Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Gabriele Svirak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* R*, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 31. Mai 2021, GZ 8 Rs 100/20i-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 10. September 2020, GZ 32 Cgs 148/19t-15, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,59 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,79 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Höhe des Anspruchs der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens und die Frage, ob eine vom Vater des Kindes bezogene finnische Kinderbetreuungsbeihilfe als vergleichbare Familienleistung anzurechnen ist.
[2] Die Klägerin war unstrittig Arbeitnehmerin der Z* GmbH. Sie bezog vom 3. 10. 2018 bis 20. 2. 2019 Wochengeld. Am 22. 11. 2018 gebar sie einen Sohn. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin endete am 11. 1. 2019. Die Klägerin lebte im Bezugszeitraum mit dem Sohn und ihrem Ehemann, dem Vater des Kindes, in Österreich.
[3] Der Ehemann der Klägerin absolviert ein Doktoratsstudium an einer finnischen Universität und erhält dafür ein Stipendium. Er gilt nach den finnischen Rechtsvorschriften als selbständig erwerbstätig „mit entsprechender Sozialversicherungspflicht“. Der Ehemann der Klägerin bezog im Zeitraum von 22. 2. 2019 bis 30. 8. 2019 in Finnland die Leistung „Vanhempainraha“ (finnisches Elternschaftsgeld, im Verfahren bisher als „Parental Benefit“ bezeichnet; vgl Beil ./10 und MISSOC-Tabelle Beil ./F) in Höhe von täglich 27,86 EUR. Die Anrechnung dieser Leistung auf das von der Klägerin begehrte Kinderbetreuungsgeld ist im Verfahren nicht strittig.
[4] Im Anschluss daran bezog der Ehemann der Klägerin von 1. 9. 2019 bis 31. 5. 2020 die finnische Leistung „Lasten kotihoidon tuki“ (finnische Kinderbetreuungsbeihilfe, im Verfahren bisher als „Child Care Allowance“ bezeichnet; vgl Beil ./F) in Höhe von 338,34 EUR monatlich. Diese Leistung wird bis längstens mit Ablauf des dritten Lebensjahres des Kindes unter der Voraussetzung erbracht, dass das Kind nicht in öffentlichen Einrichtungen betreut wird. Anspruchsberechtigte können nicht nur die leiblichen Eltern, sondern etwa auch Großeltern sein.
[5] Am 16. 1. 2019 (Einlangen) beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den am 22. 11. 2018 geborenen Sohn ab dem Tag der Geburt bis zur höchstmöglichen Bezugsdauer.
[6] Mit ihrer am 26. 11. 2019 beim Erstgericht eingebrachten Säumnisklage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den beantragten Zeitraum in der gesetzlichen Höhe ohne Anrechnung der finnischen Kinderbetreuungsbeihilfe („Lasten kotihoidon tuki“). Diese finnische Leistung sei keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld gleichartige Familienleistung und daher nicht anzurechnen.
[7] Die Beklagte wandte ein, dass Finnland zur Gewährung von Familienleistungen als Beschäftigungsstaat vorrangig, Österreich als Wohnsitzstaat nur nachrangig zuständig sei. Österreich habe daher nur Ausgleichszahlungen zu leisten. Die finnischen Familienleistungen seien anzurechnen und überstiegen in ihrer Gesamtheit die Höhe des von Österreich zu zahlenden Kinderbetreuungsgeldes.
[8] Das Erstgericht wies die Einrede der Unzulässigkeit des Rechtswegs mit Beschluss zurück, eine Säumnis der Beklagten liege vor. Dieser Beschluss erwuchs mangels Anfechtung in Rechtskraft. Das Klagebegehren wies es ab.
