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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §4aBetreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter, die Hofrätin Dr.in Sembacher und den Hofrat Mag. Tolar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der M M, vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Baumannstraße 9/12A, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Jänner 2021, W235 2237726-1/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine afghanische Staatsangehörige, stellte am 31. August 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2 Mit Bescheid vom 26. November 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag gemäß § 4a Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte fest, dass sich die Revisionswerberin nach Griechenland zurückbegeben müsse, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 und ordnete die Außerlandesbringung der Revisionswerberin an; eine Abschiebung nach Griechenland sei zulässig.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin habe Afghanistan im September 2019 verlassen und sei über den Iran und die Türkei nach Griechenland gelangt, wo sie etwa zehn Monate aufhältig gewesen sei. In Griechenland habe sie am 25. November 2019 einen Asylantrag gestellt und ihr sei am 3. Juni 2020 der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden. Aufgrund dieses Sachverhalts habe das BFA zu Recht eine Zurückweisung des in Österreich gestellten Antrags auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG 2005 vorgenommen und die Außerlandesbringung angeordnet. Es könne insbesondere nicht festgestellt werden, dass die Revisionswerberin im Fall einer Überstellung nach Griechenland Gefahr liefe, einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden. Auch eine aktuelle Behandlungsbedürftigkeit der Revisionswerberin in physischer oder psychischer Hinsicht werde nicht festgestellt. Die Revisionswerberin habe vorgebracht, dass die Lage in Griechenland sehr schlecht gewesen sei. Dem sei entgegenzuhalten, dass sie von den griechischen Behörden untergebracht und „wohl auch“ versorgt worden sei. Ferner habe sie offenbar auch nach Zuerkennung des Status der Asylberechtigten im Flüchtlingsheim bleiben dürfen. Aus welchem Grund die Revisionswerberin davon ausgehe, dass in Griechenland weder Unterkunft, Nahrungsmittel noch medizinische Versorgung gesichert wäre, sei nicht nachvollziehbar. Mit ihren Ausführungen versuche die Revisionswerberin ein weitaus schlechteres Bild von der Lage in Griechenland zu zeichnen als es von ihr erlebt worden sei. Der Befürchtung der Revisionswerberin, ihr (gewalttätiger) Ehemann, vor dem sie geflohen sei, könne sie in Griechenland finden, sei zu erwidern, dass derartiges während ihres Aufenthalts in Griechenland nicht geschehen sei. Außerdem habe sie die Möglichkeit, sich an die griechische Polizei um Schutz und Hilfe zu wenden. Dasselbe gelte für ihre Befürchtung, Opfer einer Vergewaltigung zu werden. Zusammengefasst sei nicht ersichtlich, dass eine Rückkehr der Revisionswerberin nach Griechenland zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen würde. Griechenland gewähre grundsätzlich ausreichenden Schutz für Flüchtlinge. Anerkannte Flüchtlinge hätten dieselben sozialen Rechte wie griechische Staatsbürger. Sie erhielten eine Arbeitserlaubnis, hätten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu unentgeltlicher medizinischer Behandlung. Zwar sei der gleichberechtigte Zugang zu sozialen Rechten wie für griechische Staatsangehörige in der Praxis durch verschiedene Faktoren erschwert, doch ergebe sich aus den - näher dargestellten - Länderberichten, dass Schutzberechtigte in Bezug auf die Beantragung von Sozialleistungen auch auf Hilfsangebote von NGOs zurückgreifen könnten. Dass in Griechenland möglicherweise weniger Integrationsangebote bestünden als in anderen europäischen Ländern, verletzte die Revisionswerberin nicht in ihren Grundrechten.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe sich nicht in der erforderlichen Art und Weise mit der Gefährdung der durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geschützten Rechte der Revisionswerberin bei Rückkehr nach Griechenland auseinandergesetzt. Der Revisionswerberin drohe bei Rückkehr - aus näher dargestellten Gründen - Obdachlosigkeit, Verarmung und Verelendung (Hinweis auf einschlägige Länderberichte und Rechtsprechung aus Deutschland).
6 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Gemäß § 4a AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn dem Fremden in einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde und er dort Schutz vor Verfolgung gefunden hat. Mit der Zurückweisung ist auch festzustellen, in welchen Staat sich der Fremde zurück zu begeben hat.
10 Unstrittig ist, dass der Revisionswerberin vor ihrem Antrag auf internationalen Schutz in Österreich bereits am 3. Juni 2020 in Griechenland, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, der Status der Asylberechtigten erteilt worden ist. Ausgehend davon wären die Voraussetzungen für die Zurückweisung ihres neuerlichen Antrags auf internationalen Schutz vom 31. August 2020 gemäß § 4a AsylG 2005 grundsätzlich gegeben.
11 Die Revisionswerberin macht allerdings geltend, dass im Falle der Rückkehr nach Griechenland ihre durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geschützten Rechte verletzt würden.
12 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. 2013 L 180, 60, hat eine Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz, weil bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, zu unterbleiben, wenn die Lebensverhältnisse, die die antragstellende Partei in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würde, sie der ernsthaften Gefahr aussetzten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren (EuGH 13.11.2019, Rs C-540/17 u.a., Hamed u.a, Rz 43; ferner bereits EuGH 19.3.2019, Rs C-297/17 u.a., Ibrahim u.a., Rz 101).
