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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art2, Art3Leitsatz
Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten an einen Staatsangehörigen von Afghanistan; Verkennung der spätestens seit 20.07.2021 erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung; Abweisung des nach Beschwerdeerhebung und Entrichtung der Eingabengebühr gestellten Verfahrenshilfeantrags mangels RückwirkungSpruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie im Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird nicht Folge gegeben.
III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der 102222Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 1996 geborener afghanischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Er ist in der Provinz Nangarhar im Dorf Toto geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise 2015.
2. Der Beschwerdeführer stellte in Österreich am 9. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz mit der Begründung, dass sein Bruder bei der Polizei sei und die Taliban das Haus seiner Familie überfallen hätten. Er sei damals alleine zu Hause gewesen und sie hätten ihn mitgenommen, um ihn gegen seinen Bruder auszutauschen. Er sei auch geschlagen worden, bevor ihm die Flucht gelungen sei. Als die Taliban die Flucht bemerkt hätten, hätten sie auf ihn geschossen, wobei der Bruder des Dorfvorstehers des benachbarten Dorfes getroffen und getötet worden sei. Er werde von den Taliban und der Familie des Dorfvorstehers verfolgt und sei mit dem Tod bedroht worden.
3. Mit Bescheid vom 5. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer nicht, sondern erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Zudem legte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
4. Mit Erkenntnis vom 30. Juli 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die vom Beschwerdeführer gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Im Wesentlichen schloss das Bundesverwaltungsgericht zunächst eine asylrelevante Verfolgung mangels glaubhaften Fluchtvorbringens aus. Dem Beschwerdeführer drohe im Herkunftsstaat keine konkrete und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgung, etwa durch die Taliban oder in Folge einer Blutrache durch die Familie des Dorfvorstehers. Es hätten sich im Verfahren keine hinreichend sicheren Anhaltspunkte für eine wohlbegründete Furcht des Beschwerdeführers ergeben, dass ihm im Herkunftsstaat individuell und aktuell Verfolgung in asylrelevanter Intensität drohe. Das Fluchtvorbringen sei nicht glaubhaft, weil sich der Beschwerdeführer in Widersprüche verstrickt habe und seine Angaben nicht nachvollziehbar, vage und unplausibel gewesen seien.
Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erachtete das Bundesverwaltungsgericht als nicht gegeben. Nach den Feststellungen zur Lage in Afghanistan gehe es zwar davon aus, dass der Beschwerdeführer auf Grund der dortigen Sicherheitslage bzw mangels sicherer Erreichbarkeit nicht in seine Heimatprovinz zurückkehren könne. Die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete es aber damit, dass dem Beschwerdeführer in der Stadt Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Auf Grund der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers sei ihm eine Neuansiedlung in dieser Stadt zumutbar. Auch die Sicherheitslage stehe, wie das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung ausführt, einer Rückkehr nicht entgegen:
"Die Berichtslage zu sicherheitsrelevanten Vorfällen in Afghanistan zeigt auf, dass die Sicherheitslage in weiten Teilen des Landes zwar weiterhin volatil bleibt, das Ausmaß der Gewalt und die Betroffenheit von Zivilisten laut den vorliegenden Statistiken jedoch je nach Region unterschiedlich sind und willkürliche Gewalt in Afghanistan und insbesondere in den unter Kontrolle der Regierung stehenden urbanen Gebieten nicht in einem solchen Ausmaß stattfindet, als dass jeder Staatsbürger durch die bloße Anwesenheit auf dem Stadtterritorium konkret gefährdet ist, einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zu erleiden.
[…]
Allerdings würde sich wie festgestellt in Herat und Mazar-e Sharif für sich betrachtet keine besondere Gefährdungssituation für den Beschwerdeführer ergeben.
Diese Städte können – ungeachtet des Umstandes, dass dort ebenfalls unbestrittenermaßen Anschläge, in erster Linie auf Einrichtungen mit Symbolcharakter oder Bezug zum Staat oder internationalen Akteuren, stattfinden – nicht als Orte angesehen werden, an denen eine derartige Gefährdung herrscht, dass der Beschwerdeführer dort allein wegen seiner Anwesenheit aufgrund der Sicherheitslage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die Städte Mazar-e Sharif und Herat sind auch für den Beschwerdeführer sicher (auf dem Luftweg) erreichbar.
