und 3 FPG vorgelegen sind, erweist sich die Festlegung der Frist schon auf Grund ihrer Unbestimmtheit als rechtswidrig.
17 Da das BVwG somit hinsichtlich der Festlegung der Frist für die freiwillige Ausreise nach § 55 FPG die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis in diesem Umfang in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
18 Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
2. Zur Zurückweisung der Revision in übrigen Umfang
19 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
20 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist in jeder Lage des Verfahrens zu fassen (§ 34 Abs. 3 VwGG).
21 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision gesondert vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
22 Die Revision macht zu ihrer Zulässigkeit zunächst eine unzureichende Beweiswürdigung zur politischen Verfolgung des Vaters des Revisionswerbers im Herkunftsstaat und damit zum Asylaberkennungsgrund gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 geltend.
23 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz tätig und im Allgemeinen nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 26.4.2021, Ra 2021/14/0004, mwN).
24 Eine solche Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung zur Feststellung, dass dem Vater des Revisionswerbers nunmehr keine Verfolgung im Herkunftsstaat mehr drohe, vermag die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung nicht aufzuzeigen. Wenn sie vorbringt, das BVwG habe sich nur auf eine allgemeine, nicht aktuelle Quelle in den Länderinformationen aus dem Jahr 2017 gestützt, legt sie nicht dar, inwieweit diese Informationen überholt oder in Widerspruch zu neueren Länderberichten stehe. Mit den konkreten Fluchtgründen des Vaters des Revisionswerbers - und woraus sich diese ergeben - hat sich das BVwG entgegen dem Revisionsvorbringen sehr wohl auseinandergesetzt. Die Revision legt auch nicht dar, inwiefern sich aus den von ihr hervorgehobenen Passagen der vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen eine konkrete Verfolgungsgefahr des Vaters des Revisionswerbers ableiten ließe.
25 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang schließlich vorbringt, der Vater des Revisionswerbers sei zum Wegfall seiner Fluchtgründe nicht einvernommen worden, versäumt sie darzulegen, welche Angaben dieser gemacht hätte und welche Feststellungen darauf zu gründen gewesen wären. Damit unterbleibt aber die erforderliche Relevanzdarstellung des damit behaupteten Verfahrensmangels (vgl. zu diesem Erfordernis erneut VwGH 26.4.2021, Ra 2021/14/0004, mwN).
26 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit weiters vor, die Feststellung der Gemeingefährlichkeit des Revisionswerbers hätte nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht ohne die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung erfolgen dürfen. Damit bekämpft sie die Annahme des BVwG, es lägen (auch) die Voraussetzungen des Aberkennungsgrundes nach § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 (Asylausschlussgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen eines besonders schweren Verbrechens) vor, in dessen Rahmen auch eine Gefährdungsprognose vorzunehmen war.
27 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass sich eine Revision als unzulässig erweist, wenn das angefochtene Erkenntnis auf einer tragfähigen Alternativbegründung beruht und im Zusammenhang damit keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufgezeigt wird (vgl. etwa VwGH 4.11.2021, Ra 2021/14/0330, mwN). Da - wie dargelegt - hinsichtlich des vom BVwG herangezogenen Aberkennungsgrundes nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 keine grundsätzliche Rechtsfrage aufgezeigt wurde, erübrigt es sich, auf dieses zu § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 erstattete Vorbringen einzugehen, weil das rechtliche Schicksal der Revision nicht (mehr) von der Beantwortung der dazu aufgeworfenen Rechtsfragen abhängt.
28 Im Hinblick auf die Rückkehrentscheidung und die in diesem Zusammenhang durchzuführende Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG bringt die Zulässigkeitsbegründung der Revision vor, es hätte ein vollständiges Ermittlungsverfahren „zur Klärung des Vorrangs der Familieneinheit“ durchgeführt werden müssen.
29 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, jedenfalls dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug der Fall ist. Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. jeweils VwGH 18.11.2020, Ra 2020/14/0113, mwN).
30 Davon, dass die Rückkehr des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat mit einer Trennung von seinen in Österreich asylberechtigten Familienangehörigen verbunden ist, ist das BVwG ohnehin ausgegangen. Dies steht aber nach der dargestellten Judikatur einer Rückkehrentscheidung im vorliegenden Fall massiver Straffälligkeit nicht grundsätzlich entgegen.
31 Die Revision vermisst darüber hinaus noch weitere „konkrete Ermittlungen“ und (darauf aufbauend) eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine aus Asylgründen bedingte Trennung von der Familie den Eingriff in das Familienleben unzulässig werden lassen könnte.
32 Werden Verfahrensmängel - wie hier Feststellungs- und Ermittlungsmängel - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt (in Bezug auf Feststellungsmängel) voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 11.5.2021, Ra 2021/14/0057, mwN). Eine solche Darstellung enthält die Revision, die auch die vermissten Ermittlungsschritte nicht näher konkretisiert, jedoch nicht.
33 Schließlich bringt die Revision zu ihrer Zulässigkeit vor, das Erkenntnis des BVwG stehe in Widerspruch zur Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach bei der erforderlichen Berücksichtigung des Kindeswohls die in § 138 ABGB genannten Kriterien als Orientierungsmaßstab gelten.
34 Entgegen dem Revisionsvorbringen hat sich das BVwG ausdrücklich mit den Folgen der Aufenthaltsbeendigung des Revisionswerbers auf das Wohlergehen seiner Kinder auseinandergesetzt und dabei etwa die Sicherung der Obsorge und die Möglichkeit der Leistung finanziellen Unterhalts berücksichtigt. Die Revision legt nicht dar, welche Aspekte der in § 138 ABGB normierten Kindeswohlkritierien aus welchen Gründen einer Aufenthaltsbeendigung des Revisionswerbers entgegenstehen würden, und unterlässt damit die erforderliche Darstellung der Relevanz des behaupteten Begründungsmangels auf den Verfahrensausgang. Somit zeigt sie auch insofern keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung auf, von deren Lösung die Revision abhinge.
35 Die Revision war daher im verbleibenden Umfang nach § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 31. Jänner 2022
Schlagworte
Spruch und BegründungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020140489.L00Im RIS seit
23.02.2022Zuletzt aktualisiert am
01.04.2022