13 Das mit der Rechtssache befasste Gericht - wie zuvor auch die befasste Behörde - trifft demnach die Verpflichtung, „auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen“, die einer Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz entgegenstehen (EuGH 19.3.2019, Rs C-163/17, Jawo, Rz 90, und EuGH, Ibrahim u.a, Rz 88).
14 Diese „Schwachstellen“ sind nur dann im Hinblick auf Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK relevant, „wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (EuGH, Jawo, Rz 91, mit Verweis auf EGMR 21.1.2011 [GK], Fall M.S.S./Belgien und Griechenland, Appl 30696/09). Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, „wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, Jawo, Rz 92, und EuGH, Ibrahim u.a, Rz 90).
15 Der Verfassungsgerichtshof hat wiederholt Entscheidungen des BVwG nach § 4a AsylG 2005 behoben, weil sich das Verwaltungsgericht mit den prekären Lebensumständen der Geflüchteten (bei denen es sich jeweils um besonders vulnerable Personen, wie etwa alleinerziehende Mütter mit minderjährigen Kindern oder schwangere Frauen gehandelt hatte), bei Rückkehr nach Griechenland nicht ausreichend auseinandergesetzt hatte (vgl. VfGH 28.11.2019, E 1208/2019 u.a., VfGH 21.9.2020, E 930/2020 u.a.; VfGH 22.9.2020, E 670/2020 u.a.).
16 Jüngst hat der Verfassungsgerichtshof bei einem mit dem gegenständlichen Fall vergleichbaren Sachverhalt einer alleinstehenden afghanischen Asylwerberin, der in Griechenland bereits Asyl zuerkannt worden war und die in Österreich neuerlich um internationalen Schutz angesucht hatte, unter Hinweis auf die oben dargestellte Rechtsprechung des EuGH eine Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Erkenntnisses zur Ergänzung der Sachverhaltsermittlungen in Bezug auf eine drohende Gefährdung der durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte der dortigen Beschwerdeführerin angeordnet (VfGH 25.6.2021, E 599/2021-12).
17 Mit Bezug auf die im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Länderfeststellungen zur Lage von anerkannten Flüchtlingen in Griechenland, die sich wortgleich auch im vorliegenden angefochtenen Erkenntnis finden, führte der Verfassungsgerichtshof in der zitierten Entscheidung aus, dass vor dem Hintergrund dieser Berichtslage sich ohne nähere Auseinandersetzung mit der konkreten Situation der Asylwerberin unter Bezugnahme auf die Feststellungen in den Länderberichten nicht nachvollziehen lasse, dass ihr im Falle ihrer Rückkehr keine reale Gefahr einer den Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung drohen werde. Die Argumente des BVwG im dort entschiedenen Fall, die vom BVwG auch in der vorliegenden Entscheidung herangezogen werden, um die reale Gefahr einer Verletzung dieser Grundrechte zu verneinen, überzeugten den Verfassungsgerichtshof nicht. Dass das BVwG seine Entscheidung, dass der Asylwerberin im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland keine gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung drohen werde, vor allem darauf gestützt habe, dass sie als anerkannter Flüchtling in Griechenland weitgehend mit griechischen Staatsangehörigen gleichgestellt sei und pauschal auf Hilfsangebote von NGOs verwiesen werden könne, stehe - so der Verfassungsgerichtshof in der zitierten Entscheidung - in einem deutlichen Spannungsfeld zur Situation von Schutzberechtigten in Griechenland, wie sie in den Länderfeststellungen beschrieben werde und müsse im weiteren Verfahren näher aufgeklärt werden (Rn. 20 bis 22).
18 Auch im vorliegenden Fall kommen diese vom Verfassungsgerichtshof zu Recht aufgezeigten Ermittlungsdefizite zum Tragen. Dass die Revisionswerberin, wie das BVwG in seiner Begründung ausführt, während ihres Aufenthalts in Griechenland „untergebracht und grundsätzlich versorgt“ worden sei bzw. die Möglichkeit gehabt hätte, „sich in Griechenland an die dort zahlreich ansässigen NGOs zu wenden, die im Übrigen auch Sprachkurse für Griechisch und Englisch“ anböten, mag zutreffen, lässt aber allein noch keine Rückschlüsse darauf zu, welche konkrete Situation sie bei Rückkehr nach Griechenland vorfinden würde. Auch der Hinweis darauf, dass staatliche Sozialleistungen zur Wohnungsunterstützung auch für die griechische Bevölkerung nicht bestünden, reicht - wie auch der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich betonte - nicht aus, um die reale Gefahr einer Verletzung der in Rede stehenden Grundrechte der Revisionswerberin zu verneinen.
19 Im Ergebnis zu Recht macht die Revision daher geltend, dass das BVwG seine den verwaltungsbehördlichen Bescheid bestätigende Entscheidung auf der Grundlage von Sachverhaltsfeststellungen getroffen hat, die dieses Ergebnis nicht decken.
20 Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG nach Einholung aktueller Länderberichte zur Lage von (asylberechtigten) Rückkehrerinnen nach Griechenland mit der konkret für die Revisionswerberin sich daraus abzuleitenden Rückkehrsituation auseinanderzusetzen haben.
21 Das angefochtene Erkenntnis war deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
22 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG Abstand genommen werden.
23 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 25. Jänner 2022
Gerichtsentscheidung
EuGH 62017CJ0163 Jawo VORABSchlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180085.L00Im RIS seit
15.02.2022Zuletzt aktualisiert am
15.02.2022