TE OGH 2021/12/15 9ObA111/21w

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Prof. Dr. Klaus Mayr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei G* K*, vertreten durch Mag. Andreas Wimmer, Rechtsanwalt in Hallein, gegen die beklagte Partei O*-Gesellschaft mbH, *, vertreten durch Hübel & Payer Rechtsanwälte OG in Salzburg, wegen 1.556,53 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 107,88 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. August 2021, GZ 11 Ra 50/21h-19, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 27. April 2021, GZ 32 Cga 111/20v-15, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Ersturteil wie folgt zu lauten hat:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei den Betrag von 1.488,16 EUR brutto samt 8,58 % Zinsen aus 103,95 EUR brutto ab 1. 10. 2019, aus 248,33 EUR brutto ab 1. 1. 2020, aus 23 EUR brutto ab 1. 3. 2020, aus 669,20 EUR brutto ab 1. 4. 2020, aus 299 EUR brutto ab 1. 5. 2020 und aus 144,68 EUR brutto ab 16. 5. 2020 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

2. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei einen weiteren Betrag von 68,37 EUR brutto samt 8,58 % Zinsen aus 0,92 EUR brutto seit 1. 10. 2019, aus 33,26 EUR brutto seit 1. 1. 2020 und aus 34,19 EUR brutto seit 1. 4. 2020 zu bezahlen, wird abgewiesen.

3. Die beklagte Partei ist schuldig, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Salzburg an Aufwandersatz 865 EUR binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, binnen 14 Tagen der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Salzburg 545 EUR an Aufwandersatz für das Berufungsverfahren zu ersetzen und der klagenden Partei die mit 169,75 EUR (darin 28,29 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu bezahlen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1]            Der Kläger war im Hotel der Beklagten von 2. 9. 2019 bis 15. 5. 2020 als Nachtportier angestellt. Auf das Dienstverhältnis war der Kollektivvertrag für Angestellte im Hotel- und Gastgewerbe (in der Folge: KV) anzuwenden. Das Bruttomonatsgehalt des Klägers betrug 960 EUR.

[2]       Der mit 24 Wochenstunden teilzeitbeschäftigte Kläger leistete regelmäßig Mehrarbeitsstunden, wobei – soweit für das Revisionsverfahren relevant – unter Berücksichtigung von konsumiertem Zeitausgleich im September 2019 9 Mehrarbeitsstunden und im Oktober 2019 5,75 Mehrarbeitsstunden von der Beklagten nicht abgegolten wurden.

[3]            Am 2. 11. 2019 machte der Kläger gegenüber der Beklagten an Mehrarbeit für September 2019 2 Stunden 35 Minuten und für Oktober 2019 1 Stunde 10 Minuten geltend. Am 31. 3. 2020 monierte der Kläger, dass seine Arbeitszeiten für bestimmte Tage, unter anderem für den 31. 10. 2019 (22:00 Uhr bis 8:10 Uhr; Anmerkung des Revisionsgerichts: 1 Stunde 40 Minuten Mehrarbeit) nicht korrekt erfasst worden seien.

[4]            Mit der vorliegenden Klage vom 23. 11. 2020 begehrt der Kläger von der Beklagten 1.556,53 EUR brutto sA, darin enthalten unter anderem das Entgelt für seine im September und Oktober 2019 geleisteten und nicht durch Zeitausgleich abgegoltenen Mehrarbeitsstunden samt Mehrarbeitszuschlag.

[5]            Die Beklagte hielt dem letztgenannten Begehren – soweit noch relevant – den Verfall entgegen.

[6]            Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit 1.380,28 EUR brutto sA statt und wies das Mehrbegehren von 176,25 EUR brutto sA ab. Von den im September und Oktober 2019 vom Kläger geleisteten Mehrarbeitsstunden seien lediglich Mehrarbeitsstunden im Ausmaß von 2 Stunden 35 Minuten für September und 2 Stunden 50 Minuten für Oktober rechtzeitig geltend gemacht worden. Für September 2019 stehe dem Kläger dafür eine Entlohnung von 75,07 EUR und für Oktober 2019 von 66,99 EUR zu. Darüber hinaus sei Verfall nach Pkt 6 lit c KV eingetreten.