Weder Mazar-e Sharif noch Herat stehen unter der Kontrolle von regierungsfeindlichen Kräften. Er kann Mazar-e Sharif oder Herat-Stadt von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug auf Grund der vorhandenen internationalen Flughäfen erreichen.
Folgend der UNHCR-Richtlinie vom 30.08.2018, wonach angesichts der gegenwärtigen Sicherheitslage, sowie der menschenrechtlichen und humanitären Situation in Kabul, eine interne Schutzalternative in dieser Stadt grundsätzlich nicht verfügbar sei (UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, S 129 in der deutschen Fassung), wurde die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul nicht erwogen."
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Mit Eingabe vom 6. September 2021 beantragte der Beschwerdeführer zudem die Gewährung von Verfahrenshilfe im vollen Umfang.
6. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor und sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II. Erwägungen
A. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet:
1. Das gemäß Art2 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben wird durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn es auf einer Art2 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage oder auf einer diesem Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht sowie auch bei groben Verfahrensfehlern.
In gleicher Weise verletzt ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes das gemäß Art3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wenn eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn sie auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn dem Verwaltungsgericht grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005).
2. Der Verfassungsgerichtshof geht – in Zusammenhang mit Art3 EMRK – in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ 1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ 1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ 2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.314/1992, 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997). Nichts anderes ist im Hinblick auf Art2 EMRK anzunehmen, wenn dem Fremden im Zielland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung droht (s etwa EGMR 8.11.2005, Fall Bader ua, NLMR 2005/6, 273 [274]; 23.3.2016 [GK], Fall F.G., NLMR 2016/2, 105 [105 f.]).
Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Erkenntnisses könnte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer in den gemäß Art2 und 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten unter anderem verletzen, wenn das Erkenntnis auf einer den genannten Grundrechten widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht.
3. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eine Art2 und 3 EMRK zuwiderlaufende Anwendung des §8 Abs1 AsylG 2005 vorgenommen:
3.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder der ProtokolleNr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
3.2. Das Bundesverwaltungsgericht legt seinen Feststellungen zur Lage in Afghanistan unter anderem das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Version 04 (11.06.2021)" (im Folgenden: Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021), die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 sowie einen Auszug einer Internetseite ("Mapping Taliban Contested and Controlled Districts in Afghanistan | FDD's Long War Journal, abgerufen am 30.07.2021 [LWJ]") (in der Folge: LWJ) zugrunde. Spezifisch hinsichtlich der "Sicherheitslage im Jahr 2021" stellt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes fest:
"Mit April bzw Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen 'taktischen Rückzug' angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung.
Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert."
Im Kapitel betreffend die Taliban stellt das Bundesverwaltungsgericht unter "Abzug der Internationalen Truppen" sowie "Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse" auszugsweise Folgendes fest:
"Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen – etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen – bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan.
[…]
Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte.
Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird. Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen, während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg sprachen. Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April.
[…]
Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 1.5.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im 'Jihad' der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt. Für die Taliban ist die Errichtung einer 'islamischen Struktur' eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert.
Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten."
3.3. Ausgehend vom Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021, der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 sowie dem LWJ geht das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass sich in Herat und Mazar-e Sharif keine besondere Gefährdungssituation für den Beschwerdeführer ergebe und ihm mit Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Die Rückkehrsituation des Beschwerdeführers lasse keine Verschlechterung der Sicherheits- sowie Versorgungs- und Wirtschaftslage in Mazar-e Sharif in einem Ausmaß erkennen, dass existentielle Grundbedürfnisse nicht mehr gesichert wären. Die Auswirkungen des Abzuges internationaler Truppen aus Afghanistan seien derzeit nicht verlässlich abschätzbar. Im Hinblick auf die Befürchtung, dass die Taliban nach dem Abzug internationaler Truppen in der Lage sein würden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten, lägen eindeutige bzw nachhaltige Prognosen aktuell nicht vor. Mit April bzw Mai 2021 hätten die Kampfhandlungen zwischen den Taliban und Regierungstruppen zwar stark zugenommen, die afghanische Regierung behalte jedoch die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Der Flughafen in Kabul-Stadt sei mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet. Es lägen auch keine Hinweise vor, dass die Flughäfen Mazar-e Sharif und Herat geschlossen seien, und der Flughafen Mazar-e Sharif werde aktuell angeflogen. Aus den Länderberichten gehe zudem nicht hervor, dass die Städte Mazar-e Sharif und Herat nicht mehr unter der Kontrolle der Regierung stünden.