[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge. Es sprach der Klägerin Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den am 22. 11. 2018 geborenen Sohn in Höhe von 47,23 EUR von 21. 2. 2019 bis 21. 11. 2019 abzüglich des vom Vater des Kindes erhaltenen „Parental Benefits“ (finnisches Elternschaftsgeld) von 27,86 EUR täglich für die Zeit von 22. 2. 2019 bis 30. 8. 2019, also insgesamt 7.647,62 EUR, zu. Art 68 iVm Art 10 VO (EG) 883/2004 sehe nur die Anrechnung vergleichbarer Leistungen vor. Die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe sei nicht mit dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbar: Das Kinderbetreuungsgeld sei viermal höher als die finnische Leistung, die daher nicht existenzsichernd sei. Das Kinderbetreuungsgeld werde nur ein Jahr lang in einer den Lebensstandard sichernden Höhe gewährt. Die finnische Kinderbetreuungshilfe werde drei Jahre und unbeeinflusst vom jeweiligen Lebensstandard gewährt. Die Revision sei zulässig, weil die Vergleichbarkeit finnischer Familienleistungen zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld eine größere Anzahl von Fällen betreffen könne.
[10] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Klägerin beantwortete Revision der Beklagten, mit der diese die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
[12] Die Revisionswerberin macht geltend, dass die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe eine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare und daher anrechenbare Familienleistung sei. Dazu müsse das Kinderbetreuungsgeld gesamt betrachtet werden: Weder Höhe noch Bezugsdauer der finnischen Leistung enthielten eine Aussage über Funktion und Zweck dieser Leistung. Sowohl das Kinderbetreuungsgeld als auch die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe verfolgten das Ziel, dass Eltern ihre Kinder in häuslicher Gemeinschaft betreuen und erziehen könnten.
[13] Dem kommt keine Berechtigung zu:
[14] 1. Voranzustellen ist, dass die Vorinstanzen von der nachrangigen Zuständigkeit Österreichs gegenüber Finnland zur Gewährung von Familienleistungen ausgegangen sind, sodass die Beklagte Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens als Ausgleichszahlung im Sinn des § 6 Abs 3 KBGG schulde. Diese rechtliche Beurteilung wird auch von der Klägerin im Revisionsverfahren nicht mehr in Frage gestellt, sodass davon auszugehen ist.
[15] 2. Auch für Geburten ab dem 1. 3. 2017 gilt im Anwendungsbereich des § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 für die Beurteilung der Anrechenbarkeit einer ausländischen Familienleistung auf das Kinderbetreuungsgeld das Erfordernis des Vorliegens von Leistungen gleicher Art (Art 10 VO [EG] 883/2004, 10 ObS 141/19m SSV-NF 33/74; RS0125752 [T3]). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist es Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe als Leistung gleicher Art wie das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens angesehen werden kann und es daher bei der Berechnung des der Klägerin geschuldeten Unterschiedsbetrags berücksichtigt werden darf (EuGH C-347/12, ECLI:EU:C:2014:300, Wiering, Rn 62 mwH; 10 ObS 1/20z SSV-NF 34/36). Gleichartigkeit verlangt danach insbesondere Übereinstimmung der Leistungen bei Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage und Voraussetzungen für ihre Gewährung. Angesichts der zahlreichen Unterschiede zwischen den nationalen Systemen der sozialen Sicherheit ist völlige Gleichheit bei den Berechnungsgrundlagen und den Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nicht erforderlich (vgl nur EuGH C-347/12, Rn 54 f mwH). Vergleichbarkeit wird angenommen, wenn die Leistungen einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907).