[7]            Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers, in der dieser die Anwendung der Verfallsbestimmung des Pkt 6 lit c KV auf Entgeltansprüche für Mehrarbeitsstunden kritisierte, nicht Folge. Es vertrat die Rechtsauffassung, dass unter den in Pkt 6 lit c KV genannten Begriff „Gehaltsansprüche“ auch Entgeltansprüche für Mehrarbeitsstunden fielen. Da eine kurze Verfallsfrist Beweisprobleme bei der Geltendmachung von länger zurückliegenden Überstunden vermeiden solle, könne den Kollektivvertragspartnern nicht unterstellt werden, Entgeltansprüche für Mehrarbeitsstunden keiner Verfallsbestimmung zu unterziehen. Zudem werde unter „Gehalt“ allgemein das Arbeitsentgelt eines Angestellten verstanden (wikipedia). Auch werde in Pkt 6 lit b KV die gesonderte Ersichtlichmachung zuschlagspflichtiger Arbeit in der Gehaltsabrechnung angeordnet. Das Berufungsgericht hat die ordentliche Revision nicht zugelassen, weil der Kollektivvertrag hier eine klare, eindeutige Regelung treffe.

[8]       Gegen den klagsabweisenden Teil der Berufungsentscheidung im Umfang von 107,88 EUR brutto richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem auf Zuspruch eines weiteren Betrags von 107,88 EUR gerichteten Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9]       Die Beklagte hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

[10]           Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil der Auslegung der gegenständlichen Kollektivvertragsbestimmung für einen größeren Personenkreis Bedeutung zukommt und sich der Oberste Gerichtshof mit der Frage, ob unter dem in Pkt 6 lit c KV genannten Begriff „Gehaltsansprüche“ auch Entgeltansprüche für Mehrarbeitsstunden zu verstehen sind, noch nicht befasst hat (RS0109942). Die zu beurteilende Regelung ist auch nicht so eindeutig, dass nur eine Möglichkeit der Auslegung in Betracht käme.

[11]     Die außerordentliche Revision des Klägers ist auch berechtigt.

[12]     1.1. Pkt 6. des Kollektivvertrags für Angestellte im Hotel- und Gastgewerbe trägt die Überschrift „Allgemeine Gehaltsbestimmungen“ und lautet wie folgt:

a) Der Gehaltszahlungszeitraum beginnt am 1. und endet am letzten Tag des Monats.

b) Bei der Gehaltsauszahlung ist jedem Angestellten eine Gehaltsabrechnung auszuhändigen, aus der das Bruttogehalt, die Lohnsteuer, die Sozialversicherungsbeiträge und alle sonstigen Abzüge ersichtlich sind. Bei zuschlagspflichtiger Arbeit sind die Zuschläge gesondert ersichtlich zu machen.

c) Gehaltsansprüche verfallen, wenn sie nicht 4 Monate nach Fälligkeit vom Angestellten beim Arbeitgeber oder dessen Stellvertreter schriftlich geltend gemacht werden.

[13]           1.2. Für Entgeltansprüche für Überstunden enthält Pkt 5 lit f KV eine eigene, ebenfalls 4-monatige Verfallsbestimmung. Zwischen den Parteien herrscht Einigkeit darüber, dass diese Bestimmung nicht auf Entgeltansprüche für Mehrarbeitsstunden anwendbar ist (vgl 8 ObA 44/06p).

[14]           2.1. Die Rechtsprechung definiert das „eigentliche Gehalt“ (neben allen anderen sonstigen Bezügen) als Teil des weit auszulegenden Begriffs des „Entgelts“ (RS0030847; RS0027975; RS0027998 [T2]; vgl 8 ObA 60/18h [Pkt. 3.]) bzw des „Monatsbezugs“ (RS0027998; RS0028005). Der Begriff des „Gehalts“ wird daher – im Allgemeinen – eng im Sinne eines Grundgehalts ohne jede Zulage verstanden (vgl 9 ObA 2269/96h). Das Entgelt für Mehrarbeitsstunden fällt nicht unter den engen Begriff des „Gehalts“.

[15]           3. Wesentliche Bedeutung kommt der Begriffsbildung im Kollektivvertragsrecht zu. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist gemäß den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen (RS0010088; RS0008807; RS0008782). In erster Linie ist daher der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des Kollektivvertrags ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RS0010089 [T2]). Eine über die Wortinterpretation hinausgehende Auslegung ist (nur) dann erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerst mögliche Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet (RS0010089 [T38]). Da den Kollektivvertragsparteien grundsätzlich unterstellt werden darf, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, ist bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (RS0008828; RS0008897).

