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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Entzug des gesetzlichen Richters durch Entscheidung eines (männlichen) Richters des Bundesverwaltungsgerichts betreffend die Abweisung des Status der Asylberechtigten bei vorgebrachter drohender Zwangsverheiratung einer weiblichen Staatsangehörigen des IraksSpruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin ist eine im Jahr 2003 geborene irakische Staatsangehörige, die der Volksgruppe der Kurden angehört und sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben bekennt. Die Beschwerdeführerin lebte vor ihrer Ausreise aus dem Irak mit ihrem Vater und ihren Brüdern in Bagdad, anschließend zog sie im Jahr 2015 mit ihrem Vater in die Türkei. Am 1. Juni 2018 stellte die unbegleitete und zu diesem Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführerin einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte vor, dass ihre Familie auf Grund ihrer kurdisch-sunnitischen Zugehörigkeit diskriminiert und bedroht worden sei, weshalb sie mit ihrem Vater in die Türkei geflohen sei. Die Türkei habe sie verlassen, nachdem ihr Vater sie mit einem Mann zwangsverheiraten habe wollen. Auch ihre Brüder würden sich in Österreich befinden. In den Irak könne sie als Minderjährige ohne familiäre Kontakte nicht zurückkehren. Sie wolle in Österreich leben und keine Angst davor haben müssen, zu einer Heirat gezwungen zu werden.
2. Mit Bescheid vom 19. September 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine bis zum 19. September 2019 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.). In der dagegen erhobenen Beschwerde führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie bereits in der Türkei einem Zwangsverheiratungsversuch ausgesetzt gewesen sei. Diese Gefahr bestehe, wie sich aus den Länderberichten ergebe, insbesondere für heiratsfähige junge Mädchen wie die minderjährige Beschwerdeführerin auch im Irak. Die Situation der minderjährigen Beschwerdeführerin unterscheide sich von der Situation anderer im Irak lebender Frauen dadurch, dass sie keine männliche Unterstützung und keinen familiären Rückhalt habe und sie auf Grund ihrer kurdisch-sunnitischen Zugehörigkeit sowie ihrer Minderjährigkeit besonders schutzbedürftig sei. Die staatlichen Institutionen im Irak seien nicht imstande, minderjährige Mädchen, alleinstehende Frauen und Kinder ohne männlichen Schutz vor Zwangsheirat, Armut und Gewalt im Alltag zu schützen.
3. Die ausschließlich gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 8. Juni 2021 als unbegründet ab. Eine asylrelevante Verfolgung auf Grund ihrer kurdisch-sunnitischen Zugehörigkeit sei im Verfahren nicht hervorgekommen. Wenn die Beschwerdeführerin in der Beschwerde vorbringe, dass sie als junge, alleinstehende Frau mit westlicher Orientierung grundsätzlich auf Grund ihrer besonderen Vulnerabilität einer der in der GFK erwähnten Gruppen zuzuordnen sei, sei dem entgegenzuhalten, dass die Konvention eine solche Einordnung der Beschwerdeführerin nicht ermögliche. Nach Ansicht des UNHCR benötigten zwar abhängig von den Umständen des Einzelfalles ua Frauen, die von Zwangs- und/oder Kinderehe bedroht seien, wahrscheinlich – und Frauen und Mädchen ohne stabilen familiären Rückhalt möglicherweise – internationalen Schutz. Die Beschwerdeführerin sei jedoch ihren Angaben zufolge ausschließlich von ihrem Vater in der Türkei mit einer möglichen Zwangsehe konfrontiert worden. Dass die Beschwerdeführerin tatsächlich zur Heirat mit einem Mann gezwungen worden wäre, habe die Beschwerdeführerin dagegen nicht glaubhaft machen können. Für den Irak würden keinerlei weiterführende Hinweise vorliegen, dass sie jemals einer Verfolgungshandlung ausgesetzt gewesen wäre oder Gewalt gegen sich selbst oder ihre sexuelle Integrität erfahren hätte. Ausschließlich ihre Situation als junge Frau ohne familiären Rückhalt könne dazu führen, dass ihr internationaler Schutz zu gewähren wäre. Der erkennende Richter verkenne nicht, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine junge Frau handle, die Minderheiten angehöre. Eine asylrechtlich relevante Bedrohung im Sinne des §3 AsylG 2005 lasse sich jedoch mit Blick auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht erkennen, "zumal ihr durch die belangte Behörde durch die Entscheidung[,] subsidiären Schutz zu gewähren[,] internationaler Schutz im Sinne des UNHCR zugesprochen wurde". Auch die von der Beschwerdeführerin vorgebrachte westliche Orientierung sei nicht geeignet, ihr einen über subsidiären Schutz hinausgehenden Flüchtlingsschutz zuzusprechen, zumal die Beschwerdeführerin im Irak auf Grund einer solchen Ausrichtung keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen sei.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der ua die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Die Beschwerdeführerin bringt im Wesentlichen vor, dass ihr auf Grund ihres von den Normen und Traditionen ihres Herkunftsstaates abweichenden selbstbestimmten Lebensstils im Irak asylrelevante Verfolgung drohe.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
II. Rechtslage
1. §20 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 68/2013 lautet:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §25 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013."