[16] 3.1 Auch bei der von der Beklagten geforderten „Gesamtbetrachtung“ hat das österreichische Kinderbetreuungsgeld zwar einerseits den Zweck, Eltern, die sich in den (maximal) ersten drei Jahren (1063 Tagen, § 5 Abs 2 KBGG) gezielt der Kindererziehung widmen, die Erziehung zu vergüten und auch andere Betreuungs- und Erziehungskosten ausgleichen. Es hat aber zusätzlich auch den Zweck, finanzielle Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll-)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern (10 ObS 109/07p). Diese Einkommensersatzfunktion zeigt sich am stärksten beim Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens. Dieses bezweckt als (teilweiser) Ersatz für den Entfall des früheren Einkommens, jenen Eltern, die vor der Geburt über ein relativ hohes Erwerbseinkommen verfügt habe, die Möglichkeit zu geben, trotz des kurzzeitigen Rückzugs aus dem Erwerbsleben den bisherigen Lebensstandard zu erhalten (10 ObS 149/17k SSV-NF 32/11; RS0127744).
[17] 3.2 Die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe wird – wie sich aus den auch im Verfahren erster Instanz verwendeten MISSOC-Vergleichstabellen ergibt (Beil ./F; www.missoc.org) – unabhängig von der Bedürftigkeit einer Familie bezahlt; das Einkommen der Familie ist irrelevant. Sie ist mit einem Monatsbetrag von 338,34 EUR (Stand: Jänner 2019, Beil ./F), durchschnittlich täglich daher 11,28 EUR (bei einem Monat mit 30 Tagen), niedriger als selbst der geringste Tagsatz beim pauschalen Kinderbetreuungsgeld (14,53 EUR täglich). Dem Berufungsgericht ist zuzustimmen, dass damit die Einkommensersatzfunktion dieser Leistung gegenüber dem Kinderbetreuungsgeld zumindest deutlich im Hintergrund steht (vgl 10 ObS 141/19m zum deutschen Betreuungsgeld; 10 ObS 1/20z zum bayerischen Familiengeld). Daran ändert der – vom Ehemann der Klägerin offenbar aber nicht bezogene – Zuschlag von maximal 181,07 EUR pro Monat (Stand: Jänner 2019, vgl Beil ./F) nichts, weil dieser bedarfsabhängig ist.
[18] 3.3 Weiters unterscheidet sich die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe, worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat, vom österreichischen Kinderbetreuungsgeld dadurch, dass sie nicht gewährt wird, wenn die Familie die kommunale Tagesbetreuung in Anspruch nimmt. Gemeinden in Finnland sind verpflichtet, für die ansässigen Kinder Kinderbetreuungsleistungen zu erbringen. Die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe wird (nur) an Familien gezahlt, die Kinder bis zu drei Jahren zu Hause versorgen oder eine andere Regelung gefunden haben, anstatt die kommunale Tagesbetreuung in Anspruch zu nehmen (MISSOC-Vergleichstabellen, Beil ./F).
[19] 3.4 Damit zeigen sich nach Funktion und Struktur erhebliche Unterschiede zwischen der finnischen Kinderbetreuungsbeihilfe und dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld: Wie beim deutschen Betreuungsgeld (10 ObS 149/17k, 10 ObS 141/19m) wird die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe nur gezahlt, wenn nicht öffentliche Betreuungseinrichtungen in Anspruch genommen werden. Während für den Bezug der finnischen Kinderbetreuungsbeihilfe ein Erwerbseinkommen und dessen Höhe nicht relevant sind, besteht die wesentliche Voraussetzung für das Kinderbetreuungsgeld darin, dass bestimmte Einkommensgrenzen (§§ 2 Abs 1 Z 3, 24 Abs 1 Z 3 KBGG) nicht überschritten werden. Einen Ausgleich für den Verzicht auf ein Erwerbseinkommen kann die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe aufgrund ihrer geringen Höhe nicht leisten.
[20] 3.5 Das Berufungsgericht hat deshalb zu Recht die Gleichartigkeit von finnischer Kinderbetreuungsbeihilfe und österreichischem Kinderbetreuungsgeld verneint.
[21] 4. Der Revision ist daher nicht Folge zu geben.
[22] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Textnummer
E133898European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00147.21X.1214.000Im RIS seit
22.02.2022Zuletzt aktualisiert am
22.02.2022