Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AVG §45 Abs2Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision 1. der Y E, 2. des B A K und 3. der H K, die revisionswerbenden Parteien zu 2. und 3. vertreten durch die Mutter Y E als gesetzliche Vertreterin, alle vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. Februar 2021, 1. L519 2222241-2/16E, 2. L519 2222243-2/11E und 3. L519 2222244-2/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers und der minderjährigen Drittrevisionswerberin. Sie alle sind türkische Staatsangehörige. Ihnen wurde von der österreichischen Botschaft in Ankara ein vom 27. August 2018 bis 19. November 2018 gültiges Visum C ausgestellt. Daraufhin reisten sie (spätestens) am 20. September 2018 nach Österreich ein.
2 Am 28. November 2018 stellte die Erstrevisionswerberin für sich sowie für die Zweit- und Drittrevisionswerber Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005, die mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 24. Juni 2019 abgewiesen wurden, wobei unter einem jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen und samt Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise festgestellt wurde, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Abschiebung in die Türkei zulässig sei. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem rechtskräftig gewordenen Erkenntnis vom 2. Jänner 2020 als unbegründet ab.
3 In der Folge stellte die Erstrevisionswerberin am 5. Februar 2020 für sich sowie für die Zweit- und Drittrevisionswerber jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund nannte die Erstrevisionswerberin ihre ständige Bedrohung und Misshandlung durch ihren geschiedenen Ehemann. In der Türkei sei sie mit den beiden Kindern alleine gewesen und habe niemanden gehabt, der sie unterstütze. Ihr früherer Ehemann habe ihr auch mit dem Umbringen gedroht. Bei einer Rückkehr habe sie Angst um ihr Leben. Die Zweit- und Drittrevisionswerber brachten keine eigenen Fluchtgründe vor.
4 Mit Bescheiden vom 23. Juli 2020 wies das BFA die Anträge der Revisionswerber ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 In seiner Begründung ging das BVwG von der Unglaubwürdigkeit der Fluchtgründe sowie ferner davon aus, dass die Erstrevisionswerberin die Türkei mit den Zweit- und Drittrevisionswerbern lediglich aus persönlichen bzw. wirtschaftlichen Gründen verlassen habe. Bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat bestehe keine reale Gefahr einer Verletzung der Rechte der Revisionswerber nach Art. 2 und 3 EMRK. Im Rahmen seiner Interessenabwägung gelangte das BVwG zum Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts der Revisionswerber im Bundesgebiet ihr persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiege und die Rückkehrentscheidung keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Revisionswerber darstelle.
7 Mit Beschluss vom 30. November 2021, E 1398-1400/2021-18, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
8 Daraufhin erhoben die Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision.
9 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
10 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
11 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
12 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision zunächst die Befangenheit der erkennenden Richterin des BVwG vor und begründet dies damit, die Richterin habe die Rückübersetzung des Protokolls in der Verhandlung mit der Begründung abgebrochen, dass die Erstrevisionswerberin den Dolmetscher bei der Rückübersetzung fortlaufend unterbrochen habe. Die Erstrevisionswerberin habe aber lediglich mehrfach die rückübersetzte Protokollierung gerügt, wobei der Dolmetscher die Protokollrügen nicht akzeptiert und stattdessen in Streit gezogen habe. Obwohl die Richterin im Zuge der Verhandlung eingeräumt habe, Türkisch nicht zu verstehen, habe sie die zwischen der Erstrevisionswerberin und dem Dolmetscher in türkischer Sprache geführten Wortwechsel zu Lasten der Erstrevisionswerberin interpretiert. Auch die im Verhandlungsprotokoll festgehaltene Anmerkung der Richterin, die Erstrevisionswerberin habe die Übergriffe ihres früheren Ehemannes „völlig emotionslos“ geschildert, bestätige den Eindruck ihrer Voreingenommenheit. Die im angefochtenen Erkenntnis getroffene Feststellung, wonach der Zweitrevisionswerber „nicht an einer schweren Erkrankung“ leide, obwohl bei ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden sei, bestätige abermals den Eindruck der Befangenheit. Davon abgesehen fehle eine einheitliche Rechtsprechung zur Frage, ob bei einer nicht berücksichtigten Befangenheit die Relevanz dieses Verfahrensfehlers dargelegt werden müsse.
