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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des R J alias R G, vertreten durch Mag. Ioanna Ovadias, Rechtsanwältin in Wien, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch die CMS Reich-Rohrwig Hainz Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Gauermanngasse 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2021, L510 2203565-1/25E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird insoweit, als damit die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
II. den Beschluss gefasst:
Im Übrigen wird die Revision als gegenstandslos geworden erklärt und das Verfahren eingestellt.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 2. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte er vor, in seinem Herkunftsstaat auf Grund seiner Zugehörigkeit zur jesidischen Religionsgemeinschaft verfolgt zu werden.
2 Mit Bescheid vom 3. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber sowohl eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof als auch eine außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.
5 Mit Erkenntnis vom 27. September 2021, E 1186/2021, hob der Verfassungsgerichtshof das angefochtene Erkenntnis insoweit, als damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigen in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf.
Im Übrigen - somit hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten - lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen das Erkenntnis des BVwG vom 18. Februar 2021 erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Zu I.:
7 Die außerordentliche Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gruppenverfolgung abgewichen und habe nicht berücksichtigt, dass den Empfehlungen internationaler Organisationen, von der Abschiebung bestimmter Personengruppen in ein bestimmtes Gebiet Abstand zu nehmen, Indizwirkung zukomme. Bei Berücksichtigung dieser Empfehlungen hätte das BVwG erkennen müssen, dass dem Revisionswerber auf Grund seiner festgestellten Religionszugehörigkeit als Jeside asylrelevante Verfolgung drohe.
8 Die Revision ist in Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch berechtigt.
9 Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht nur aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0476, mwN).
10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist von den mit Asylverfahren befassten Behörden und Gerichten zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen. Folglich hatte auch das BVwG seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zu Grunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0043, mwN).
11 Auch hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt betont, dass den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Auch den von EASO herausgegebenen Informationen ist bei der Prüfung, ob die Rückführung eines Asylwerbers in sein Heimatland zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen kann sowie ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, Beachtung zu schenken (vgl. VwGH 8.6.2021, Ra 2019/19/0190, mwN).
12 Diesen Anforderungen wurde im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
13 Die Revision rügt zu Recht, dass das BVwG eine Gruppenverfolgung des Revisionswerbers als Angehöriger der Religionsgemeinschaft der Jesiden nur unzureichend geprüft hat. Dem „EASO Country Guidance Iraq“ vom Jänner 2021 (den das BVwG unberücksichtigt gelassen hat) ist zu entnehmen, dass bei der Prüfung, ob Jesiden im Irak Verfolgung drohe, insbesondere auf risikobehaftete Umstände Bedacht zu nehmen sei, beispielsweise ob der „Islamische Staat“ (IS) im Herkunftsort des betroffenen Asylwerbers noch aktiv sei.
14 Mit der Frage, ob der IS in Ninawa, der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers, noch aktiv ist, hat sich das BVwG jedoch nur ungenügend auseinandergesetzt. Es legte seinem Erkenntnis Auszüge eines Berichtes der Schweizer Eidgenossenschaft zum Thema „Lage der jesidischen Bevölkerung in Ninawa“ vom 16. Jänner 2020 zu Grunde, gab dabei jedoch die wesentlichen Passagen zur Organisation des IS in der Provinz nur unvollständig wieder. Insbesondere jener Absatz, in dem auf ein von Experten befürchtetes Wiedererstarken des IS hingewiesen wird, findet sich im angefochtenen Erkenntnis nicht.
15 Da nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung des BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensfehler anders hätte ausfallen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von Asyl gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Zu II.:
17 Gemäß § 33 Abs. 1 erster Satz VwGG ist, wenn in irgendeiner Lage des Verfahrens offenbar wird, dass der Revisionswerber klaglos gestellt wurde, nach seiner Anhörung die Revision mit Beschluss als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen.
18 Ein solcher Fall der formellen Klaglosstellung liegt unter anderem dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung - wie hier - durch den Verfassungsgerichtshof aus dem Rechtsbestand beseitigt wurde (vgl. etwa VwGH 3.9.2020, Ra 2019/19/0219, mwN).
19 Im vorliegenden Fall war die Revision daher - nachdem dem Revisionswerber Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde - im Übrigen (insoweit sie sich also gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtete) gemäß § 33 Abs. 1 erster Satz VwGG als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen.
20 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und 3 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 25. Jänner 2022
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190109.L00Im RIS seit
17.02.2022Zuletzt aktualisiert am
24.02.2022