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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
ABGB §138 Z9Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision 1. der M A A, 2. der N I M, 3. der N I M und 4. des Y I M, alle vertreten durch Dr. Maria-Luise Plank, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Herrengasse 6-8/3/5, diese vertreten durch Dr. Silvia Vinkovits, Rechtsanwältin in 1080 Wien, Fiedrich-Schmidt-Platz 4/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. März 2021, 1. W144 2239364-1/2E, 2. W144 2239365-1/2E, 3. W144 2239366-1/2E und 4. W144 2239637-1/2E, betreffend Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Addis Abeba), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweit- bis Viertrevisionswerber. Die Revisionswerber sind somalische Staatsangehörige und stellten am 10. Oktober 2019 bei der Österreichischen Botschaft Addis Abeba (im Folgenden: Vertretungsbehörde) jeweils Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 AsylG 2005. Als Bezugsperson gaben sie ihren Ehemann bzw. Vater, ebenfalls ein somalischer Staatsangehöriger, an, dem mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 21. Juli 2016 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei.
2 In einer Mitteilung gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005 gab das BFA eine negative Wahrscheinlichkeitsprognose ab und begründete dies mit einem mangelnden Nachweis der Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung gemäß § 60 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 sowie mit der fehlenden Notwendigkeit der Einreise der Revisionswerber zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK. Daraufhin wies die Vertretungsbehörde die Anträge der Revisionswerber mit Bescheid vom 27. Oktober 2020 ab.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
4 Begründend ging das BVwG - soweit hier relevant - davon aus, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 nicht erfüllt seien. Die Einkünfte der Bezugsperson seien nicht ausreichend, um annehmen zu können, dass der Aufenthalt der Revisionswerber zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führe. Zudem verfüge die Bezugsperson über keine ortsübliche Unterkunft.
5 Die Stattgebung der Anträge sei auch nicht im Sinne des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten. Es sei zu berücksichtigen, dass die Bezugsperson im Jahr 2018 seine Familienangehörigen im Zuge eines Urlaubes in Äthiopien und Uganda besucht habe und nicht ersichtlich sei, weshalb die Bezugsperson nicht bei seinen Angehörigen habe verbleiben und im Familienverband weiterleben können. Vor dem Hintergrund dieser Urlaubsaufenthalte erscheine zudem eine Weiterführung des Familienlebens „in einer niedrigen Intensität“ - etwa durch gelegentliche Besuche und über soziale Medien - zumindest vorübergehend, bis sich die Bezugsperson in Österreich so weit etabliert habe, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 erfüllt seien, nicht ausgeschlossen. Die Revisionswerber hätten - abgeleitet aus § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG - zudem nicht darauf vertrauen dürfen, dass sie im Zielstaat eine Fortsetzung ihres Familienlebens erreichen würden, da die Bezugsperson mit unwahren Behauptungen versucht habe, die Gewährung von Asyl zu erschleichen.
6 Die Revision, die sich nicht gegen die Beurteilung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 wendet, bringt zu ihrer Zulässigkeit eine Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter anderem mit der Begründung vor, das BVwG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass das Familienleben der Revisionswerber mit der Bezugsperson an einem anderen Ort fortgesetzt werden könne. Des Weiteren wird das Fehlen von Rechtsprechung im Zusammenhang mit der vom BVwG vorgenommenen Gewichtung des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG im Rahmen der Interessenabwägung geltend gemacht.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem von der Vertretungsbehörde eine Revisionsbeantwortung, mit der die Zurück-, in eventu Abweisung der Revision beantragt wird, erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt der Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 (im Rahmen der nach dem Gesetz vorzunehmenden Gesamtabwägung) insbesondere voraus, dass (erstens) eine aus den Gründen, die zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz an die Bezugsperson geführt haben, bedingte Trennung der Familie vorliegt, (zweitens) der Nachzug das einzige Mittel darstellt, um das Familienleben wiederaufzunehmen, und (drittens) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens nie in Frage stand (vgl. VwGH 2.9.2021, Ra 2020/19/0240, mwN). Nur dann liegt ein besonders gelagerter Fall iSd § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vor, in dem „die Stattgebung des Antrages ... gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten“ ist (vgl. VwGH 31.5.2021, Ra 2020/01/0284, Rn. 31 f., mit Hinweis auf VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0218, Rn. 48, sowie auf die Erläuterungen zur Neufassung des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 , RV 996 BlgNR 25. GP, 5).
10 Das BVwG stellte bei seiner Beurteilung der Zulässigkeit eines Eingriffs nach Art. 8 EMRK das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens der Bezugsperson mit den Revisionswerbern nicht in Frage, ging aber davon aus, dass das gemeinsame Familienleben auch in Äthiopien oder Uganda geführt werden könne. Eine solche Annahme setzt voraus, dass die Fortsetzung des Familienlebens in den genannten Staaten auch tatsächlich möglich ist. Dies hätte wiederum Feststellungen darüber erfordert, inwieweit die rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen, insbesondere das dort geltende Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht, eine nicht nur kurzfristige Niederlassung der Bezugsperson und der Revisionswerber in diesen Staaten zulassen und dies auch zumutbar ist. Dagegen verwies das BVwG im Hinblick auf eine Fortsetzung des gemeinsamen Familienlebens „in Äthiopien bzw. Uganda“ lediglich darauf, dass die Bezugsperson seine Familienangehörigen im Jahr 2018 in diesen Staaten besucht habe. Dass aus dem Umstand eines kurzfristigen Besuches nicht ohne Weiteres auf die Möglichkeit eines weit darüber hinaus reichenden Zeitraumes eines längerfristigen Aufenthaltes geschlossen werden kann, liegt jedoch auf der Hand.
11 Soweit das BVwG überdies - wie im Übrigen auch die Revisionsbeantwortung - die einstweilige Weiterführung des Familienlebens „in einer niedrigen Intensität“ durch gelegentliche Besuche und über soziale Medien ins Treffen führte, ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur notwendigen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG auch im vorliegenden Verfahren zum Tragen kommt. Ein Kind hat grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen (vgl. VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332). In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof auch ausgesprochen, dass die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind kaum möglich ist und dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zukommt (vgl. erneut VwGH Ra 2019/19/0332). Der Verweis auf die Kontaktmöglichkeiten via soziale Medien vermag daher nicht dem Interesse der Kinder an einem stabilen Kontakt zum Vater Rechnung zu tragen.
12 Schließlich kommt der Annahme des BVwG, im Rahmen der Interessenabwägung wiege besonders schwer zu Lasten der Revisionswerber, dass die Bezugsperson versucht habe, Asyl zu erschleichen, und deshalb im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG „redlicherweise“ nicht mit einem gesicherten Aufenthaltsrecht und einem Familiennachzug in den Zielstaat habe rechnen dürfen, schon deshalb kein Begründungswert zu, weil der Bezugsperson mit Bescheid des BFA vom 21. Juli 2016 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Zu Recht weist die Revision in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass der Zeitpunkt der Entstehung des Familienlebens, auf den es nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG bei der Beurteilung, ob einem Fremden das Bewusstsein über den unsicheren Aufenthaltsstatus anzulasten ist, ankommt, gegenständlich vor dem Zeitpunkt des Antrages auf internationalen Schutz der Bezugsperson gelegen ist.
13 Insgesamt bewegte sich das BVwG somit bei der vorgenommenen Interessenabwägung nicht innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Grundsätze.
14 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
15 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 25. Jänner 2022
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190146.L00Im RIS seit
18.02.2022Zuletzt aktualisiert am
24.02.2022