13 Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes begründet der Einwand der Befangenheit der entscheidenden Richter nur dann die Zulässigkeit der Revision, wenn vor dem Hintergrund des konkret vorliegenden Sachverhaltes die Teilnahme eines oder mehrerer Mitglieder des Verwaltungsgerichtes an der Verhandlung und Entscheidung tragende Rechtsgrundsätze des Verfahrensrechtes verletzt hätte bzw. in unvertretbarer Weise erfolgt wäre. Jeder Vorwurf einer Befangenheit hat konkrete Umstände aufzuzeigen, welche die Objektivität des Entscheidungsträgers in Frage stellen oder zumindest den Anschein erwecken können, dass eine parteiische Entscheidung möglich ist. Nur eindeutige Hinweise, dass ein Entscheidungsträger seine vorgefasste Meinung nicht nach Maßgabe der Verfahrensergebnisse zu ändern bereit ist, können seine Unbefangenheit in Zweifel ziehen (vgl. VwGH 27.4.2021, Ra 2021/19/0082, mwN).
14 Dies ist hier nicht der Fall. Der bloße Vorwurf von Verfahrensfehlern stellt - ohne Hinzutreten weiterer begründeter Umstände - keinen Anlass dar, die Befangenheit eines Richters anzunehmen (vgl. erneut VwGH Ra 2021/19/0082, mwN). Davon ausgehend lässt sich eine Voreingenommenheit der Richterin fallbezogen nicht schon daraus ableiten, dass die nach der Verhandlung durchgeführte Rückübersetzung der Niederschrift von der Richterin wegen mehrerer Wortwechsel zwischen der Erstrevisionswerberin und dem Dolmetscher abgebrochen und der noch nicht rückübersetzte Teil im Umfang von drei Protokollseiten dem Vertreter der Revisionswerber durch Aushändigung einer Kopie zur Durchsicht zugänglich gemacht wurde.
15 Auch die im Protokoll festgehaltene Anmerkung der Richterin, wonach die Schilderung der Erstrevisionswerberin von behaupteten Übergriffen durch ihren früheren Ehemann „völlig emotionslos“ erfolgt sei, und die Feststellung im angefochtenen Erkenntnis, dass der Zweitrevisionswerber „nicht an einer schweren Erkrankung“ leide, sind ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht geeignet, den Anschein der Befangenheit zu begründen (vgl. zu Indizien einer möglichen Befangenheit etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0676, Rn. 15, mwN).
16 Weiters wendet sich die Revision zu ihrer Zulässigkeit gegen die Beweiswürdigung und führt unter anderem dazu aus, dass das BVwG die festgestellte Posttraumatische Belastungsstörung des Zweitrevisionswerbers und die sichtbaren Verletzungen der Erstrevisionswerberin bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens nicht berücksichtigt habe. Es habe auch keine Ermittlungstätigkeit über die Ursache der psychischen Erkrankung des Zweitrevisionswerbers angestellt.
17 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig; zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Hingegen ist der zur Rechtskontrolle berufene Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen; das heißt sie mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 5.3.2020, Ra 2018/19/0711, mwN).
18 Das BVwG gab der Erstrevisionswerberin im Rahmen einer mündlichen Verhandlung Gelegenheit, sich zu ihren Fluchtgründen zu äußern. Es setzte sich in seiner Beweiswürdigung sowohl mit den Aussagen der Erstrevisionswerberin als auch mit den vorgelegten Screenshots über die behaupteten Drohnachrichten ihres früheren Ehemannes auseinander und begründete ausführlich die angenommene Unglaubwürdigkeit der geltend gemachten Verfolgung im Heimatstaat mit vagen Angaben, Widersprüchen und unplausiblen bzw. nicht nachvollziehbaren Schilderungen der Erstrevisionswerberin sowie ferner damit, dass aus den Screenshots der Adressat der Drohungen nicht hervorgehe. Zudem erachtete das BVwG das Vorbringen als lebensfremd, dass die Erstrevisionswerberin einerseits für den Fall einer Scheidung von ihrem Ehemann mit dem Umbringen bedroht worden sei und andererseits die Scheidung einvernehmlich stattgefunden habe. Als Indiz für die Unglaubwürdigkeit der Fluchtgründe wertete das BVwG auch die zeitliche Abfolge hinsichtlich der Antragstellung und verwies unter anderem darauf, dass die Erstrevisionswerberin die vorliegenden Anträge auf internationalen Schutz trotz zahlreicher Möglichkeiten ab September 2018 erst mehrere Wochen nach Abweisung ihrer zuerst gestellten Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 eingebracht habe, woraus das BVwG ebenfalls ableitete, dass die Revisionswerber primär aus privaten bzw. wirtschaftlichen Interessen die Türkei verlassen hätten.
19 In Anbetracht der umfassenden Beweiswürdigung in ihrer Gesamtheit ist nicht zu erkennen, dass die vorgenommene Beurteilung des BVwG, das sich im Zuge der mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Erstrevisionswerberin verschafft hat, fallbezogen unvertretbar wäre.