2. §6 der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes für das Geschäftsverteilungsjahr vom 1. Februar 2021 bis 31. Jänner 2022 lautet auszugsweise wie folgt:
"§6. Unzuständigkeit
(1) Eine Richterin oder ein Richter ist im Sinne dieser Geschäftsverteilung unzuständig, wenn
1. […]
4. sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist;
5. […]"
III. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes unter anderem dann verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002).
2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen.
2.1. Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, normiert §20 AsylG 2005 in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch Organwalter desselben Geschlechts vor der Verwaltungsbehörde und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Bundesverwaltungsgericht durch Richter desselben Geschlechts. Davon kann nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt (vgl VfSlg 20.260/2018 und bereits VfGH 25.11.2013, U1121/2012 ua). Dabei begründen sowohl Behauptungen eines bereits erfolgten als auch eines drohenden Eingriffes die Pflicht zur Einvernahme bzw zur Verhandlung und Entscheidung durch Organwalter desselben Geschlechts (VfSlg 20.260/2018; VfGH 2.12.2020, E1414/2020; siehe auch VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007; 22.10.2020, Ro 2020/14/0003).
2.2. Die zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährige Beschwerdeführerin brachte in ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen näher konkretisierten Versuch einer Zwangsverheiratung durch ihren Vater als Fluchtgrund vor, weshalb sie in Österreich leben und keine Angst mehr haben wolle, zu einer Heirat gezwungen zu werden. In der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht führte sie wiederum aus, bereits in der Türkei durch ihren Vater einem Zwangsverheiratungsversuch ausgesetzt gewesen zu sein, und konkretisierte ihr Vorbringen dahingehend, dass diese Gefahr, wie sich aus den Länderberichten ergebe, insbesondere für heiratsfähige junge Mädchen wie die minderjährige Beschwerdeführerin auch im Irak bestehe. Die staatlichen Institutionen im Irak seien nicht geeignet, minderjährige Mädchen, alleinstehende Frauen und Kinder ohne männlichen Schutz vor Zwangsheirat, Armut und Gewalt im Alltag zu schützen. Sie hat damit der Sache nach einen (erfolgten wie drohenden) Eingriff in ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des §20 AsylG 2005 behauptet (vgl dazu VfSlg 20.260/2018 und bereits VfGH 12.6.2015, U1099/2013 ua).
2.3. Da die Zuständigkeit durch die entsprechende Behauptung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bzw in der Beschwerde begründet wird, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hat (vgl VfSlg 20.260/2018; VfGH 2.12.2020, E1414/2020; VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007), kommt dem Umstand keine Bedeutung zu, dass der erkennende Richter des Bundesverwaltungsgerichtes dieses Vorbringen als unglaubwürdig gewertet hat und zum Schluss gekommen ist, dass eine solche Gefahr im Irak nicht bestehe.
2.4. Indem das Bundesverwaltungsgericht über die Beschwerde der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten durch einen Richter männlichen Geschlechts entschieden hat, obgleich §20 Abs2 AsylG 2005 im vorliegenden Fall anzuwenden war und die Beschwerdeführerin ein Abgehen von der sich daraus ergebenden Zuständigkeit einer Richterin nicht verlangt hat, hat es die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (VfSlg 19.671/2012, 20.260/2018). Das Erkenntnis ist daher bereits aus diesem Grund aufzuheben.
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Gericht Zusammensetzung, BundesverwaltungsgerichtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E2865.2021Zuletzt aktualisiert am
21.02.2022