[16]           4.1. Zur Verfallsbestimmung Pkt 6 lit c des Kollektivvertrags für Angestellte im Hotel- und Gastgewerbe weist der Revisionswerber zutreffend darauf hin, dass sich diese nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nur auf das in diesem Punkt geregelte laufende Monatsgehalt bezieht (RS0064834), also etwa nicht auf die in einem anderen Punkt des KV geregelte, nicht als „Gehaltsanspruch“ bezeichnete Jahresremuneration (RS0064834 [T1]). Die Verfallsfrist beginnt mit der Fälligkeit des Gehaltsanspruchs zu laufen (vgl RS0132051).

[17]            4.2. Auch die vom Kläger geleisteten, jeweils am Ende des Kalendervierteljahres zuschlagspflichtigen Mehrarbeitsstunden (vgl § 19d Abs 3b Z 1 AZG) fallen nicht unter den in Pkt 6 lit c KV verwendeten Begriff „Gehaltsansprüche“, weil das erst am Ende eines jeden Kalendervierteljahres fällige Entgelt für Mehrarbeitsstunden nicht dem laufenden Monatsgehalt zuzuordnen ist. Anhaltspunkte dafür, dass die Kollektivvertragsparteien beabsichtigten, dem Begriff „Gehaltsansprüche“ einen vom allgemeinen arbeitsrechtlichen Verständnis abweichenden Begriffsinhalt zu geben, bieten auch die Überlegungen des Berufungsgerichts zum systematischen Zusammenhang zwischen Pkt 6 lit b KV und Pkt 6 lit c KV nicht. Pkt 6 KV enthält, wie schon dessen Überschrift erhellt, allgemeine Bestimmungen, die ganz unterschiedliche Regelungen zum Gegenstand haben. So beschäftigt sich Pkt 6 lit b KV im Wesentlichen mit dem erforderlichen Inhalt der dem Angestellten bei der Gehaltsauszahlung auszuhändigenden Gehaltsabrechnung, der Text gibt aber keine besonderen Hinweise zum Verständnis der Kollektivvertragsparteien über den in Pkt 6 lit c KV verwendeten Begriff „Gehaltsansprüche“.

[18]           4.3. Diese vom Wortlaut getragene Kollektivvertragsauslegung führt somit im Ergebnis dazu, dass zwar für den Anspruch der Kläger auf Überstundenentlohnung eine 4-monatige Verfallsfrist gilt (vgl Pkt 5 lit f KV) und für „Gehaltsansprüche“ (vgl Pkt 6 lit c KV) eine 6-monatige, für den Anspruch auf Abgeltung von Mehrarbeitsstunden hingegen keine. Aus welchen Gründen die Kollektivvertragsparteien dafür keine Verfallsregelung vorgesehen haben, ist dem Kollektivvertrag nicht zu entnehmen. Der Annahme einer – vom Gericht zu füllenden –ungewollten Lücke, steht entgegen, dass die Verfallsregelungen des Kollektivvertrags deshalb nicht unvollständig und zwingend ergänzungsbedürftig sind. Es ist nicht Sache der Gerichte, eine allenfalls unbefriedigende kollektivvertragliche Regelung zu ändern; dies obliegt den Kollektivvertragsparteien (RS0008880 [T7]).

[19]           5. Die im Revisionsverfahren nur dem Grunde nach strittigen offenen Entgeltansprüche für die vom Kläger geleisteten Mehrarbeitsstunden in den Monaten September und Oktober 2019 sind daher zufolge Klagseinbringung innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist nicht verfallen.

[20]     Der außerordentlichen Revision des Klägers ist daher Folge zu geben und dem Klagebegehren in Abänderung der klagsabweisenden Entscheidung der Vorinstanzen in einem weiteren Umfang von 107,88 EUR brutto sA stattzugeben.

[21]     Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 43 Abs 2 erster Fall, 50 ZPO. Der Kläger ist nur mit einem geringfügigen Teil seines Begehrens nicht durchgedrungen, weshalb ihm die gesamten Kosten zuzusprechen sind.

Textnummer

E133900

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:009OBA00111.21W.1215.000

Im RIS seit

22.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

22.02.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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