20 Zum Vorbringen, das BVwG hätte ein fachärztliches Gutachten zu den Verletzungen an den Händen der Erstrevisionswerberin einholen müssen, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die Frage, ob amtswegige Erhebungen erforderlich sind, keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung darstellt, weil es sich dabei um eine einzelfallbezogene Beurteilung handelt. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. VwGH 20.11.2019, Ra 2019/20/0286, mwN).
21 Derartiges zeigt die Revision schon deshalb nicht auf, weil die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zwar geeignet sein mag, die Verletzungsursache von vorhandenen Narben zu belegen. Jedoch ist ein medizinisches Gutachten in einem Fall wie dem vorliegenden nicht geeignet, Aufklärung über die Frage, im Zuge welcher Ereignisse die Erstrevisionswerberin die Verletzungen erlitten haben mag, und damit über die Nachvollziehbarkeit des Fluchtvorbringens der Revisionswerber zu geben (vgl. erneut Ra 2019/20/0286, mwN).
22 Schließlich wendet sich die Revision zu ihrer Zulässigkeit gegen die vom Gericht vorgenommene Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK und verweist auf die Bestätigung einer allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für allgemeine und klinische Psychologie, demzufolge eine Abschiebung des Zweitrevisionswerbers dessen Retraumatisierung zur Folge hätte und deshalb unzumutbar wäre. Dazu wird vorgebracht, das BVwG habe die Posttraumatische Belastungsstörung des Zweitrevisionswerbers und die Trennung der Zweit- und Drittrevisionswerber von ihren in Österreich aufhältigen Familienangehörigen nicht ausreichend berücksichtigt und sei damit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Berücksichtigung des Kindeswohls bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgewichen.
23 Nach der auch auf Art. 8 EMRK abstellenden (aus der Rechtsprechung des EGMR übernommenen) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hat im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt. Der Verwaltungsgerichtshof hat diesbezüglich auch schon festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse im Sinn des Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich - auch in seinem Gewicht - beurteilbar (vgl. VwGH 15.10.2021, Ra 2021/19/0353, mwN).
24 Das BVwG setzte sich mit dem Gesundheitszustand des Zweitrevisionswerbers auseinander und ging davon aus, dass es sich dabei um keine schwere Erkrankung handle und er nicht in medizinischer Behandlung stehe. Es verwies darauf, dass psychische Erkrankungen in der Türkei überwiegend in öffentlichen Institutionen behandelt würden und psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 zur Verfügung stünden. Die Revision tritt den diesbezüglichen Feststellungen nicht entgegen.
25 Was das in diesem Zusammenhang gerügte Fehlen einer Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK anbelangt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung betont. Dabei sind insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen die Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 10.9.2021, Ra 2021/18/0158, Rn. 18, mwN).
26 Im vorliegenden Fall zog das BVwG bei der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA-VG vorzunehmenden Abwägung durchaus das Kindeswohl des Zweitrevisionswerbers und der Drittrevisionswerberin in Betracht, legte aber auch dar, warum es aus dem Blickwinkel des Kindeswohls nicht geboten sei, von der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Das BVwG führte die gemeinsame Rückkehr der beiden minderjährigen Revisionswerber mit der Erstrevisionswerberin als ihrer Mutter in die Türkei ins Treffen und hob hervor, dass ihnen nach der Rückkehr sowohl private, karitative als auch bei Bedarf staatliche Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Außerdem ging das BVwG davon aus, dass sich der Zweitrevisionswerber und die Drittrevisionswerberin im anpassungsfähigen Alter befänden, in der Türkei geboren und sozialisiert worden seien und Türkisch auf muttersprachlichem Niveau beherrschen würden. Es hielt ferner - disloziert - fest, dass die Erstrevisionswerberin von ihrem Vater - wie schon jahrelang vor der Ausreise - weiterhin finanziell unterstützt werden könne und über ein Haus ihres Vaters in der Türkei verfüge, in welches die Revisionswerber zurückkehren könnten.
27 Vor diesem Hintergrund und angesichts der weniger als dreijährigen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet sowie des Umstandes, dass die Revisionswerber gemäß der unbestritten gebliebenen Einschätzung des BVwG keine außergewöhnliche Integration vorweisen konnten, zeigt die Revision nicht auf, dass das BVwG bei ihrer Interessenabwägung im Rahmen der Rückkehrentscheidung die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Leitlinien missachtet und eine unvertretbare Beurteilung vorgenommen hätte (vgl. zu den bei der Interessenabwägung zu beachtenden Kriterien etwa VwGH 22.6.2020, Ra 2019/19/0539, mwN).
28 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher ohne weiteres Verfahren gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 25. Jänner 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190128.L00Im RIS seit
17.02.2022Zuletzt aktualisiert am
24.02.2022