3.4. Im Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021 wird bereits nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges internationaler Truppen berichtet, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach dem erfolgten Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert habe. In diesem Sinne halten die genannten Länderinformationen ausdrücklich fest, dass auf Grund des US-Truppenabzuges der Beginn "eine[r] neue[n] Phase des Konflikts und des Blutvergießens", der "Zusammenbruch der afghanischen Regierung" und die "Übernahme durch die Taliban" zu befürchten sei, und verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die "Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, […] in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen [hat], den Vormarsch der Taliban aufzuhalten". Die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen hätten seit dem Abzug der internationalen Truppen im April stark zugenommen, die Taliban "den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt" und "seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert". Zudem gebe es einen "Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet" würden.
3.5. In der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 wird zudem darüber berichtet, dass "die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan" kontrollierten. Zudem seien "die Distriktzentren nur mehr in vier Provinzen vollständig in Regierungshand". Weiters seien im Juli "wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh durch die Taliban" erobert worden. Darüber hinaus komme es weiterhin zu "gezielten Angriffen auf Zivilisten".
3.6. Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, dass auf Grundlage der im angefochtenen Erkenntnis abgedruckten (und behandelten) länderberichtlichen Informationen vom 11. Juni 2021, insbesondere aber auf Grund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 (und der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab 20. Juli 2021, dh auch schon zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung, von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK aussetzt (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).
3.7. Indem das Bundesverwaltungsgericht somit von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran knüpfend – die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie das Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, und ist insoweit aufzuheben (vgl VfGH 30.9.2021, E3445/2021).
B. Die Behandlung der Beschwerde wird im Übrigen, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.
Demgemäß ist von einer Behandlung der Beschwerde – soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – abzusehen.
C. Zum Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe (in vollem Umfang):
Zufolge §64 Abs3 ZPO treten, soweit die Verfahrenshilfe bewilligt wird, die Befreiungen nach §64 Abs1 ZPO mit jenem Tag ein, an dem sie beantragt worden sind; ein weiteres Zurückwirken der Befreiungswirkung ist hingegen nicht vorgesehen.
Der Antrag wurde zu einem Zeitpunkt eingebracht, zu dem sämtliche für die Einleitung des vorliegenden Verfahrens notwendigen Verfahrensschritte, die von einem Rechtsanwalt vorgenommen werden müssen (vgl §17 Abs2 VfGG), bereits gesetzt waren und auch die Eingabengebühr gemäß §17a VfGG entrichtet war. Eine Befreiung von der Entrichtung dieser Gebühr (respektive eine Erstattung derselben) kann nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nicht mehr nachträglich, also nach Entstehen der Gebührenschuld, beantragt werden (vgl §17a Z3 VfGG sowie zB VfGH 17.4.2002, B1147/01; 28.2.2012, B825/11). Gleiches gilt für die mit der Einbringung verbundenen Kosten für die (frei gewählte) anwaltliche Vertretung, die ebenfalls vor dem Tag der Beantragung der Bewilligung der Verfahrenshilfe entstanden sind.
Für die Vertretung im weiteren Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof – insbesondere für eine allfällige mündliche Verhandlung – besteht kein absoluter, sondern lediglich relativer Anwaltszwang (vgl §17 Abs2 VfGG).
In Anbetracht des fortgeschrittenen Verfahrensstadiums und des Umstandes, dass auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet werden konnte (vgl unten III.4.), erweist sich die Gewährung von Verfahrenshilfe und insbesondere die Beigebung eines Rechtsanwaltes für das weitere Verfahren weder als erforderlich noch als zweckmäßig.
Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ist daher nicht stattzugeben (vgl VfSlg 18.749/2009, 19.521/2011, 20.082/2016).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben, ferner darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.
2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.
3. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ist keine Folge zu geben.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §72 Abs1 ZPO iVm §35 VfGG bzw §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– und der Ersatz der entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.
6. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Schlagworte
Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung, VfGH / Verfahrenshilfe, VfGH / AnwaltszwangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E3355.2021Zuletzt aktualisiert am
21.02.2022